Lee zog den Kopf wieder ein Stück zurück. Er wusste genau, dass er den kostbaren Moment zwischen ihnen zerstört hatte und ein Teil von ihm bereute das. Der andere Teil hatte allerdings genau das tun wollen, nein, vielmehr tun müssen.
Seit sie Bastians Büro verlassen hatten, hatte er ihr angesehen, dass sie über irgendetwas nachdachte. Sie schien verstört und verwirrt und er war sich absolut sicher, dass es etwas damit zu tun haben musste, was Duncan ihnen erzählt hatte.
Als er sie jetzt danach gefragt hatte, hatte sie es nicht abgestritten. Das war immerhin ein Anfang. Allerdings schien sie auch nicht bereit zu sein, ihm die ganze Wahrheit anzuvertrauen und das nagte an ihm.
Sie schützte jemanden, auch das lag auf der Hand. Aber wieso tat sie das?
Lee hatte es sich zunächst nicht erklären können, aber als er dann in ihre violetten Augen gesehen hatte, hatte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz getroffen. Sie beschützte jemanden, den sie liebte.
Noch am Vorabend hatte sie ihm versichert, dass sie keine feste Beziehung führte und auch in ihrer Wohnung hatte es keine Anzeichen dafür gegeben, aber trotzdem war der Verdacht in Lee aufgekeimt und hatte sich in seinem Geist festgesetzt wie ein lästiger Parasit.
Er hatte sie küssen wollen. Jetzt, hier, auf der Stelle. Er hatte sie an sich ziehen und seine Lippen auf ihre pressen wollen, hatte sie für sich beanspruchen und nie wieder gehen lassen wollen. Und in seinem Kopf waren noch ganz andere Szenen entstanden. Er hatte sich vorgestellt, wie er sie unter sich auf dem Bett begraben würde, wie er sie…
Lee räusperte sich und zwang sich selbst zurück in die Realität.
Er hatte all das nicht getan, weil er Gewissheit brauchte. Weil er wissen musste, ob sie ihr Herz längst einem anderen geschenkt hatte. Und aus diesem Grund hatte er ihr diese Frage gestellt, ehe irgendetwas zwischen ihnen hatte passieren können.
Ihre Miene, mit der sie nun vor ihm saß, war für ihn ein Schlag ins Gesicht. Sie musste es nicht aussprechen, denn er konnte den Ausdruck deuten. Er hatte den Nagel auf den verfluchten Kopf getroffen.
Mit einem Nicken erhob sich Lee und zwang sich dabei selbst zur Ruhe. Es gelang ihm tatsächlich beinah gelassen hinüber zur Schlafzimmertür zu gehen und den Raum zu verlassen, obwohl er am liebsten auf etwas eingeschlagen hätte. Er wollte fluchen und seine Enttäuschung herausbrüllen, doch er riss sich zusammen.
In der Küche nahm er ein Glas aus dem Schrank und goss einen großen Schluck seines teuersten Whiskeys in ebendieses. Seine verräterischen Hände zitterten, als er trank und das bittere Getränk seine Kehle herabrann.
„Lee“, hörte er Rays zaghafte Stimme hinter sich, doch es gelang ihm nicht, sich nach ihr umzudrehen. Er wollte sie nicht ansehen, wollte nicht in ihr wunderschönes Gesicht blicken und er wollte auch ihre Entschuldigungen nicht hören. Schweigend stand er deshalb da und starrte auf das goldene Getränk in seiner Hand.
„Du hast Recht damit, dass ich einen Mann schütze den ich liebe“, sagte sie und Lee schloss die Augen. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es knackte, während er das Gefühl hatte, sie habe ihm gerade das Herz aus der Brust gerissen.
„Sein Name ist Isaac“, fuhr sie fort und ihre Hand legte sich auf seine Schulter. Mit einem Knurren fuhr Lee zu ihr herum und entzog sich damit ihrer Berührung, die ihn durch sein Hemd hindurch zu verbrennen schien.
Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie in sein Gesicht blickte. Er wusste, dass seine Fangzähne hervorgetreten waren und er gerade vermutlich eher wie ein wildes Tier als menschlich aussah, doch es war ihm vollkommen egal.
Er wollte kein einziges Wort mehr aus ihrem Mund hören!
Blind vor Wut stürmte er an ihr vorbei. Er musste hier weg! Brauchte dringend etwas, woran er sich abreagieren konnte, denn sonst würde er in der nächsten Minute seine Einrichtung zu Kleinholz verarbeiten.
Noch ehe er die Wohnungstür jedoch erreicht hatte, stand Ray vor ihm. Er wusste, dass sie als Dämonin ebenfalls übernatürlich schnell war, doch er hatte keine Ahnung, wann sie an ihm vorbeigerannt war.
Zornig wollte er an ihr vorbeigehen, doch sie folgte seiner Bewegung und versperrte ihm abermals den Weg. „Wage es nicht, dich fortzuteleportieren“, sagte sie noch ehe er den Gedanken gefasst hatte.
„Du wirst hierbleiben und mir zuhören!“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und er wich zurück, als könnte er sich an ihr verbrennen, wenn sie nicht ausreichend Abstand zueinander hatten.
„Isaac ist mein Bruder!“