Ray vergaß alles um sich herum. All ihre Sinne richteten sich auf Lee und die Schatten, die sie die ganze Zeit über in sich gefangen gehalten hatte. Sie konnte sie unter der Oberfläche fühlen. Spürte, wie sie sich wanden und danach gierten, aus ihrem Inneren befreit zu werden.
Lee hatte es geschafft, einen der Dämonen auszuschalten. Doch dieser Zustand würde nicht von Dauer sein. Und der Zweite stand mit einem Dolch hinter ihm, der beinah so lang war wie Rays Unterarm. Der Dämon grinste fies, während Lee auf dem Boden lag und Blut spuckte. Es sah nicht gut um ihn aus und um Rays Herz legte sich eine eisige Faust. Sie musste ihm helfen!
Ray starrte in Lees himmelblaue Augen, aber ihr Körper verweigerte ihr den Dienst. Sie konnte sich nicht rühren, sah ihn einfach nur an, während sie versuchte, das Schloss zu öffnen, das die Schatten noch daran hinderte, sich zu befreien.
Das Geräusch, dass der Dolch machte, als er in Lees Rücken gestoßen wurde, würde sie nie vergessen. Es schmatze und gleichzeitig stöhnte Lee gequält auf. Sein Kopf fiel nach vorn, aber er sah sie noch einmal an und gleichzeitig vernahm Ray, das schmerzerfüllte Brüllen von Bastian, während sie selbst die Trauer in sich explodieren spürte. „Nein!“, schrie sie entsetzt auf und ihre Schockstarre löste sich auf.
In übermenschlicher Geschwindigkeit war sie auf den Beinen und stürzte an Lees Seite. Noch im Laufen stieß sie den überraschten Dämon vor die Brust. Er kam ins Taumeln, fiel aber nicht um.
Wutentbrannt blieb Ray vor ihm stehen.
„Das wirst du bereuen!“, zischte sie und er grinste selbstgefällig. Doch kaum hatten sich seine Mundwinkel angehoben, da weiteten sich seine Augen.
Die Schatten hatten es endlich an die Oberfläche geschafft.
Ray funkelte den Dämon aus zusammengekniffenen Augen an, während sie die Macht der Schatten willkommen hieß. Sie konzentrierte sich auf sein Herz, dessen Schlag sich nun deutlich beschleunigt hatte. Dann hob sie die Finger vor ihre Brust. „Stirb“, sagte sie mit eisiger Stimme und presste die Finger langsam zur Faust zusammen.
Das Herz des Dämons tat es ihr nach und er schrie entsetzt auf, während er die Hände an seine Brust presste und zusammenbrach. „Bitte…“, wimmerte er noch, doch Ray zeigte kein Erbarmen.
Sie löschte das Leben des Dämons aus, hielt sein zerstörtes Herz noch einen Moment lang in seiner Brust und dann zog sie die Hand ruckartig zurück. Zeitgleich riss der Brustkorb des Dämons auf und sein Herz wurde von den Schatten herausgerissen.
Doch Ray kümmerte sich nicht weiter um ihn, sie sank neben Lee auf die Knie und zog den Dolch aus seinem Rücken. Ihre Finger bebten, als sie ihn dann vorsichtig zu sich herumdrehte.
Seine Haut war bleich und überall klebte sein Blut an ihm und drang aus seinen Wunden und seinem Mund. „Lee“, wisperte sie und heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. „Bitte, wach auf“, flehte sie und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. Zittrig streichelte sie über seine kühles Gesicht. „Bitte.“
Sie schluchzte, während ihre Tränen ihr beinah die Sicht raubten.
Sie war so dumm gewesen!
Wieso hatte sie ihn so vor den Kopf gestoßen? Das letzte, was sie nun zu ihm gesagt hatte, war dass sie ihn nicht liebte. Vielleicht hatte sie in dem Moment ja selbst geglaubt, was sie gesagt hatte. Aber nun spürte sie deutlich, dass sie sich damit selbst etwas vorgemacht hatte.
Ihr Herz fühlte sich an, als sei es in tausend Scherben zersprungen und sie bereute, dass sie ihre Chance mit Lee nicht genutzt hatte. An seiner Seite hatte sie sich wohlgefühlt, sicher und geborgen. Und Himmel, sie hatte ihn so vermisst, als sie ihn verlassen hatte, um nach Isaac zu suchen.
Obwohl sie ihn zurückgestoßen hatte, hatte er aber nicht aufgegeben und nach ihr gesucht. Er hatte um sie gekämpft und sie war zu dumm gewesen, um dasselbe für ihn zu tun. Und nun war es zu spät!
Ihr Stolz hatte ihr den Mann genommen, in den sie sich, ohne es selbst zu bemerken, verliebt hatte.
„Ray!“, hörte sie Bastians Stimme, die wie durch einen Tunnel an ihr Ohr klang.
Sie blinzelte gegen das Tränenmeer an, wischte dann mit dem Ärmel über ihr Gesicht und sah zu dem Vampir hinüber.
Auch ihm stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben und sie wusste, dass er weniger von seinen Verletzungen als vielmehr von der Tatsache herrührte, dass er seinen Freund verloren hatte.
„Die Dämonen!“, rief Bastian jetzt und deutete hinüber zur anderen Seite des Raumes.
Ray folgte träge seinem Fingerzeig und erkannte, dass es nicht gut für die Vampire aussah. Beide waren inzwischen verwundet. Der Blonde lag am Boden und hatte große Mühe, einen Dämon davon abzuhalten, ihn zu töten, während auch der andere von zwei Dämonen eingekesselt worden war.
Ray wusste, dass sie den beiden helfen musste, aber ihr fehlte die Kraft, sich darauf zu konzentrieren.
Die Tränen nahmen ihr schon wieder die Sicht und sie schaute wieder auf Lee hinab. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte.