Ray folgte Lee die Treppe hinunter und schon ehe sie den Flur erreicht hatten, hörte sie Stimmen in der Bibliothek, die sie bisher nicht kannte.
„Ah, da kommen sie“, sagte Bastian genau in dem Moment, als Ray die letzte Stufe hinuntergestiegen war.
Gleich darauf trat er in den Flur und musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den Ray nicht Recht deuten konnte. „Fertig?“, fragte er und es klang so zweideutig, dass Ray errötete.
„Wir sind soweit“, antwortete Lee allerdings mit ernster Miene und Bastian nickte. „Los, Jungs“, rief er hinter sich und gleich darauf traten sechs großgewachsene Männer in den Flur. Ray erkannte einen von ihnen sofort und auch Lee schien den Jäger zu bemerken.
„Mitch“, zischte er und kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Lee“, antwortete Mitch und hob abwehrend die Hände. „Hör mal, das ist doch Schnee von gestern. Ich meine, ich wusste nicht, dass sie deine Gefährtin ist.“
„Dann merke es dir besser für die Zukunft“, knurrte Lee und Ray sah seine Fangzähne aufblitzen. Beruhigend legte sie eine Hand auf seinen Arm. „Es ist doch nichts passiert“, legte sie ein gutes Wort für den Jäger ein, der inzwischen einen Schritt zurückgetreten war. Der arme Kerl tat ihr fast ein wenig leid.
„Wo das nun geklärt ist“, mischte Bastian sich in die Unterhaltung ein. „Können wir?“
Lee nickte, warf Mitch aber noch einen letzten warnenden Blick zu, dann griff er nach Rays Hand und sie folgten den Jägern gemeinsam, die den Flur hinter der Bibliothek entlanggingen. Durch eine Tür traten sie in eine riesige Garage, in der mehrere schwarze SUV mit getönten Scheiben standen.
„Ihr fahrt mit mir“, erklärte Bastian und deutete auf das Fahrzeug, was ihnen am nächsten stand.
Ray und Lee kletterten auf die Rücksitzbank, während zwei der Jäger auf der Sitzreihe in der Mitte platznahmen. Einer von ihnen war kahlköpfig und schaute so grimmig drein, dass Ray eine Gänsehaut bekam. Der andere war deutlich kleiner, aber ebenso muskulös. Er trug das blonde Haar kurzgeschnitten, klatschte nun aber in die Hände. „Auf geht’s!“, rief er, als würden sie zu einem Schulausflug aufbrechen.
Niemand antwortete ihm und als Bastian den Motor gestartet hatte, herrschte angespanntes Schweigen im Wagen.
„Wir fahren in das Parkhaus“, erklärte Bastian schließlich, als sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. „Dann zeigst du uns den Eingang zum Hauptquartier.“ Er warf Ray im Rückspiegel einen Blick zu und sie nickte.
„Und dann schaust du, ob die Isaac spürst.“
Wieder nickte sie. Das sollte kein Problem darstellen.
Ray knetete angespannt ihre Hände in ihrem Schoß.
„Gut“, meinte Lee. „Dann muss sie ja gar nicht mit reinkommen.“
„Vermutlich nicht“, bestätigte Bastian vom Fahrersitz aus.
„Du erwartest doch nicht von mir, dass ich im Wagen warte?“ Ray sah Lee an als sei er geisteskrank. Das konnte doch nicht sein ernst sein!
„Nein“, bestätigte Lee in diesem Moment. „Ich werde dich persönlich wieder zurück zu Duncan bringen. Und dort wirst du warten.“
Ray schnappte nach Luft. Das war doch wirklich nicht zu fassen!
Noch während sie nach den richtigen Worten suchte, hörte sie den blonden Mann vor sich leise lachen. Sie ignorierte das aber und drehte sich auf ihrem Platz zu Lee herum. „Ich werde auch nicht dort warten!“, fuhr sie ihn an. „Es geht hier um meinen Bruder!“
„Richtig. Aber auch um dich“, widersprach Lee ihr energisch. „Du wirst auf keinen Fall mit dort reinkommen, wenn wir überhaupt nicht wissen, womit wir es zu tun haben.“
„Oh, und wer sollte mich daran hindern mitzukommen? Du etwa?“ Nun war Ray ehrlich stinksauer. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein?
„Natürlich ich! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Auch Lee war nun etwas lauter geworden, aber Ray störte sich nicht daran, dass jeder in diesem Wagen ihnen zuhören konnte.
„Das kannst du vergessen!“ Ray reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
„Werde ich nicht!“
„Ich lasse mich nicht von dir bevormunden!“
„Du wirst auf mich hören!“ Lees Augen funkelten zornig. „Du bist meine Gefährtin!“
„Wir sind blutsverbunden“, korrigierte sie ihn. „Von Gefährten war nie die Rede. Denn soweit ich weiß, gehört da noch etwas anderes dazu, als nur der Austausch von Blut!“ Inzwischen war sie so wütend, dass sich ihre Stimme beinah überschlug. Seit so vielen Jahren lebte sie als unabhängige Frau und nun kam Lee und wollte ihr Vorschriften machen? Das konnte er sich abschreiben!
Lee hatte bei ihren letzten Worten die Stirn in Falten gezogen. „Ja, es gehört mehr dazu“, bestätigte er jetzt und sprach deutlich leiser als zuvor. „Liebe.“
„Ganz genau!“ Ray schüttelte energisch den Kopf und ignorierte seinen Hundeblick, der ihr Herz beinah wieder erweicht hätte. Aber sie würde jetzt nicht nachgeben! „Und ich liebe dich nicht“, zischte sie deshalb, wandte sich dann abrupt ab und starrte mit grimmiger Miene aus dem Fenster.
Das anschließende Schweigen im Inneren des Wagens ignorierte sie.