Lee widerstand dem Drang, an der Tür zu lauschen, durchquerte seinen Wohnbereich und ließ sich auf die Couch fallen. Geräuschvoll stieß er die Luft aus, während er mit sich selbst rang.
Er hatte gar nicht daran gedacht, dass es Ray den Job kosten würde, wenn er von ihr verlangte, bei ihm zu bleiben. Andererseits hätte sie nachdem, was heute passiert war, auf keinen Fall ihrem Alltag nachgehen können. Hätte er sie nicht zu sich geholt, wäre sie jetzt tot, also sollte ihr Job wohl ihre geringste Sorge sein.
Im Prinzip hatte sie auch nicht wirklich traurig gewirkt, die Arbeit an den Nagel hängen zu müssen, was Lee zu der Frage brachte, weshalb sie etwas tat, was ihr offenbar keine Freude bereitete. Ihre Familie war eine der reichsten unter den Dämonen und hatte ihre Finger in beinah jedem illegalen Geschäft der Stadt. Zumindest bis jetzt, denn nun waren ihre Machenschaften hoffentlich ein für alle Mal beendet worden.
Für Ray war es aber eigentlich nicht nötig, dass sie sich ihren Lebensunterhalt mit Kellnern verdiente.
Doch inzwischen hatte Lee bereits festgestellt, dass Ray keine allzu gute Meinung über ihre Familie hatte. Vermutlich wollte sie auf eigenen Beinen stehen.
Seufzend ließ er sich gegen die Rückenlehne sinken.
Er selbst hatte sich seinen Lebensstandard mit eigenen Händen erarbeitet und wusste, dass das nicht immer einfach war. Er war 291 Jahre alt und hatte in dieser Zeit schon einige unangenehme Jobs gemacht. Doch inzwischen leitete er eine Hotelkette für Vampire und unterstützte nebenbei auch immer häufiger die Jäger, wenn sie seine Hilfe benötigten. Da er über ein enormes Wissen über Magie verfügte, welches er nicht zuletzt einer äußerst mächtigen Hexe namens Lina verdankte, war er diesbezüglich immer wieder von den Jägern zu Rate gezogen worden und es machte ihm tatsächlich Spaß auf Dämonenjagd zu gehen. Es war ein netter Ausgleich zu seinem sonst eher eintönigen Berufsalltag.
Lee runzelte die Stirn, als er das Rauschen von Wasser vernahm. Offenbar war Ray im Badezimmer zu Gange.
Er wartete einen Moment, doch das Geräusch blieb. Und das stimmte ihn misstrauisch.
Sicher, Ray hatte darum gebeten, allein zu sein, während sie telefonierte, aber mit seinem vampirischen Gehör wäre er dennoch in der Lage gewesen, ihrem Telefonat zu lauschen, wenn er dies gewollt hätte. Dass sie nun das Wasser laufen ließ, brachte ihn zu der Vermutung, dass auch Ray sich dieser Tatsache bewusst war und sein Mithören zu verhindern versuchte.
Das jedoch weckte seine Neugier erst Recht.
Was hatte sie vor ihm zu verbergen?
Ohne länger darüber nachzudenken, teleportierte er sich in seinen Kleiderschrank. Vorsichtig lauschte er in das angrenzende Schlafzimmer und öffnete die Tür schließlich einen Spaltbreit. Wie er erwartet hatte, war Ray nicht zu sehen, weshalb er rasch zur Badtür huschte und das Ohr gegen diese presste.
Ray ließ sich auf den Rand der Badewanne sinken, nachdem sie das Telefonat mit ihrem nun ehemaligen Arbeitgeber beendet hatte und drehte den Wasserhahn in dieser voll auf. Auch wenn sie räumlichen Abstand zwischen sich und Lee gebracht hatte, so wusste sie doch, dass er sie hier noch immer hören könnte, wenn er wollte. Das vampirische Gehör stand dem eines Dämons in nichts nach und sie selbst hatte ihn gerade noch im Wohnzimmer seufzen hören. Jetzt jedoch war das Rauschen des Wassers das Einzige was sie vernahm und sie war sich sicher, dass es ihm genauso ging.
Dennoch wollte sie seine Geduld nicht auf die Probe stellen und wählte deshalb rasch die Nummer ihres Bruders.
Bereits nach dem zweiten Klingeln war Isaac in der Leitung. „Wo steckst du?“, kam seine Frage ohne, dass er Zeit für eine Begrüßung verwendete.
Sie kniff die Augen zusammen und massierte sich mit der freien Hand die Nasenwurzel. „Das kann ich dir gerade nicht sagen“, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. „Aber es geht mir gut.“
„Rose, diese verfluchten Jäger haben unsere Familie ermordet. Es gibt jetzt nur noch dich und mich! Sag mir, wo du bist!“
„Ich kann nicht“, entgegnete sie und nagte nervös auf ihrer Unterlippe.
„Du kannst nicht“, wiederholte er grimmig. „Ich verstehe, dass du nichts mit der Familie zu tun haben wolltest, Rose. Aber die Zeiten haben sich gerade geändert! Wir müssen jetzt zusammenhalten, denn ich vermute, dass die Jäger auch noch uns ausschalten wollen.“
„Ganz sicher“, bestätigte sie leise, doch Isaac hatte sie natürlich verstanden.
„Waren sie schon bei dir? Bist du ihnen entkommen?“
„Isaac, es geht mir gut! Du musst dir um mich keine Sorgen machen, aber ich kann im Moment nicht zu dir kommen. Verschwinde aus der Stadt!“
„Hörst du dir eigentlich selbst zu?“ Seine Stimme war vor Wut eine Nuance tiefer geworden und Ray wusste, dass sie sich jetzt auf dünnem Eis bewegte. „Du verlangst, dass ich die Stadt verlasse? Einfach so alles hier zurücklasse, was unsere Familie aufgebaut hat? Ich gebe zu, dass ich auch nicht mit allen Mitteln einverstanden bin, die unsere Eltern…“
„Hör auf“, unterbrach sie ihn und schluckte.
„Tut mir leid“, murmelte Isaac am anderen Ende, ehe seine Stimme wieder eindringlicher wurde. „Aber du musst doch verstehen, dass wir jetzt die Möglichkeit haben alles anders zu machen. Aber dafür müssen wir die Familiengeschäfte weiterführen. Ich kann nicht einfach verschwinden!“
Rays Herz zog sich zusammen. Bei der bloßen Vorstellung, irgendwelche Geschäfte weiterzuführen, wurde ihr schlecht und es verletzte sie, dass Isaac es in Erwägung zog. Dennoch hatte sie tief in ihrem Innersten damit gerechnet.
„Es ist deine Entscheidung, was du tust. Aber ich möchte damit nichts zu tun haben.“
„Rose…“
„Nein“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich muss jetzt auflegen. Pass gut auf dich auf!“
„Rose, warte!“, hörte sie Isaac rufen, doch sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, weiter mit ihm zu diskutieren.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie in den Hörer und dann legte sie auf.