Lee stürzte hinter Ray her aus seinem Apartment. Rasch sprang er die Treppenstufen hinunter und erreichte sie, als sie gerade das Gebäude verließ.
„Ray“, rief er, doch sie reagierte nicht.
Hastig folgte er ihr und griff schließlich nach ihrem Arm, um sie am weitergehen zu hindern. „Warte!“
In einer fließenden Bewegung fuhr sie zu ihm herum und starrte ihn abwartend an.
„Was soll das?“, fragte er, weil ihr Verhalten ihn so vollkommen aus der Bahn geworfen hatte.
Sicher, er hatte die Unterhaltung zwischen ihr und ihrem Bruder mit angehört und es hatte ihn einige Überwindung gekostet, sich zurückzuhalten. Aber er hatte Ray allein mit ihm sprechen lassen wollen.
Als Isaac dann allerdings von Verrat gesprochen hatte, weil seine Schwester sich mit ihm eingelassen hatte, wäre er ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Soweit war es jedoch nicht mehr gekommen.
Er konnte sich jedenfalls gut vorstellen, dass Isaacs Worte Ray verletzt hatten, aber ihren plötzlichen Sinneswandel erklärten sie nicht.
„Was soll was?“, stellte sie eine Gegenfrage und zog dabei eine Augenbraue nach oben.
„Wo willst du hin?“, versuchte er es anders.
„Nach Hause.“
„Aber wir hatten doch besprochen, dass es im Augenblick sicherer für dich ist, wenn du bei mir bleibst.“ Es waren schließlich gerade einmal zwei Tage vergangen und sie hatten zwei Wochen ausgemacht.
„Meine Sicherheit spielt jetzt keine Rolle mehr“, wandte sie ein.
„Natürlich tut sie das!“ Seine Fassungslosigkeit wich langsam einer gewissen Wut. „Nur darum geht es doch hier!“
„Nein“, widersprach sie entschieden. „Wenn die Jäger hinter meinem Bruder her sind, werden sie mich auch jagen.“
„Das werden sie nicht!“ Weil er es niemals zulassen würde. „Genau deshalb sollst du schließlich bei mir bleiben!“
„Und was dann?“ Ihre Stimme wurde nun etwas lauter und einige Passanten, die sich in diesen frühen Morgenstunden auf dem Weg zur Arbeit befanden, schauten sich neugierig nach ihnen um.
Ray schien das allerdings wenig zu interessieren. „Soll ich den Jägern vielleicht mitteilen, an welchen Orten sich mein Bruder aufhalten könnte? Soll ich ihnen Hinweise geben oder sie besser direkt zu ihm führen? Oder nein, wie wäre es, wenn ich ihnen Isaac einfach gleich selbst übergebe? Verlangst du von mir, dass ich meinen Bruder den Wölfen zum Fraß vorwerfe, nur um meinen eigenen Hintern zu retten?“
Nein! Das würde er niemals von ihr verlangen!
Lee schluckte. Er verstand, worauf sie hinaus wollte. Wenn sie bei ihm blieb, würden Duncan und Bastian Informationen von ihr haben wollen. Sie würde sich für eine Seite entscheiden, zwischen ihrem Bruder und ihm wählen müssen. Und natürlich würde ihre Wahl jederzeit auf ihren Bruder fallen, auch wenn Lee sich gern das Gegenteil einreden wollte.
„Was willst du jetzt tun?“, fragte er deshalb und versuchte den Schmerz in seiner Brust zu unterdrücken.
„Das kann ich dir nicht sagen“, erklärte sie ruhig und für ihn war es nur ein weiterer Schlag ins Gesicht. Natürlich konnte sie das nicht. Weil er die Informationen hätte weitergeben können und sie nun einmal auf verschiedenen Seiten standen.
Grimmig ballte er die Hände zu Fäusten. So ein verfluchter Mist!
„Ich bin dir dankbar, für das, was du für mich getan hast“, setzte sie jetzt an, doch er wollte es gar nicht hören.
Entschieden schüttelte er deshalb den Kopf. „Versprichst du mir etwas?“
Er wusste, dass er sie jetzt würde gehen lassen müssen und gleichzeitig hätte er sie am liebsten einfach festgehalten und so dazu gezwungen, bei ihm zu bleiben.
Ray legte fragend den Kopf schief.
„Versprich mir, dass du auf dich aufpasst“, bat er. „Und dass du dich bei mir meldest, wenn du etwas brauchst.“
„Ich passe auf mich auf“, sagte sie, presste die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen und wandte sich dann ab. Ihre schlanke Gestalt verschwand um die nächste Hausecke und Lee fluchte.
Ihm war nicht entgangen, dass sie seine zweite Bitte übergangen hatte.