Nachdem auch Duncan sich vorerst verabschiedet hatte, hatte Cam Lee und Ray in eines der Gästezimmer gebracht. Ray ließ sich jetzt auf die Kante des großen Bettes fallen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie tatsächlich unheimlich müde war. „Was glaubst du, wie lange Bastian brauchen wird?“, wandte sie sich an Lee, der an das bodentiefe Fenster getreten war und schweigend hinausstarrte. Jetzt zuckte er mit den Schultern. „Er wird uns Bescheid geben, sobald alles organisiert ist“, meinte er, ohne sie anzusehen.
Ray nickte, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Einen Moment wartete sie darauf, dass er noch etwas sagen würde, aber er tat es nicht. Reglos stand er da und blickte hinaus in die Nacht, die nur vom schwachen Schein des Halbmondes erhellt wurde. Unsicher kaute Ray auf ihrer Unterlippe herum. Sie wusste, dass ihm ihrer Entscheidung, die Jäger zu begleiten, nicht gefiel. Aber gleichzeitig musste er sie auch verstehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er anders gehandelt hätte, wenn es hierbei um seine Schwester gegangen wäre.
Ray seufzte leise, als Lee noch immer keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder zu tun.
„Bist du wütend auf mich?“, fragte sie deshalb.
„Nein“, kam seine knappe Antwort sofort.
„Was dann?“, hakte sie nach, weil sie sich mit dieser Einsilbigkeit nicht abfinden wollte.
Er schwieg einen Moment, dann endlich drehte er sich zu ihr herum. „Ich habe Angst“, gestand er dann ohne Umschweif und Ray zog überrascht die Luft ein. Er hatte Angst?
„Ich habe Angst, dass dir etwas zustoßen könnte. Angst davor, dass ich dich verliere, bevor ich dich überhaupt richtig gefunden habe“, sagte er mit ernster Stimme. Seine braunen Augen sahen sie dabei auf eine Weise an, die Ray einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Es schien beinah, als blickte er ihr direkt in die Seele und Ray wusste nicht, ob sie sich verletzlich oder umso stärker fühlen sollte.
Als ihr nichts einfiel, was sie antworten sollte, kam er zu ihr herüber. Direkt vor ihr blieb er stehen, griff nach ihren Händen und zog sie zu sich rauf. Als sie so dicht beieinander standen, konnte Ray die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen Augen erkennen und sein verlockender Duft stieg ihr in die Nase.
„Wenn wir nachher in dieses Hauptquartier gehen, dann könnte das wieder eine Falle sein“, erklärte Lee mit leiser Stimme. „Ich möchte, dass du die ganze Zeit über vorsichtig bist. Und, dass du an meiner Seite bleibst.“
Das Flehen in seinem Blick veranlasste sie dazu, beinah sofort zu nicken. Sie hatte nicht vor, einen Alleingang zu machen, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie das beim letzten Mal beinah das Leben gekostet hätte.
„Mach dir keine Sorgen“, bat sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin jetzt Dämonin und Vampirin. Das sollte doch von Vorteil sein.“
„Das hoffe ich“, erwiderte Lee und legte ihr eine Hand auf die Wange. Zärtlich strich er über ihre Haut und Ray konnte nicht widerstehen, sich in seine Berührung zu schmiegen. Für einen Moment schloss sie die Augen, um die Gefühle voll auszukosten, die er durch diese Kleinigkeit in ihr auslöste.
„Sag mir, was es mit deiner Fähigkeit auf sich hat“, hörte sie Lee dann flüstern und sie hob abrupt die Lider. Ernst sah er sie an und sie wusste genau, wovon er sprach. Sie hatte die Schatten heraufbefohlen, als sie gemeinsam nach Isaac gesucht hatten. Und nun wollte er mehr darüber wissen.
„Es ist eine Fähigkeit, die ich von meinem Vater geerbt habe. Genau wie Isaac“, erklärte sie und wandte den Blick ab.
„Ich kann die Schatten herbeirufen“, fuhr sie fort. „Aber es gelingt mir nur, wenn ich mich fest darauf konzentriere.“ Genau das war auch der Grund, weshalb sie sie nicht hatte anwenden können, als der Jäger sie in diesem Nachtclub überrascht hatte. Sie war unkonzentriert und völlig durcheinander gewesen und hatte die Schatten nicht greifen können.
„Isaac kann die Schatten dazu bringen, eine Person festzuhalten. Er raubt ihr die Kontrolle über den eigenen Körper“, erklärte sie weiter, denn es erschien ihr wichtig, dass ihre Fähigkeiten nicht identisch waren.
„Und bei dir ist es anders“, murmelte Lee und es war nicht als Frage gemeint, denn er hatte sie ihre Kräfte bereits anwenden sehen. Trotzdem nickte Ray. „Ich kann dank der Schatten die Kontrolle über die Organe übernehmen.“ Es fiel ihr schwer es auszusprechen, denn sie wusste, dass ebendiese Gabe es war, dir ihr Vater ständig genutzt hatte, um Menschen, Dämonen und auch Vampire dazu zu bringen, genau das zu tun, was er verlangte.
„Und?“, hakte Lee sanft nach, als sie nicht gleich weitersprach. Seine Finger strichen noch immer über ihre Wange und Ray fand, dass die Geste beinah etwas Tröstliches hatte.
„Und ich kann die Organtätigkeit beeinflussen. Ich kann eine Lunge daran hindern, sich mit Luft zu füllen und ich kann einen Magen dazu bringen, zu platzen. Aber ich kann auch den Herzschlag beschleunigen oder…“ Ihre Stimme versagte und sie musste sich räuspern. „Oder ich kann dafür sorgen, dass es aufhört zu schlagen.“
Sie schaute zu Lee auf, weil sie damit rechnete, dass er erschrocken vor ihr zurückfahren würde, doch er sah sie nur mitfühlend an. „Eine sehr mächtige Fähigkeit“, stellte er leise fest. Ja, damit hatte er absolut Recht.
„Aber ich finde, dass sie bei dir gut aufgehoben ist“, fügte Lee hinzu und lächelte. „Du missbrauchst sie nicht.“
Überrascht legte Ray den Kopf schräg. Sein Vertrauen in sie berührte sie auf eine Weise, wie es noch nie jemand getan hatte. „Danke“, brachte sie mit belegter Stimme hervor.
„Nicht dafür“, widersprach Lee und dann küsste er sie.