Lee brauchte einen Moment, bis er die Worte realisiert hatte. Sie waren zwar klar und deutlich an seine Ohren gedrungen, aber sein Verstand benötigte einige Sekunden, um den Inhalt zu verarbeiten. Gerade als er begriff, was Isaac da gerade gesagt hatte, durchbrach Cam die Stille. „Ray hat gesagt, dass sie Lees Gedanken nicht lesen kann.“
„Ganz genau.“ Isaac grinste in die Runde, ehe sein Blick sich auf Lee richtete. „Das kann sie nicht.“
Mehr Erklärungen brauchte Lee nicht.
Er fuhr herum und verließ grußlos die Bibliothek. Wenn nun auch noch irgendwelche dämonischen Prophezeiungen dafür sprachen, dass Ray und er füreinander bestimmt waren, dann würde er es ja wohl auch schaffen, sie von dieser Tatsache zu überzeugen.
Es war ihm vollkommen egal, ob sie es nicht glaubte oder anderer Meinung war. Er würde um sie kämpfen und koste es, was es wolle, sie würden zusammenfinden. Lee war geduldig und er hatte die Ewigkeit zur Verfügung, denn Ray war genauso wie er selbst beinah unsterblich. Irgendwann würde sie sich schon in ihn verlieben!
„Schnapp sie dir, Tiger“, hörte er Bastian hinter ihm herrufen und die Zustimmung der anderen Anwesenden vermischte sich mit deren leisem Lachen.
Lee ignorierte das alles. Er wusste, dass seine Freunde hinter ihm standen, aber im Moment zählte nur, was Ray dachte.
In Vampirgeschwindigkeit schoss er aus dem Haus und in den Garten. Isaac hatte gesagt, dass Ray auf der Terrasse saß, weshalb er eilig zur Rückseite des Anwesens sprintete.
Dort sah er sie dann schon von Weitem und bremste ab. In gemächlicherem Tempo ging er auf sie zu, während er darüber nachdachte, was er wohl sagen sollte.
Ray saß auf der weißen Hollywoodschaukel und stieß sich mit den Beinen immer wieder ab, sodass sie langsam vor und zurück schaukelte. Sie sah ihn nicht kommen, denn ihr Blick war stur auf ihre Hände gerichtet, die sie im Schoß gefaltet hatte und auch wenn sie ihn möglicherweise gehört hatte, ließ sie sich das nicht anmerken.
Lee genoss für einen Moment den Anblick ihrer schmalen Gestalt, ließ seinen Blick an den Beinen hinauf über ihren Oberkörper gleiten und als er dann an ihrem Gesicht angelangt war, hob sie wie auf ein stummes Zeichen hin den Kopf. Ihr Blick traf den seinen und Lee musste schlucken. Er hatte zwar gerade noch gedacht, er könnte ewig auf sie warten, aber wenn er sie jetzt so ansah, wusste er, dass er sich nur selbst etwas vorgemacht hatte. Er würde nicht warten können. Er wollte es nicht.
Zögernd betrat er die Terrasse und fühlte sich dabei, als stünde er vor dem Jüngsten Gericht. Zu seiner Erleichterung sah Ray allerdings nicht weniger angespannt aus. Unsicher knetete sie ihre Hände und nagte auf ihrer Unterlippe herum.
Lee räusperte sich. „Darf ich?“, fragte er dann und deutete auf den Platz neben ihr. Sie nickte, sagte aber kein Wort, während er sich zu ihr setzte.
Lee zwang seinen Blick geradeaus auf den entfernten Waldrand, denn er ahnte, dass er sich nur so auf das Gespräch konzentrieren konnte, was er nun führen musste.
„Isaac hat gesagt…“, begann er leise, brach dann aber gleich wieder ab, weil er nicht sicher war, ob das der richtige Start für diese Unterhaltung war.
„Ja“, flüsterte Ray, die seine Andeutung offenbar verstanden hatte. „Ich wusste nicht, dass es etwas zu bedeuten hat.“
Nun musste Lee sie doch ansehen. Ganz kurz warf er ihr einen Blick von der Seite zu und bemerkte, dass auch sie in die Ferne starrte. Geistesabwesend spielte sie dabei am Ärmel ihres Pullovers herum und Lee musste sich zurückhalten, um nicht einfach nach ihrer Hand zu greifen.
Schließlich sah er hinauf in den Himmel. „Darf ich dir eine Frage stellen?“, wollte er dann wissen, denn wenn er es sich recht überlegte, war es gar nicht so kompliziert. Es kam nur darauf an, was sie fühlte. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Ray schluckte ehe sie zögernd sagte: „Natürlich.“
„Als wir in dem Wagen saßen…“, begann er und sofort spürte er, wie sich Rays Herzschlag beschleunigte. Er konnte ihn hören und gleichzeitig fühlte er es in seinen eigenen Venen. Ihre Nervosität vermischte sich mit seiner eigenen, weshalb er sich zwang, rasch weiterzusprechen, bevor er dazu möglicherweise nicht mehr in der Lage sein würde: „War das dein Ernst, als du gesagt hast, dass du keine Gefühle für mich hast?“
Er schloss den Mund und wartete. Nun war es raus und es lag ganz bei ihr. Vor Anspannung hielt Lee den Atem an und ballte die Hände zu Fäusten.
Ray schwieg und das machte ihn beinah verrückt. Er zählte im Geist langsam bis zehn und gerade als er glaubte, dass sie nicht mehr antworten würde, räusperte sie sich.
„Nein“, hauchte sie dann so leise, dass Lee sich nicht sicher war, ob er sie wirklich richtig verstanden hatte. Er sah sie an und ihre Augen schimmerten feucht. „Ich habe gelogen“, gab sie dann leise zu und er spürte, wie sehr sie das bedauerte.
Es dauerte dennoch einen Moment, bis Lee begriff, was sie da gerade gesagt hatte, weshalb er sie nur stumm anstarren konnte.
„Ich weiß, dass das dumm von mir war und ich…“, begann Ray jetzt zu erklären, doch dann unterbrach sie sich selbst. „Wieso grinst du so komisch?“, fragte sie verwundert und legte den Kopf leicht schräg.
Lee blinzelte irritiert, denn ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er grinste. Und eigentlich war es ihm auch vollkommen egal.
Sein Körper vibrierte inzwischen beinah vor Anspannung, doch er musste einfach sicher sein. „Heißt das, dass du doch etwas für mich empfindest?“, hakte er deshalb nach.
„Nein.“ Sie schüttelte entschlossen den Kopf und Lee glaubte, sein Herz bliebe stehen. Doch dann lächelte sie: „Viel mehr als das“, gab sie zu und ihre Wangen röteten sich. „Ich liebe dich.“
Vor Erleichterung schnappte Lee nach Luft und dann hatte er Ray auch schon in Vampirgeschwindigkeit an sich gezogen. Ihr Körper schmiegte sich perfekt an ihn und er legte ihr eine Hand auf die Wange, ehe er sie küsste.
Er hatte es langsam angehen lassen wollen, doch sein Körper war vollkommen anderer Meinung. Und Ray schien das nicht zu stören.
Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und sie küsste ihn genauso intensiv zurück.
„Himmel, du raubst mir den Verstand“, stöhnte Lee, als sie beide irgendwann atemlos nach Luft rangen.
Ray lächelte ihn an. „Gut“, meinte sie dann. „Denn du machst mich verrückt.“
Lee lachte und als sie sich erneut zu küssen begannen, teleportierte er sie beide hinauf in sein Zimmer.
Und er hatte nicht vor, in den nächsten hundert Jahren wieder herauszukommen.