Ray zwang sich äußerlich zur absoluten Ruhe. Wenn es stimmte, was Leander Goldrin ihr gerade gesagt hatte, dann war ihre Familie tot. Sie konnte nicht behaupten, dass sie auch nur im Geringsten das Gefühl hatte, sie müsste um diese Leute trauern, die für sie bereits vor Jahren gestorben waren. Doch die Angst um Isaac schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nur hoffen, dass er den Dämonenjägern entkommen war, denn bisher hatte sie noch immer das Gefühl ihn zu spüren. Unverändert war er in ihrem Blut präsent und das musste einfach positiv sein.
Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wieso dieser attraktive Vampir sie hier her gebracht hatte?
„Nun, ich denke, Sie hatten einfach Glück, Miss …“ Leander sah sie mit fragender Miene an.
„Delour. Ray Delour“, nannte sie ihren Namen knapp.
„Ray“, wiederholte er und nickte. „Interessanter Name für eine interessante Frau.“
Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein. „Ich hatte also Glück?“ Sie glaubte ihm kein Wort.
Der Vampir lehnte sich in seinem Sessel zurück und Ray bemerkte, wie sein dunkelgraues Hemd über seiner muskulösen Brust spannte. Rasch zwang sie sich wieder in sein Gesicht zu sehen, doch seine blauen Augen leuchteten wissend und Ray spürte tatsächlich, wie ihre Wangen sich erhitzten. Wütend auf sich selbst ballte sie die Hände zu Fäusten. „Was wollen Sie von mir, Goldrin?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Bitte, nenne Sie mich Lee.“
Seine Selbstgefälligkeit machte sie wahnsinnig. „Du lenkst vom Thema ab“, zischte sie grimmig, doch sein Lächeln wurde nur noch breiter. „Wir sind schon beim Du?“
Es reichte!
Ray sprang auf und funkelte den Vampir wütend an. Sie verkniff sich jede weitere Bemerkung, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte hinüber zur Tür, von der sie hoffte, dass sie sie aus seinem Apartment führen würde.
Genau zwei Meter weit kam sie, dann stand Lee wieder direkt vor ihr. Sein muskulöser Körper stellte sich ihr in den Weg und sie wäre gegen seine Brust gestoßen, hätte er sie nicht in dem Moment an den Oberarmen festgehalten.
Ray zuckte zusammen und wandte sich aus seinem Griff. „Geh zur Seite!“
„Wo willst du hin?“, wollte Lee wissen und schob eine Hand lässig in die Tasche seiner dunklen Jeans.
„Ich werde jetzt gehen“, antwortete Ray entschieden und wollte sich bereits an ihm vorbeischieben, als er einen Schritt zur Seite tat und so erneut den Weg zur Tür blockierte.
„Das geht leider nicht.“ In seinem Gesicht lag ehrliches Bedauern, was Ray dazu brachte, die Stirn zu runzeln. „Wieso nicht?“
Sein Handy begann zu klingeln und er angelte es mit einem leisen Fluch aus seiner Tasche. Nachdem er einen kurzen Blick auf das Display geworfen hatte, kniff er die Lippen grimmig zusammen. Schöne Lippen, wie sie zugeben musste.
„Ich muss da rangehen“, murmelte Lee entschuldigend.
Ray zuckte mit den Schultern. „Kein Problem.“ Sie wollte sowieso gerade gehen.
„Bitte.“ Lee streckte die Hand erneut nach ihr aus, doch sie wich vor ihm zurück. Sofort ließ er seine Hand sinken. „Setzt dich. Lass mich eben rangehen und dann reden wir.“ Er deutete auf die Couch, doch Ray schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht reden. Wieso auch?
„Bitte. Nur zehn Minuten, dann lasse ich dich gehen, wohin du willst.“ Beinah flehend sah er sie an und Ray verdrehte die Augen. „Keine Sekunde länger“, sagte sie und stolzierte zurück in den Wohnbereich.
„Bastian?“, meldete Lee sich, als er das Telefonat annahm.
„Wo zur Hölle steckst du?“, hörte Ray die Stimme eines Mannes am Ende der Leitung.
„Zu Hause“, antwortete Lee knapp.
„Du hast es dir anders überlegt?“
„Nein.“
„Dann ist sie keine von ihnen?“
„Doch.“
„Warum ist sie dann nicht hier?“
„Sie ist bei mir.“
„Du hast einen Zirkel?“
„Nein.“
„Sie ist außer Gefecht gesetzt?“
„Nein.“
„Ist sie tot?“
„Nein, verdammt. Natürlich nicht!“ Lees Ausbruch ließ Ray zusammenzucken. Sie hatte jedes Wort der Unterhaltung verstanden und ihr Körper versteifte sich. Als sie Lee mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, drehte er sich hastig herum und senkte seine Stimme, bevor er weitersprach: „Es geht ihr gut.“
Es folgte ein Moment des Schweigens. Dann schnaubte der Mann, den Lee Bastian genannt hatte. „Du hast sie ja nicht mehr alle, Lee.“
„Ich weiß, was ich tue“, widersprach der und fuhr sich mit der freien Hand durch das kurze, dunkle Haar.
„Das glaube ich nicht. Ich komme zu dir.“
„Nein. Das tust du nicht!“ Jetzt begann Lee nervös auf und ab zu gehen.
„Du denkst mit deinem Schwanz.“
Ray schnappte erschrocken nach Luft und Lee warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Halt die Klappe“, zischte er ins Telefon. „Ich regele das allein, Bastian.“
Ein erneutes Schnauben. „Sie wird dir mächtig in die Eier treten.“
Keine schlechte Idee! Ray begann diesen Bastian sympathisch zu finden.
„Ich bin ein Vampir“, erwiderte Lee, als würde das alles erklären. Bastian jedoch schien das kein bisschen zu beeindrucken. „Und sie ist ein Dämon.“
„Punkt für dich“, murmelte Ray und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Lee fuhr zu ihr herum und musterte sie grimmig. „Ich werde schon mit ihr fertig“, sagte er und sah ihr dabei fest in die Augen.
Ray erwiderte seinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken, als ein langgezogenes Seufzen am anderen Ende der Leitung ertönte. „Du wirst schon sehen, was du davon hast“, brummte Bastian, ehe er sich räusperte. „Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.“
„Werde ich“, gab Lee zurück und beendete das Telefonat.