„Dann sollten wir es versuchen“, sagte Lee und sie sah ihn verwundert an. Hatte er gerade gesagt… „Wir?“
„Ganz Recht“, bestätigte er. „Wir. Du und ich.“
Wir… Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Ehrlich gesagt konnte sie sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal zu einem Wir gehört hatte. Oder ob sie es überhaupt jemals getan hatte.
Wir. Es klang gut und fühlte sich so stark an. Es war fast wie eine Stütze, weil es bedeutete, dass sie nicht allein war. Und doch erschien es ihr falsch zu sein.
Wie konnte sie sich zu diesem ihr eigentlich völlig fremden Mann zugehörig fühlen?
Sie räusperte sich, während sie ihn ausgiebig betrachtete. Nun, vielleicht tat sie ihm gerade auch etwas Unrecht. Lee war ihr nicht mehr völlig fremd. Sie hatte in den vergangenen achtundvierzig Stunden so viel über ihn erfahren, dass sie ihm vertraut hatte. Sie hatte unterschiedliche Seiten an ihm entdeckt, mit ihm gelacht, sogar getanzt und sie hatte ihn wütend erlebt. Und vor allem fühlte sie sich in seiner Nähe wohl.
Ihr verräterisches Herz hatte für ihn vermutlich auch schon ein gemütliches Plätzchen geschaffen und war nur allzu bereit, ihn dort einziehen zu lassen. Eine Tatsache, die sie sich zwar eingestehen, aber nicht akzeptieren konnte.
„Du musst das nicht allein tun“, sagte Lee jetzt und lächelte sanft. „Ich werde mit dir kommen und dir helfen.“
„Aber du musst nicht…“, setzte sie an, doch er unterbrach sie sofort. Sein Finger legte sich auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. „Ich weiß, dass ich es nicht muss. Aber ich möchte es. Ich möchte dir helfen, weil ich mir vorstellen kann, was dir dein Bruder bedeutet. Und ich möchte, dass es dir gut geht. Wenn wir dafür also den Hals deines Bruders aus der Schlinge ziehen müssen, dann werden wir das tun. Zusammen.“
Ray atmete flach. Zusammen.
„Okay“, hauchte sie gegen seine Haut und er zog seinen Finger zurück. Sein Blick wanderte zu ihren Lippen und ihr rauschte das Blut in den Ohren.
„Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt“, murmelte er und klang voller Reue. „Aber später hole ich das nach. Das schwöre ich.“
Ray musste mehrmals schlucken, als Lee jetzt aufstand und hinüber zur Wohnungstür ging. Irritiert blieb sie sitzen und starrte an die Stelle, an der er gerade noch gesessen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Wofür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt und was wollte er nachholen?
„Vielleicht solltest du dich umziehen“, rief Lee ihr jetzt zu und Ray sprang auf.
Er hatte Recht, im Moment sollte sie aufhören, sich den Verstand von ihren Gefühlen benebeln zu lassen und stattdessen an das Leben ihres Bruders denken. Wenn ihm etwas zustoßen würde, während sie sich ihrem Herzklopfen hingegeben hatte, würde sie sich das niemals verzeihen.
Eilig lief sie jetzt ins Schlafzimmer und pellte sich aus dem Abendkleid. Dann schlüpfte sie in eine helle Jeans, zog einen hellgrauen Pullover über und band sich das Haar zu einem hohen Pferdeschwanz. Noch während sie den Gummi um den Zopf schlang, ging sie zurück zu Lee, der bereits seine Jacke angezogen hatte und auf sie wartete. In den Händen hielt er ihren Mantel, in den er ihr jetzt half und dann verließen sie auch schon das Apartment.
Jetzt wurde es ernst. Sie konnte nur hoffen, dass Isaac vernünftig sein würde. Und, dass sie nicht zu spät kamen!