Ray sah der Hexe einen Moment nach, dann wandte sie sich Lee zu, der neben ihrem Bett stand. Offenbar war sie tatsächlich bewusstlos geworden und er hatte sie vermutlich hier her getragen. Sie schüttelte den Kopf. Es sah ihr nicht gerade ähnlich, wie eine holde Jungfer in Ohnmacht zu fallen. Und trotzdem war genau das geschehen. Sie rümpfte die Nase. Als nächstes würde sie wohl auch noch anfangen, mit einem Fächer vor ihrem Gesicht herumzuwedeln. Himmel!
Ray schob die wirren Gedanken beiseite, tastete aber zur Sicherheit noch einmal nach der Wunde in ihrem Bauch. Die Stelle, an der der Verband angebracht war, war noch etwas empfindlich, aber sie konnte keine starken Schmerzen ausmachen. Das war doch immerhin ein Anfang.
„Also?“, richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun auf Lee. „Was meinte die Hexe?“
Seufzend ließ Lee sich auf die Bettkante sinken. „Es geht um Isaac“, kam er dann ohne Umschweif auf den Punkt.
„Was ist mit ihm?“ Ray hielt angespannt die Luft an. Es konnte ihm nichts zugestoßen sein, denn sie spürte das wohlbekannte Prickeln unter ihrer Haut, dass ihr verriet, dass er wohlauf war. Aber Lees ernste Miene beunruhigte sie dennoch.
„Er wollte Bastian und den Jägern bei der Suche nach den Dämonen helfen, die uns festgehalten haben“, begann er und Ray nickte. Das klang tatsächlich nach ihrem Bruder und Ray war froh, dass er mit den Jägern zusammengearbeitet hatte. Vielleicht hatte er ja inzwischen erkannt, dass es besser war, sich mit ihnen zusammenzutun.
„Dabei ist er auf einen Geheimgang gestoßen und als er diesen betrat, löste er wohl eine Falle aus“, fuhr Lee fort.
Ray schnappte erschrocken nach Luft, doch Lee griff bereits nach ihren Fingern. „Dabei ist ihm nichts zugestoßen“, erklärte er rasch. „Er stürzte nur in ein Loch.“
Ray entspannte sich ein wenig, wagte aber noch immer nicht, Lee zu unterbrechen, denn er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. Seine Finger drückten sanft die ihren. „Bastian wollte ihm helfen und wollte ein Seil aus dem Wagen holen. Als er zurückkehrte, war Isaac aber verschwunden. Nun vermuten wir, dass die anderen Dämonen ihn haben.“
Nun zuckte Ray doch erschrocken zusammen. „Sie haben ihn noch einmal entführt?“, fragte sie völlig fassungslos. Wie hatte das nur passieren können?
„Davon gehen wir leider aus“, bestätigte Lee. „Es tut mir leid.“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Wir müssen nach ihm suchen!“ Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, doch Lee hinderte sie daran aufzustehen, indem er ihren Arm ergriff. „Bastian ist da bereits dran“, erklärte er. „Und wenn du dich besser fühlst, dann unterstützen wir ihn selbstverständlich dabei. Aber im Moment ist es wichtig, dass du erst wieder vollkommen gesund wirst.“
„Aber es geht mir bestens“, widersprach sie energisch. Er konnte doch nicht von ihr erwarten, dass sie im Bett liegen und wertvolle Zeit vergeuden würde, während ihr Bruder höchstwahrscheinlich in Lebensgefahr schwebte.
Lee seufzte leise. „Ich dachte mir schon, dass du so etwas sagen würdest.“
„Weil es der Wahrheit entspricht.“ Sie sah ihn ernst an. „Du hast mich zu einer…“ Sie überlegte. „Zu einer Vampir-Dämonin gemacht. Meine Wunden sind verheilt und ich fühle mich bestens. Bitte verlange jetzt nicht von mir, dass ich meinen Bruder im Stich lasse, denn das könnte ich nicht.“
„Ich weiß“, erwiderte Lee. „Aber dann lass dich wenigstens noch einmal von einem Arzt durchchecken, bevor wir gehen.“
Ray wollte ihm widersprechen, doch als sie die Sorge in seinem Blick sah, nickte sie. „Gut.“
Lee lächelte. „Danke“, murmelte er, beugte sich dann zu ihr herüber und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen. Die Berührung kam so plötzlich, dass Ray sie erst richtig realisiert hatte, als Lee schon wieder aufgestanden war. „Ich hole einen Arzt und du ziehst dir inzwischen etwas über“, sagte er und verließ das Zimmer.