Nachdem sie in die Bibliothek zurückgekehrt waren und erneut auf dem Sofa platzgenommen hatten, erwartete Ray eine Bemerkung von Bastian oder Duncan, die noch immer auf ihren Plätzen saßen, als sei nie etwas passiert.
Doch die beiden schwiegen und Ray erntete von ihrer Seite nicht einmal einen argwöhnischen Blick, was sie unheimlich erleichterte.
„Darf ich?“ Lee griff, ohne auf eine Antwort zu warten, nach einem der Blutbeutel auf dem Tisch. Dann glitten seine Fangzähne hervor und er schlug sie in den Beutel.
Ray starrte ihn an, während das Blut langsam weniger wurde. Er verzog dabei das Gesicht, als wollte er sich entschuldigen. Als er schließlich ausgetrunken hatte, nahm er den leeren Beutel vom Mund. „Ich hab mir vorhin wohl ein paar Rippen gebrochen“, murmelte er eine Erklärung und angelte dann schon nach der nächsten Konserve.
Als er auch diesen leerte, bemerkte Ray, dass Bastian grinste. „Kommt mir bekannt vor“, brummte er amüsiert und zwinkerte Cam zu. Diese verdrehte nur die Augen.
„Möchtest du auch etwas?“, fragte sie an Ray gerichtet und deutete auf das Blut auf dem Tisch.
Erschrocken schüttelte Ray mit dem Kopf.
„Doch“, widersprach Lee, der nun auch die zweite leere Konserve auf die Tischplatte schmiss. „Du musst etwas trinken.“
„Wieso?“ Ray sah keinen Grund dafür.
„Weil du gerade erst gewandelt wurdest und dein Körper auch noch immer mit der Heilung beschäftigt ist“, erklärte Lee ruhig.
„Als Vampirin benötigst du in regelmäßigen Abständen Blut, um deinen Körper in Bestform zu halten. Bei Verletzungen oder anderen Schäden an deinem Körper, benötigt dein Organismus außerdem noch zusätzliche Konserven“, fügte Duncan hinzu. „Es ist gar nicht so übel, wie man zunächst vielleicht glaubt.“
Ray sah zögernd auf das Blut. Natürlich wusste sie, dass Vampire dieses benötigten und sie hatte ja bereits herausgefunden, dass es erstaunlich gut schmeckte.
Und trotzdem war es etwas anderes, dass sie jetzt einen solchen Beutel leeren sollte.
Lee nahm einen Blutbeutel in die Hand. „Du kannst es in ein Glas füllen“, meinte er. „Oder du schlägst einfach deine Fänge hinein.“
Ray griff nach der Konserve und drückte mit der Hand leicht das Blut darin hin und her. „Wie bekomme ich denn die Zähne jetzt heraus?“, fragte sie. Beim letzten Mal hatte Lee ihr mit dem Geruch seines eigenen Blutes dabei geholfen. Als sie daran dachte, schoss ihr die Röte in die Wangen. Was danach passiert war, war etwas, dass bei der bloßen Erinnerung ihren Herzschlag beschleunigte. Himmel, wenn sie daran dachte, wie er sie geküsst hatte und wie sich seine Hände auf ihrem Körper angefühlt hatten…
„Für mich war es auch sehr schön“, hörte sie Lee in ihrem Kopf sagen und zeitgleich spürte sie ein Ziehen in ihrem Mund. Ihre Fangzähne schossen hervor und Bastian pfiff anerkennend durch die Zähne. „Offenbar bist du ein Naturtalent. Normalerweise dauert es eine Weile, bis man die Fänge willentlich ein- und ausfahren kann.“
„Oder es waren die starken Gefühle, die die Erinnerung in dir ausgelöst haben“, mutmaßte Lee mental. „Aber das müssen wir ihnen ja nicht auf die Nase binden.“
Ray warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Nein, das würden sie sicher nicht tun!
„Glas oder Beutel?“, fragte Lee nun laut und grinste sie an.
Ohne noch länger darüber nachzudenken, schlug Ray ihre spitzen Fänge in das kühle Plastik und wartete darauf, dass das Blut ihren Mund füllte.
Sie hatte erwartete, dass der Geschmack sie auch diesmal überwältigen würde, doch die berauschenden Gefühle blieben aus. Stattdessen schmeckte sie nur eine süßlich-metallische Note, die nicht unangenehm, aber auch nichts Besonderes war.
„Es ist nicht so, wie direkt aus einer Vene zu trinken“, erklärte Lee ihr mental. „Und bei Gefährten ist das Gefühl auch noch etwas anders.“
Ray ignorierte den Unterton, den sie in seiner Stimme zu hören meinte, und schluckte stattdessen das Blut herunter. Es dauerte nicht lange, dann hatte sie die Konserve vollständig geleert und konnte sie wieder von den Zähnen ziehen.