Lee betrat das Zimmer wieder, nachdem der Arzt und die Schwester gegangen waren. Er setzte sich zurück auf den Stuhl an Rays Seite und sah sie offen an. „Die Wunde heilt?“, fragte er und sie nickte.
„Der Arzt war ganz zufrieden“, bestätigte sie. Allerdings verstand sie nicht, wieso sie überhaupt so eine große Wunde gehabt hatte und warum diese erst jetzt zu heilen begann. „Warum heilt sie so langsam?“, fragte sie Lee deshalb geradeheraus.
Lee fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. „Du erinnerst dich an nichts, was geschehen ist, nachdem du den Schlag auf den Hinterkopf bekommen hast?“
Ray schüttelte den Kopf. „Da waren diese Dämonen. Bei einem von ihnen hab ich mich unbeliebt gemacht, als ich ihm in den Schritt getreten habe, aber dann kam der Schlag von hinten.“
Lee lachte leise auf, dann wurde er aber sofort wieder ernst. Seine Finger griffen nach ihren und Ray genoss das vertraute Gefühl.
„Bei mir war es ähnlich. Sie haben mich irgendwie ausgeknockt und als ich wieder zu mir kam, war ich in einen Zirkel gesperrt“, erklärte Lee.
„Du warst auch in dem Haus?“ Rays Augenbrauen schossen überrascht nach oben. Und er war auch überwältigt worden?
Lee nickte und ein Mundwinkel zuckte leicht nach oben. „Natürlich. Ich habe nach dir gesucht.“
„Du hast…“, stammelte Ray. „Aber wieso?“ Sie hatte auf keinen seiner Anrufe reagiert und aus ihrer Ablehnung keinen Hehl gemacht und doch hatte er nach ihr gesucht?
„Ich war schon immer ziemlich hartnäckig, wenn ich etwas haben wollte“, gestand Lee grinsend. „Und als du nicht an dein Telefon gegangen bist und auch auf keine meiner Nachrichten reagiert hast, bin ich zu dir nach Hause gegangen. Und auch dort warst du nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und als ich die Notiz mit dieser Adresse fand, da wollte ich sehen, ob ich dich vielleicht dort finden würde.“
Ray nickte langsam, während sie seinen Ausführungen lauschte.
„Jedenfalls wachte ich später also in diesem Zirkel auf und da warst auch du. Ebenfalls in einem Zirkel.“
„Daran erinnere ich mich nicht“, stellte sie fest.
„Nein“, bestätigte Lee. „Du warst bewusstlos und schwer verletzt. Und du heiltest nicht.“
„Wegen des Zirkels“, mutmaßte sie. Ein solcher würde ihre Fähigkeiten schließlich weitestgehend unterdrücken.
„Richtig.“ Lee nickte. „Aber auch als Bastian kam und uns befreit hatte, begannen deine Wunden nicht zu heilen. Und du hattest sehr viel Blut verloren.“
Ray runzelte die Stirn. Die Tatsache, dass sie auch nach dem Lösen des Zirkels noch nicht zu heilen begonnen hatte, verwunderte sie sehr.
„Isaac hat mir von gesegneten Waffen erzählt. Er vermutet…“
„Moment!“, unterbrach Ray Lees Erklärungen. „Isaac war da?“
„Ja.“ Lee nickte. „Er war ebenfalls in einem Zirkel gefangen. Er wurde von den Dämonen ebenso festgehalten wie wir.“
„Wieso?“ Schließlich hatte Isaac sie doch zu diesem Treffpunkt gerufen
„Offenbar haben diese Dämonen ein Problem damit, dass dein Bruder die Geschäfte deiner Eltern anders weiterführen wollte. Sie hielten ihn für einen Verräter und wollten ihn aus dem Weg schaffen. Genau wie dich.“
Ray zuckte zusammen, als sie hörte, was Lee sagte, doch sie schwieg, während sie ihm weiter zuhörte.
„Jedenfalls wollten sie, dass dein Bruder dich zu diesem Haus lockt. Als er sich jedoch dagegen wehrte, haben sie einen Zauber angewandt, der einem von ihnen Isaacs Stimme verlieh und dann haben sie dich wohl angerufen.“
Ray nickte. „Ja, ich glaubte, dass Isaac sich mit mir treffen will.“ Aber offenbar war es irgendein anderer Dämon gewesen, mit dem sie gesprochen hatte.
„Das war ihr Plan“, fuhr Lee fort.
„Aber ihr habt ihnen dazwischengefunkt“, überlegte Ray. Sicher hatten die Dämonen nicht mit dem Auftauchen von Lee und Bastian gerechnet.
„So sieht es aus.“ Lee drückte ihre Hand. „Jedenfalls glaubte Isaac, dass du von einer gesegneten Waffe verletzt wurdest.“
Ray schnappte jetzt erschrocken nach Luft. Eine Verletzung mit einer solchen Waffe würde bedeuten, dass sie ihre Fähigkeit zur Heilung für immer verloren hätte. „Aber dann…“, setzte sie an, doch Lee unterbrach sie. „Richtig. Dann würdest du nicht mehr heilen.“
Mit den zitternden Fingern ihrer freien Hand schob Ray die Decke ein Stückchen nach unten und tastete nach ihrem Bauch. Die Ärzte hatten doch aber gesagt, dass die Verletzung verheilte. Isaac musste sich also geirrt haben.
„Isaac lag falsch?“, fragte sie deshalb und räusperte sich, als sie bemerkte, wie zittrig ihre Stimme klang.
„Leider nein“, murmelte Lee und sah sie ernst an.
„Aber“, wollte Ray widersprechen, doch Lee sprach bereits weiter. „Ray, du hättest den Weg bis ins Krankenhaus nicht überlebt. Du hattest so viel Blut verloren und dein Herz schlug nur noch so langsam. Dein Körper gab auf und die Ärztin meinte, dass es zu spät sei.“
Ray verstand zwar, was er sagte, aber der Sinn hinter seinen Worten erschloss sich ihr nicht. Er sprach davon, dass sie im Sterben gelegen hatte. Aber sie saß doch jetzt hier und sprach mit ihm. Und es ging ihr gut. Sie war also ganz offensichtlich nicht gestorben.
Und doch schaute Lee so ernst drein, als sei genau das passiert.
„was willst du mir damit sagen?“, hakte sie deshalb nach.
„Ray, ich musste etwas tun“, sagte er. „Ich konnte dich nicht einfach sterben lassen. Ich hatte keine Wahl. Bitte, versteh das!“ Das Flehen in seinen braunen Augen war so intensiv, dass es Ray mitten ins Herz traf. Sie nickte mechanisch, weil sie nachvollziehen konnte, wie er sich gefühlt hatte. Gleichzeit war sie aber nicht sicher, wie sie auf seine intensiven Gefühle ihr gegenüber reagieren sollte. Das war allerdings alles nicht so wichtig, denn in diesem Augenblick war eine andere Frage die entscheidende. Und diese stellte sie jetzt: „Was hast du getan?“