Ray musterte die fremde Frau, die Lee Lina genannt hatte, argwöhnisch. Sie war einfach so hier hereingeplatzt und Ray konnte es sich selbst nicht erklären, aber sie strahlte etwas unsagbar Respekteinflößendes aus. Etwas, dass Ray dazu brachte, sich wie ein kleines Schulmädchen zu fühlen, welches dabei erwischt worden war, als es Unsinn gemacht hatte. Sogar die Röte war ihr in die Wangen gestiegen.
Lee hingegen schien es überhaupt nichts auszumachen, dass sie gerade förmlich inflagranti erwischt worden waren. Lässig saß er auf der Kante des Bettes und grinste.
„Also was machst du hier?“, fragte er jetzt an Lina gerichtet.
„Ich habe gehört, was du getan hast“, erklärte Lina und schloss die Tür hinter sich, in der sie bis dahin noch immer gestanden hatte.
„Achja?“ Lee zog eine Augenbraue nach oben. „Was habe ich denn getan?“
„Du hast sie gewandelt.“ Lee deutete mit einem Nicken ihres Kopfes auf Ray und Lee schnappte überrascht nach Luft. „Woher weißt du das? Ich habe es niemandem erzählt.“
Ray nagte unsicher auf ihrer Unterlippe herum. Irgendwie kam sie sich hier gerade etwas fehl am Platz vor.
„Leander“, meinte Lina mit einem Kopfschütteln. „Ich bin eine Hexe, ich weiß alles, was zu wissen wichtig ist.“
Nun wurde Ray doch hellhörig. Eine Hexe?
Sie schluckte. Sie war noch nicht vielen Hexen begegnet, aber sie wusste, dass diese Frauen und wenigen Männer, die die Zauberei beherrschten, sich für etwas Besseres hielten und darum nur selten ihr Wissen mit irgendwem teilten. Dummerweise war ihre Überheblichkeit sogar berechtigt, denn häufig waren Hexen wirklich sehr mächtig und konnten sowohl einen Dämon als auch einen Vampir mit einem einfachen Fingerschnippen ausschalten.
Lina kam nun geradewegs auf Ray zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Also noch einmal ganz offiziell“, sagte sie. „Ich bin Lina.“
„Ray“, nannte Ray ihren Namen und erwiderte die Geste der Begrüßung.
„Raisa, Rose, Ray. Ich weiß, ich weiß“, erwiderte Lina mit einem verschmitzten Lächeln und drückte ihre Hand.
Ray zog erneut die Unterlippe zwischen die Zähne. Sie konnte nicht gerade behaupten, dass es ihr gefiel, wenn ihr Gegenüber so viel über sie wusste, sie ihn aber gerade einmal wenige Minuten kannte.
„Wie dem auch sei“, meinte Lina jetzt und nahm auf einem der freien Stühle Platz. „Die Wandlung war erfolgreich?“
Ray sah sich hilfesuchend nach Lee um. Wann bezeichnete man eine Wandlung denn bitte als erfolgreich?
Lee zuckte nun ebenfalls mit den Achseln. „Scheint so.“
Lina verdrehte die Augen. „Du heilst wieder?“, fragte sie an Ray gewandt. Diese nickte, denn genau das hatten ihr die Ärzte gesagt. Und sie fühlte sich auch schon viel besser als vorhin, als sie aufgewacht war.
„Und sie hat Fangzähne“, warf Lee vom Bett aus ein.
Ray, die sich nun ein wenig unbehaglich fühlte, weil sie als einzige herumstand, sank auf den zweiten Stuhl, der Lina am Tisch gegenüber stand.
„Gut.“ Lina nickte langsam. „Und die Blutsbindung?“
Sie schaute zwischen Ray und Lee hin und her und sofort erröte Ray wieder. Genau das war es schließlich, was sie vorhin hatten herausfinden wollen.
„Die ist wohl zweifelsfrei vorhanden“, hörte sie Lee sagen und sah sich zu ihm um. Er grinste sie verschmitzt an, doch ehe Ray etwas sagen konnte, räusperte Lina sich. „Also? Mentale Kommunikation? Geteilte Gefühle? Unzügelbare Leidenschaft?“, ratterte sie mehrere Punkte herunter, die Rays Wissens nach Indizien für eine solche Bindung waren.
„Sag du es ihr“, meldete Lee sich zu Wort und Ray fuhr abermals zu ihm herum. Mit gerunzelter Stirn musterte sie ihn, als sie ihn sagen hörte: „Du kannst mich doch hören, nicht wahr?“
Ray schluckte. Er hatte die Lippen nicht bewegt. Hieß das etwa, dass er im Geist mit ihr sprach?
„Ja. Ich höre dich“, dachte sie überrascht und als Lee gleich darauf nickte, war es die Bestätigung, die ihr gefehlt hatte. Das war ja wirklich unglaublich!
„Definitiv sind wir blutsverbunden“, sagte Lee jetzt laut und Ray konnte es kaum glauben. Blutsverbunden. Sie. Mit einem Vampir.
„Bin ich jetzt keine Dämonin mehr?“, schoss es ihr in diesem Moment durch den Kopf und sie stellte ihre Frage geradewegs heraus.
„Doch“, kam sofort Linas Antwort. „Du bist jetzt quasi beides.“ Sie lächelte. „So wie ich.“
„Wie du?“ Überrascht riss Ray die Augen auf. Die Hexe sah kein bisschen wie eine Dämonin aus.
„Vamphexe“, sagte sie und deutete auf sich. „Sozusagen.“ Sie lachte auf und Ray starrte sie einfach nur an. Davon hatte sie wirklich noch nie etwas gehört.
„Und du bist dann…“ Lina legte den Kopf schräg und überlegte offenbar. „Eine Dämpirin vielleicht. Oder eine Vampmonin.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Such es dir aus.“
Himmel!
Ray wurde schwindlig.
Das war absolut verrückt!