Lee folgte Ray, die hinter ihrem Bruder hergelaufen war. Sie stand am Absatz der Treppe und rief immer wieder seinen Namen. Ihre Verzweiflung war so greifbar, dass es Lee beinah das Herz brach.
Vorsichtig trat er hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen und wandte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war von Schmerz gezeichnet und in ihren violetten Augen schimmerten unvergossene Tränen. Rays Lippen bebten und er verspürte den Drang, sie in seine Arme zu ziehen.
Noch bevor er allerdings Anstalten machen konnte, genau das zu tun, hörten er im unteren Geschoss eine Tür auffliegen. Massive Stiefel polterten herein und dunkle Männerstimmen riefen knappe Worte.
Lee griff nach Rays Hand und zog sie hinter sich, als er die ersten Schritte am Fuß der Treppe vernahm. Nur Sekunden später tauchten einige Jäger vor ihm auf. Mit grimmiger Miene sahen sie zu ihnen auf und Lee war froh, dass er einige Gesichter sofort erkannte.
„Lee“, rief einer von ihnen, Zac, der ihn offenbar auch sofort erkannt hatte.
Lee nickte grüßend. „Hier oben ist er nicht mehr“, brummte er und war froh, dass sein Gegenüber keine weiteren Fragen mehr stellte.
„Bastian, er ist nicht mehr hier oben“, rief er hinunter und kurz darauf erschien der angesprochene am Treppenabsatz.
„Lee“, sagte auch er, als er seinen Freund erblickte. „Was macht ihr hier?“
Lee schüttelte den Kopf. Im Moment war nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu erklären und glücklicherweise schien Bastian das zu verstehen. „Seht euch auf dem Gelände um“, befahl er seinen Männern, ehe er Lee noch einen argwöhnischen Blick schenkte und dann ebenfalls wieder nach draußen eilte.
„Sie werden ihn nicht finden“, sagte Ray und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Mit gerunzelter Stirn sah Lee sich nach ihr um. Sie schwankte leicht und schien auf einmal furchtbar blass zu sein.
„Wir sollten von hier verschwinden“, meinte er und wartete nicht erst auf ihre Zustimmung. Kurzentschlossen zog er Ray in seine Arme und teleportierte sich mit ihr zurück in sein Apartment.
Dort löste Ray sich wortlos aus seinem Griff und noch während er seine Zahlenkombination in die Alarmanlage eintippte, ging sie hinüber ins Schlafzimmer. Ihre Schultern waren herunter gesunken und sie wirkte vollkommen abwesend.
Langsam folgte Lee ihr und fand sie zusammengesunken auf der Bettkante sitzend vor. Die Worte ihres Bruders hatten ihr offenbar ziemlich zugesetzt.
„Ray“, begann er, ging zu ihr herüber und kniete sich vor sie.
„Ich habe meinen Bruder verraten“, flüsterte sie voller Schmerz.
„Nein“, widersprach er. „Du hast ihn nicht verraten. Du wolltest ihn warnen.“ Und Lee war sich sicher, dass Isaac heute tatsächlich nur knapp dem Tod entgangen war.
„Das meine ich nicht“, murmelte sie und ballte die Hände zu Fäusten.
Irritiert runzelte Lee die Stirn. Was dann?
„Isaac hatte Recht.“ Sie sah ihm fest in die Augen. „Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich bin eine Dämonin und du ein Vampir. Das mit uns…“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss gehen!“
Sie sprang so plötzlich auf, dass Lee sie zunächst gewähren ließ. Erst als sie begann, ihre Tasche zu packen, konnte er sein Hirn zu einer Reaktion bewegen. „Moment mal!“ Er stand auf und fasste nach ihren Armen, um sie zu sich herumzudrehen.
„Was willst du damit sagen?“
„Das alles hier, das war ein riesengroßer Fehler. Ich weiß nicht einmal, wieso ich mich darauf eingelassen habe!“
Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Wie konnte sie nur so etwas sagen?
Fassungslos schüttelte er den Kopf.
„Aber wir… ich dachte…“ Er brachte keinen vollständigen Satz zu Stande, doch Ray entzog sich bereits wieder seinem Griff.
Sie schnappte sich ihre Tasche und warf sie sich über die Schulter.
„Es war nett von dir, dass du mich vor den Jägern schützen wolltest“, sagte sie. „Aber wir sollten nicht vergessen, was wir sind. Leb wohl!“
Damit verschwand sie aus dem Zimmer und gleich darauf fiel auch die Tür des Apartments ins Schloss.
Lee zuckte zusammen.
War das gerade wirklich passiert?