Was zur Hölle hatte Ray gerade getan?
Lee starrte ihr mit offenem Mund hinter her, während die beiden Dämonen, die zuvor noch auf sie hatten losgehen wollen, davonrannten, als sei der Teufel höchst persönlich hinter ihnen her.
Noch nie hatte Lee etwas Vergleichbares gesehen und offenbar schien es selbst die Dämonen zu verängstigen.
Ray hatte auf einmal ausgesehen, wie ein Todesengel. Um sie herum waren Schatten getobt, ihr Gesicht war von ihnen verdunkelt geworden, während ihre Augen von einem silbrigen Schimmer überzogen gewesen waren. Mit einer einzigen Geste ihrer Hand hatte sie den Wachmann außer Gefecht gesetzt und keine Minute später sah sie wieder ganz normal aus.
Gerade erreichte sie jetzt die Eingangstür und Lee schüttelte fassungslos den Kopf. In Vampirgeschwindigkeit raste er hinter ihr her und trat direkt nach ihr ins Innere des Hauses.
„Wenn wir hier wieder raus sind“, raunte er ihr zu. „Dann bist du mir eine Erklärung schuldig.“
Sie warf ihm über die Schulter einen kurzen Blick zu, dann nickte sie.
Lee schob das eben Erlebte zur Seite und richtete nun seine volle Konzentration auf die Gegenwart.
Das Haus lag in absoluter Stille und nur ein schwacher Lichtschein drang aus dem oberen Stockwerk zu ihnen herunter.
„Das Büro meiner Eltern liegt im ersten Stock“, erklärte Ray und sie stiegen gemeinsam die schmale Treppe hinauf.
Lee bemerkte im Vorbeigehen die prunkvolle Einrichtung. Die Familie Delour liebte es offenbar, ihren Reichtum nach außen zu tragen. Überall hingen gigantische Bilder oder standen Statuen, die vermutlich so viel kosteten, wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in einem ganzen Jahr verdiente.
„Hier ist es.“ Ray blieb vor einer Flügeltür stehen und hob die Hand um anzuklopfen. Gespannt hielt sie den Atem an und Lee tat es ihr gleich. Was sie hier wohl erwarten würde?
„Ja?“, ertönte eine tiefe Stimme und Ray griff nach dem Knauf. Sie öffnete die rechte Seite und trat dann über die Schwelle.
„Hallo“, sagte sie dann und blieb stehen.
Lee trat hinter sie und schaute an ihr vorbei in den Raum. Ein Raum, der die Bezeichnung Palast verdient hätte.
Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiges Zimmer, das über einen großen vergoldeten Schreibtisch verfügte. Die aufwendig verzierten Regale waren mit allerlei Kram verziert und zu ihrer Rechten führte ein breiter Durchgang in einen ebenso großen Raum, der von einem Tisch mit zwölf Stühlen dominiert wurde.
Hinter dem Schreibtisch saß ein junger Mann, den Lee sofort als Rays Bruder erkannte. Er hatte dieselben Augen, auch wenn sie eine Nuance dunkler zu sein schienen und auch die gleiche rotblonde Haarfarbe. Seine Gesichtszüge ähnelten Rays, auch wenn sie kantiger wirkten und sein Kinn von einem Drei-Tage-Bart geziert wurde.
Jetzt sah der Mann gerade von einigen Akten auf, in denen er offenbar gelesen hatte. Seine Miene spiegelte ehrliche Überraschung wieder, als er die Dokumente auf die Tischplatte sinken ließ. „Rose!“, entfuhr es ihm und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er erhob sich von seinem Stuhl, aber dann schien er Lee zu entdecken. Seine Augen fixierten ihn und seine Haltung wurde sofort angespannter.
Lee erwiderte den grimmigen Blick, während er nach Rays Fingern tastete. Als er diese jedoch berührte, zog sie ihre Hand zurück und eilte in den Raum.
„Isaac“, rief sie und ging um den massiven Schreibtisch herum. Ihr Bruder zog sie in eine feste Umarmung, doch dabei ließ er Lee keine Sekunde aus den Augen.
„Geht es dir gut?“, fragte er an seine Schwester gerichtet.
„Ja“, antwortete sie und löste sich dann aus seinen Armen. Prüfend sah sie in sein Gesicht. „Aber du hast nicht auf mich gehört.“
Jetzt schaute auch Isaac zu ihr. „Was meinst du damit?“
Rays Miene war ernst. „Ich habe dir gesagt, dass du verschwinden musst!“
Isaac schielte erneut hinüber zu Lee und er zischte. „Wer ist das?“
„Oh“, entfuhr es Ray, als sie seinem Blick folgte. „Das ist Lee“, meinte sie dann gedehnt.
„Und weiter?“ Für ihren Bruder schien diese Antwort nicht zufriedenstellend zu sein.
„Er hat mich bei der Beerdigung gerettet“, erklärte Ray leise und biss sich nervös auf die Unterlippe.
Isaacs Augen weiteten sich. „Er hat…“ Fassungslos schüttelte er den Kopf, räusperte sich dann und kam um den Tisch herum auf Lee zu. „Danke“, sagte er und streckte ihm seine Hand entgegen.
Nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, erwiderte Lee den Händedruck. „Keine Ursache“, murmelte er wenig einfallsreich und sah dann hinüber zu Ray. Sie zuckte mit den Achseln und kam dann auch zu ihnen herüber.
„Weshalb wir eigentlich hier sind“, setzte sie an und Isaac wandte sich sofort wieder ihr zu.
„Was auch immer du hier tust“, sie machte eine Geste, die den gesamten Raum einschloss. „Hör auf damit.“
Ihr Bruder runzelte die Stirn. „Fängst du schon wieder damit an?“, fragte er, trat ein Stück zurück und ließ sich auf die Schreibtischkante sinken.
„Isaac, bitte!“ Ray wirkte sichtlich verzweifelt. „Das, was unsere Eltern getan haben, war nicht richtig. Ihr Tod könnte eine Chance sein, dass all das jetzt ein Ende hat.“
„Du weißt, dass das völliger Unsinn ist“, widersprach Isaac entschieden. „Die Geschäfte werden weitergehen und wenn ich sie nicht übernehme, dann wird es ein anderer tun.“