Nachdem Lee noch einige Häppchen verspeist hatte, saß er jetzt auf der Couch und tippte nervös mit dem Fuß auf den Boden. Angespannt suchten seine Augen jetzt die Tanzfläche ab, doch er konnte Ray nirgends entdecken. Sie hatte vorhin beinah fluchtartig das Séparée verlassen und Lee fragte sich inzwischen nicht zum ersten Mal, was mit ihr los war und wo zum Teufel sie blieb. Er hatte noch gesehen, wie sie in der Menge verschwunden war, aber nachdem sie nun schon ziemlich lange fort war, machte er sich ernsthaft Gedanken, wo sie steckte. Sie würde doch nicht… Lee schüttelte den Kopf über seine eigenen Überlegungen. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie die Flucht ergriffen hatte. Das wäre doch absoluter Unsinn. Sicher, sie hatte sich hier nicht sonderlich wohlgefühlt, aber trotzdem war sie doch dafür gewesen, sich mit ihm hier zu zeigen.
Lee griff nach seinem Getränk, irgendetwas hochprozentiges, was angenehm in der Kehle brannte, und leerte es in einem Zug. Dann stellte er es krachend zurück auf den Tisch und trat ans Fenster. Noch einmal ließ er seinen Blick ausgiebig über die zahlreichen Gesichter gleiten, aber auch diesmal konnte er Ray nicht finden.
Ungeduldig begann er auf und ab zu gehen. Die Sekunden krochen förmlich dahin und irgendwann hielt er es nicht mehr aus. „Verdammt“, fluchte er und verließ den Raum. Zielstrebig machte er sich auf den Weg in Richtung der Toiletten. Aber auch vor dieser fand er Ray nicht.
Mit grimmiger Miene blieb er vor der Tür stehen, die zur Damentoilette führte und verschränkte die Arme vor der Brust. Angespannt wartete er, doch auch wenn zahlreiche Frauen hineingingen und herauskamen, war Ray nicht dabei.
Da stimmte doch irgendetwas nicht.
Wo steckte sie nur?
Noch eine Weile verharrte er vor den Toiletten, doch als Ray nach wie vor verschwunden blieb, fasste er einen Entschluss und lief hinüber zum Büro seiner Schwester. Er klopfte an und wollte schon die Tür aufreißen, als er sich besann. Nachdem er Ruby einmal in einer äußerst intimen Situation überrascht hatte, wartete er jetzt besser darauf, bis sie selbst öffnete. Tatsächlich dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, ehe Ruby erschien. Sie fuhr sich durch das kurze Haar und wischte mit der anderen den Lippenstift aus den Mundwinkeln. „Ja?“
Lee konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja, es war wohl tatsächlich gut, dass er nicht hereingeplatzt war. Ein Blick über ihre Schulter bestätigte ihm seine Vermutung, denn er entdeckte Taye, der sich gerade das Hemd zuknöpfte. Der Mann seiner Schwester hob grüßend die Hand, als er Lee entdeckte und der erwiderte die Geste, ehe er sich an Ruby wandte. „Ray ist verschwunden“, kam er ohne Umschweif zum Thema.
Seine Schwester zog eine geschwungene Augenbraue nach oben. „Wie bitte?“
„Sie wollte zur Toilette“, erklärte er. „Aber sie ist schon seit einer Ewigkeit weg und ich finde sie nicht.“ Langsam wurde er wirklich panisch. Was war, wenn ihr etwas zugestoßen war?
Ruby schien seine Gefühle zu erraten, denn sie schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln, ehe sie an Taye gewandt sagte: „Ich bin gleich wieder da.“
Dann drehte sie sich erneut zu Lee und griff nach seinem Arm, um ihn mit sich zu ziehen. „Ich werde einmal nachsehen“, erklärte sie. „Weißt du, wir Frauen brauchen manchmal einfach etwas länger.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Mach dir keine Sorgen.“
Lee wollte ihr gern glauben, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine Schwester Recht hatte.
Sein Verdacht bestätigte sich, als sie gleich darauf die Toilettenräume überprüft hatte und wieder zu ihm trat. „Sie ist nicht drin“, sagte sie und runzelte nun auch die Stirn.
„Dann ist sie vielleicht inzwischen wieder im Separee“, überlegte Lee und steuerte bereits wieder darauf zu. Auf dem Weg dorthin hielt er, genau wie die ganze Zeit über, ununterbrochen Ausschau nach Ray. Warum entdeckte er sie nur nicht?
Die wenigen Stufen überwand er beinah im Laufschritt und als er die Tür aufriss und den Raum leer vorfand, stöhnte er auf. Ein Fluch kam über seine Lippen.
„Kann es vielleicht sein…“ Ruby trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf den Rücken. „Also vielleicht ist sie ja gegangen“, gab sie vorsichtig zu bedenken.
„Nein.“ Entschieden schüttelte er den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ray ihn einfach hier sitzen gelassen hatte. Und er wollte es auch nicht.
„Lee“, setzte Ruby erneut an, doch er unterbrach sie. „Das glaube ich nicht.“
„Du kennst sie doch aber gar nicht“, meinte Ruby sanft und ihr mitleidiger Gesichtsausdruck versetzte ihm einen Stich in die Brust.