Zum dritten Mal hämmerte Lee nun schon gegen die verschlossene Tür vor Rays Wohnung. Er rief ihren Namen, doch sie antwortete nicht und so sehr er sein übermenschliches Gehör auch bemühte, er konnte kein Geräusch aus dem Inneren der Wohnung ausmachen.
War sie vielleicht gar nicht zu Hause?
„Ray?“ Er sah sich kurz auf dem leeren Flur um. „Ich komme jetzt rein“, sagte er und teleportierte sich dann auf die andere Seite der Tür. „Ray?“, rief er dann erneut und betrat das Wohnzimmer, welches in völliger Dunkelheit lag.
Mit gerunzelter Stirn überprüfte er auch die Küche und ihr Schlafzimmer, doch er fand sie nicht. „Ray, bist du hier drin?“, fragte er dann und klopfte gegen die Badezimmertür. Als auch von dort keine Antwort kam, warf er einen Blick hinein und war nicht wirklich überrascht, dass auch dieser Raum menschenleer war.
Verdammt! Wo steckte sie nur? Es war inzwischen kurz vor Sonnenaufgang und er wusste, dass sich Dämonen üblicherweise nicht gern im Tageslicht aufhielten. Warum war sie also nicht zu Hause?
Seufzend ging er zurück in ihr Wohnzimmer, schaltete das Licht ein und ließ sich dort auf die Couch fallen, ehe er sein Telefon aus der Hosentasche angelte und abermals ihre Nummer wählte.
Das Freizeichen blieb diesmal aus, stattdessen sprang sofort die Mailbox an und eine mechanische Stimme erklärte ihm, dass er eine Nachricht hinterlassen könne.
Verwundert trennte er die Leitung. Bisher hatte sie ihr Handy noch nie ausgeschaltet gehabt.
Unschlüssig sah Lee sich um. Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Er fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht, während sich ein ungutes Gefühl in seinem Innersten ausbreitete. Es war albern, aber er machte sich Sorgen um Ray.
Kurzentschlossen tippte er eine andere Nummer in sein Mobilfunkgerät ein.
Diesmal wurde nach den dritten Tuten abgehoben. „Was?“, meldete sich Bastians deutlich genervte Stimme.
„Sie ist nicht da“, erklärte Lee schlicht.
„Dann geh nach Hause“, brummte Bastian und Lee konnte im Hintergrund ein Flüstern vernehmen, das vermutlich von Cam stammte.
„Nein“, entschied Lee. Er würde jetzt nicht wieder Heim gehen, Däumchen drehen und in die Luft starren. Auf gar keinen Fall!
„Dann warte eben auf sie.“ Sein Freund schien wenig Mitgefühl mit seiner Lage zu haben.
„Aber was ist, wenn sie nicht kommt? Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen. Ihr habt doch nicht…“ Lee wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.
„Du meinst, wir haben jemanden auf sie angesetzt?“ Bastian schnaubte beleidigt. „Ist das dein Ernst?“
Lee seufzte. „Nein, entschuldige.“ Er wusste, dass er sich auf Bastian und Duncan verlassen konnte. „Aber habt ihr vielleicht etwas über ihren Bruder herausgefunden?“
„Nicht viel“, antwortete Bastian grimmig. „Er scheint untergetaucht zu sein. Wir arbeiten daran, aber bisher haben wir ihn noch nicht aufspüren können.“
„Vielleicht hat Ray ihn ja gefunden“, überlegte Lee, doch er war sich nicht sicher, ob das wirklich gut wäre.
„Schon möglich“, stimmte Bastian ihm zu. „Aber sie wird uns wohl kaum an ihrem Wissen teilhaben lassen.“
Nein, das würde sie vermutlich nicht.
„Und wenn sie in Schwierigkeiten steckt?“, fragte Lee noch einmal.
„Wieso sollte sie denn in Schwierigkeiten sein?“ Bastian stöhnte genervt und gleich darauf war Cam am Apparat. „Lee? Ganz egal, ob sie ihren Bruder gefunden hat oder nicht. Sie ist offenbar untergetaucht und möchte im Moment nicht, dass du sie findest.“ Ihre Stimme wurde etwas sanfter, als sie hinzufügte: „Es tut mir wirklich leid.“
Lee dachte über ihre Worte nach. Sicher, es wäre die logischste Erklärung. Entweder hatte sie Isaac gefunden und war nun bei ihm oder sie suchte noch immer nach ihm und hatte sich inzwischen irgendwo einquartiert, wo sie ihre Ruhe vor Lee hatte. Aber so einleuchtend das auch klang, Lee konnte es sich einfach nicht vorstellen.
„Ich glaube das nicht“, sagte er deshalb und nun brachte er auch Cam zum Seufzen. „Du musst akzeptieren, dass sie gerade nicht gefunden werden will!“, sagte sie.
„Aber das kann ich nicht“, gab er zu bedenken und schüttelte entschieden den Kopf. Ehe Cam oder Bastian noch etwas sagen konnten, verabschiedete er sich mit knappen Worten von ihnen. „Tut mir leid, dass ich euch gestört habe. Wenn ihr etwas hört, gebt mir Bescheid. Macht’s gut.“
Er beendete das Gespräch und lehnte sich mit geschlossenen Augen auf der Couch zurück.
Wo zum Teufel steckte Ray nur?