Lee starrte auf das verfluchte Handydisplay, was einfach keine Nachricht anzeigen wollte. Zum tausendsten Mal überprüfte er den Akkustand und Empfang, doch weder auf das eine noch auf das andere konnte er es schieben, dass er noch immer nichts von Ray gehört hatte.
Gerade überlegte er, sie noch einmal anzurufen, da kam Bastian zurück in die Bibliothek. „Leg doch endlich das Ding zur Seite.“
Lee sah zu seinem Freund auf, der den Kopf schüttelte und sich dann auf die Couch fallen ließ. Seufzend rang er sich dazu durch, das Mobiltelefon vor sich auf den Tisch zu legen. Dort war es griffbereit und er hatte es im Blick, falls Ray sich doch melden würde.
Seit fünf Tagen hatte er sie nun schon nicht mehr gesehen und er langsam drehte er wirklich durch.
Das war auch der Grund, weshalb er zu Bastian gekommen war.
„Also du erreichst sie nicht?“, fragte der in diesem Moment.
„Sie reagiert weder auf meine Anrufe noch auf meine Nachrichten.“
„Und warst du schon persönlich bei ihr?“, mischte Bastians Gefährtin Cam sich in die Unterhaltung ein. Die Rothaarige betrat die Bibliothek und nahm auf Couch an Bastians Seite Platz.
Lee nickte ihr grüßend zu. „Gestern und vorhin, aber sie öffnet mir nicht.“
„Und?“ Bastian zuckte mit den Schultern. „Du wirst dich doch wohl nicht von einer Tür abhalten lassen.“
„Bastian!“ Cam schlug ihm empört auf sein Bein.
„Ich dachte, es wäre besser, wenn ich nicht einfach…“, wandte Lee verunsichert ein.
„Natürlich“, bestätigte Cam sofort. „Es ist absolut richtig, dass du ihre Privatsphäre respektiert hast!“
„Es bringt ihn aber absolut nicht weiter“, erklärte Bastian leichthin.
„Es würde ihn genauso wenig weiterbringen, wenn er einfach ihre Tür eintreten würde wie ein Höhlenmensch.“ Cam schürzte die Lippen ernst.
„Ich denke nicht, dass Höhlenmenschen Türen eingetreten haben“, neckte Bastian sie und Cam schnaubte. „Du weißt genau, was ich meine!“
„Schon gut“, lachend hob Bastian die Hände, als wolle er Ergebung symbolisieren. „Und trotzdem hätte er die Tür nicht eintreten müssen. Er hätte sich auch einfach reinteleportieren können.“
„Darum geht es doch nicht“, schimpfte Cam aufgebracht und wandte sich dann wieder Lee zu. „Wenn du einfach ungebeten bei ihr hereinplatzt, dann wird sie dir nicht zuhören. Ganz im Gegenteil. Ich an ihrer Stelle würde stinksauer sein, dich hochkant rausschmeißen und erst Recht nichts mehr mit dir zu tun haben wollen.“
Lee kaute sich auf der Unterlippe herum. Genau das hatte er befürchtet und deshalb hatte er sich dafür entschieden, wieder zu gehen, nachdem er über eine Stunde vor ihrer Tür darauf gewartete hatte, dass sie vielleicht doch mit ihm sprechen würde.
„Dann soll er also lieber abwarten und Däumchen drehen?“, fragte Bastian an Cam gewandt und langsam nervte es Lee, dass sie über ihn sprachen, als sei er nicht da.
„Du glaubst, sie ist deine Gefährtin, richtig?“ Cam schien ihn zumindest in die Unterhaltung einbeziehen zu wollen, das rechnete Lee ihr hoch an, als er jetzt nickte.
„Wieso?“
Lee überlegte kurz. „Ich habe sie gesehen und irgendwie gleich gespürt, dass sie es sein könnte.“ Er zuckte mit den Schultern, doch Cam nickte verstehend. „Du hast ein sechsten Sinn für das Schicksal“, meinte sie und lächelte.
Bastian, der an ihrer Seite einen spöttischen Laut von sich gab, bedachte sie mit hochgezogener Augenbraue. „Im Gegensatz zu dir.“
Lee musste schmunzeln, als er die beiden ansah, die sich jetzt in gespielter Kampfeslust anfunkelten. Er konnte das Knistern zwischen ihnen quasi spüren und räusperte sich deshalb rasch. „Jedenfalls glaube ich, dass da wirklich etwas zwischen uns ist.“
Cam nahm ihren Blick von ihrem Mann und sah nun wieder zu Lee. „Ihr seid euch also näher gekommen?“
Lee legte nachdenklich den Kopf schräg. „Naja, wir haben uns gut verstanden“, meinte er.
Bastian lachte auf. „Man merkt dir deine knapp 300 Jahre gar nicht an, alter Mann“, erklärte er ironisch.
Lee verzog das Gesicht. „Halt die Klappe“, knurrte er missmutig. „Wir sind uns schon auch etwas näher gekommen, aber da ist nichts Ernsthaftes passiert.“ Leider.
„Nicht mal ein Kuss?“, fragte Cam vorsichtig nach.
„Nein“, gab Lee zu. Inzwischen bereute er es zutiefst, dass er sich zurückgehalten hatte. Es hatte schließlich mehr als eine Situation gegeben, in der er es hätte dazu kommen lassen können.
„Aber da war trotzdem etwas zwischen uns“, versicherte er den beiden. „Und nicht nur ich hab das gespürt. Ich bin mir sicher, auch von ihrer Seite war etwas. Und sie hat mir vertraut.“ Zählte das denn gar nichts?
„Weil sie dich mit zu ihrem Bruder genommen hat?“, fragte Bastian.
„Genau. Und weil sie mir davon erzählt hat und sich mir anvertraute.“
„Mh“, machte Cam gedehnt. „Vielleicht braucht sie einfach etwas Zeit.“
Zeit. Lee schnaubte. „Sind fünf Tage nicht genug Zeit?“
Cam zuckte mit den Schultern. „Offenbar nicht für sie.“
„Aber für mich“, murmelte Lee verstimmt.
„Vielleicht solltest du dich einfach ein bisschen ablenken“, warf Bastian ein und als Lee seinen Freund anschaute, grinste er breit.
„Ich kann mir schon denken, wie deine Vorstellung von Ablenkung aussieht“, brummte er. Aber Lee hatte keine Lust, sich mit irgendwelchen Gespielinnen zu amüsieren. Was er wollte, war Ray.
„Bastian!“, echauffierte sich nun auch Cam. „Das ist keine Lösung für das Problem.“
„Es könnte es aber angenehmer machen“, meinte er mit rauer Stimme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Cam zog sich jedoch kopfschüttelnd zurück. „Wenn ich an Rays Stelle das erfahren würde, wäre ich stinksauer.“
„Das glaube ich gern“, seufzte Bastian und Lee fuhr sich genervt mit der flachen Hand über das Gesicht. Das alles brachte ihn doch nicht weiter.
„Ich gehe jetzt noch mal zu ihr!“, entschied er, schnappte sich sein Handy vom Tisch und stand auf.
„Aber vielleicht solltest du noch ein wenig warten“, überlegte Cam.
„Nein.“ Seine Geduld war zu Ende.
„Wenn sie dich diesmal nicht reinlässt“, sagte Bastian. „Dann tritt die verfluchte Tür ein.“
„Nein“, fuhr Cam ihn an, doch Lee nickte. „Genau das hatte ich vor!“
Fünf Tage waren genug Zeit, um nachzudenken und was auch immer Ray sonst noch getan hatte. Jetzt würde sie mit ihm reden, ob es ihr passte oder nicht!