Ray stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf Lees Reaktion. Seine Wut prickelte förmlich auf ihrer Haut und sie war zunächst so überrascht gewesen, dass er sie durchschaut hatte, dass sie nicht gleich reagiert hatte. Als sie Lee dann aber in die Küche gefolgt war, hatte sie bereits gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Es brodelte in ihm und sie ahnte, womit sein Verhalten zu tun hatte. Auch wenn sie sich nicht genau erklären konnte, weshalb er beinah eifersüchtig reagiert hatte, so hatte sie die Dinge doch klarstellen wollen.
Und das hatte sie nun auch getan.
Lee, dessen Miene zornig verzogen war und der sogar seine Fangzähne gebleckt hatte, blinzelte jetzt. Es schien, als müsste er ihre Worte zunächst verarbeiten, weshalb Ray sie noch einmal wiederholte: „Isaac ist mein Bruder!“
Sie sprach langsam und dann endlich tauchte auch Lee wieder aus seiner Wut auf.
Er wirkte, als habe man ihm ein Glas kalten Wassers ins Gesicht geschüttet. Seine Fangzähne zogen sich zurück und er schüttelte langsam den Kopf. „Dein Bruder?“, wiederholte er schließlich fassungslos.
„Ganz Recht.“ Ray verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann bist du jetzt also wieder in der Lage mir zuzuhören?“, hakte sie aber dennoch nach.
Lees Kopfschütteln verwandelte sich in ein Nicken. „Entschuldige“, murmelte er dann. „Ich war nur… ich weiß auch nicht… Vermutlich war es einfach…“ Er stammelte hilflos herum und Ray zog amüsiert eine Augenbraue nach oben. „Du hast dich aufgeführt wie ein eifersüchtiger Gockel“, kommentierte sie sein Verhalten und wollte an ihm vorbei hinüber zur Couch gehen.
Als sie allerdings auf seiner Höhe war, ergriff Lee ihren Arm. In einer fließenden Bewegung wirbelte er sie zu sich herum, sodass Ray beinah gestolpert wäre. Da er sie allerdings festhielt, fand sie ihr Gleichgewicht rasch wieder und sah dann zu ihm auf.
„Es war albern, wie ich mich verhalten habe“, sagte Lee und seine Stimme war plötzlich zu einem tiefen Knurren geworden, dass ihr direkt zwischen die Beine fuhr. Sie zuckte zusammen und ihr Puls beschleunigte sich.
„Aber vielleicht war ich tatsächlich eifersüchtig“, murmelte er dann und hielt sie mit seinem Blick gefangen.
Der Schauer, den ihr seine Worte über den nackten Rücken trieb, ließ sie erbeben. „Dafür gibt es keinen Grund“, brachte sie krächzend hervor und sie war selbst überrascht, dass ihre Stimme nicht mehr einwandfrei funktionierte.
„Das weiß ich jetzt“, bestätigte Lee und strich ihr mit der freien Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Und ich bin froh darüber.“
Sie schluckte, schaffte es aber irgendwie, sich aus seinem Griff zu lösen und einen Schritt nach hinten zu machen. Lee ließ sie gewähren und Ray leckte sich nervös über die Lippen. Himmel, dieser Mann raubte ihr langsam wirklich den Verstand.
„Gut“, sagte sie wenig einfallsreich und wandte sich dann doch wieder der Couch zu. Ihre Knie waren so weich geworden, dass sie es für eine ausgezeichnete Idee hielt, sich darauf zu setzen.
Als Lee ihr jedoch folgte und an ihrer Seite platznahm, war sie sich ihrer Sache nicht mehr so sicher. Für ihren Geschmack waren sie sich schon wieder viel zu nah und vermutlich hätten ihnen einige Meter – oder gar Meilen – Abstand ganz gut getan. Zumindest hätte es sicher nicht geschadet, um ihr Herzklopfen ein bisschen zu verringern.
Lee, der entweder etwas Ähnliches überlegt oder ihre Gedanken gelesen hatte, rutschte nun ein Stückchen zur Seite und so berührten ihre Beine sich jedenfalls nicht mehr. Es war ein Anfang, auch wenn es ihr nicht unbedingt half, sich zu beruhigen.
Lee räusperte sich. „Dein Bruder ist also am Leben“, sagte er dann und sie nahm das Thema bereitwillig auf.
„Das ist er“, bestätigte sie. „Ich habe mit ihm telefoniert und…“ Sie überlegte, ob sie Lee diese andere Sachen ebenfalls anvertrauen sollte, allerdings fiel ihr im Moment kein plausibler Grund ein, wieso sie es nicht tun sollte. „Und ich kann spüren, dass es ihm gut geht“, fügte sie deshalb hinzu.
„Du kannst ihn spüren?“ Überrascht blickte Lee sie an. „Ich wusste nicht, dass Dämonen das können!“
„Es ist auch nicht so wie bei euch“, erklärte Ray. Sie wusste, dass Vampire, die einen direkten Verwandtschaftsgrad aufwiesen mental miteinander kommunizieren konnten und sie wusste auch, dass blutsverbundene Vampire darüber hinaus die Präsenz und die Gefühle des anderen spüren konnten.
„Isaac und ich sind Zwillinge“, sagte sie. „Ich vermute, dass deshalb ein besonderes Band zwischen uns besteht. Ich kann ihn spüren, aber ich teile nicht seine Gefühle oder kann mental mit ihm sprechen. Es ist schwer zu erklären, aber ich weiß eben einfach, ob es ihm gut geht.“
Langsam nickte Lee, als verstünde er, was sie zu erklären versuchte.
„Und dein Bruder wollte das Familiengeschäft übernehmen?“, fragte er dann.
Ratlos zuckte Ray mit den Schultern. „Er hat sich aus den Angelegenheiten eigentlich immer eher rausgehalten und ich weiß, dass er einige…“ Sie suchte nach einem treffenden Wort. „Methoden“, entschied sie dann. „Er hielt einige Methoden meiner Eltern für fragwürdig“, gab sie sich dann Mühe, die Dinge möglichst sanft zu formulieren.
„Und dennoch wollte er nicht, dass die Geschäfte jetzt, da meine Eltern tot sind, in fremde Hände übergehen.“