Bevor wir uns den taxonomischen Feinheiten der Drachen und ihrer Verwandtschaftsverhältnisse widmen können, sollten wir den Elefanten oder besser den Drachen im Raum ansprechen:
Was ist überhaupt ein Drache?
Oder noch etwas genauer formuliert:
Welche Merkmale definieren einen Drachen und unterscheiden ihn von anderen Fabelwesen bzw. Lebewesen?
Fragen, welche durchaus berechtigt sind, bedenkt man, dass Drachen in ihrer Formenvielfalt von kleinen Wurm- und schlangenartigen Wesen, bis zu kosmischen Identitäten, Seeungeheuern, sechsbeinigen Schildkröten und menschlichen Erscheinungen heranwachsen können.
Es scheint daher auf den ersten Blick unmöglich, dass ein solcher Formenreichtum innerhalb einer gemeinsamen Verwandtschaftsgruppe im engeren Sinne möglich wäre, noch dazu in verbindenden Merkmalen zu beschreiben.
Und doch können wir in der Biologie solche Phänomene beobachten, zum Beispiel bei den formenreichen Paarhufern (Artiodactyla), zu denen nicht nur Hirsche, Ziegen und Kühe zählen, sondern auch speziellere Formen, wie Schweine, Kamele, Flusspferde und, für die meisten wohl am überraschendsten, auch Wale, gehören.
Da Wale keine (paarigen) Hufe besitzen, beschreibt man diese Gruppe aus Paarhufern mit Walen inzwischen auch treffender, wenn auch schwer aussprechbar, als Cetartiodactyla. Deren wichtigstes gemeinsam abgeleitetes Merkmal (Synapomorphie) der spezielle Bau des Sprungbeins ist. Dieses besitzt sowohl am oberen als auch am unteren Ende eine Gelenkrolle. Welches bei den Walen zurückgebildet wurde und nur durch frühe, fossile Wale, wie Pakicetus und Ichthyolestes (Pakicetidae), die im späten Eozän lebten, belegt werden konnte.
Neben diesem Kernmerkmal teilen sich Wale und die "klassischen Paarhufer" die drei primären Lungenbronchien und der fibroelastische Penis (der Schwellkörper ist nur gering entwickelt, die Erektion wird vorrangig durch ein Erschlaffen von Retraktormuskeln (Rückziehmuskeln) bewirkt).
Außerhalb dieser Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die beiden Gruppen, wie Tag- und Nacht und eigenen sich so gut für das Aufzeigen der Möglichkeit einer sehr diversen, gemeinsam verwandtschaftlichen Gruppe.
Wenn Drachen also eine Gruppe darstellen, welche untereinander eine engere Verwandtschaft besitzen, als zu anderen Spezies, so müssen alle Mitglieder dieser Gruppe diese Synapomorphie besitzen, sofern sie diese nicht über einen Entwicklungsprozess wieder verloren haben, in diesem Fall muss aber ein direkter Vorfahre dieses Merkmal besessen haben. Da Drachen keinen wirklichen Fossilienbericht besitzen und uns kein einziges Typusexemplar vorliegt, müssen wir etwas in die Trickkiste greifen und das, was uns Jahrhunderte der Folklore liefern, für lebendig erachten, um mit vergleichender Anatomie unserem Ziel der Bestimmung eines Drachenmerkmals (oder mehrerer) näherzukommen.
Die Suche nach der Synapomorphie
Wir haben also ermittelt, dass alle Drachen, sofern sie den eine verwandtschaftliche Gruppe darstellen, eine oder mehrere Synapomorphie besitzen müssen.
Die meisten Drachenbeschreibungen beschreiben Drachen als Reptiloide Mischwesen, mit einer Flugfähigkeit, Verbindung zu Wasser, übernatürlichen Kräften und Giftigkeit, welche im Folgenden näher betrachtet werden.
Reptiloide Mischwesen
Die meisten Drachenbeschreibungen beschreiben reptiloide Wesen. Genauer besitzen Drachen größtenteils Attribute von Schlangen, Echsen und/oder Krokodile, wie beispielsweise den Schwanz oder Kopf einer Schlange, einen Krokodilkopf oder ein niedriger Reptilienkörper mit kurzen Beinen, wie bei Echsen und Krokodilen. Schildkrötendrachen sind seltener, aber auch dokumentiert, wie bei der Tarasque aus Frankreich. Darüber hinaus sind die Reptilienatribute in manchen Beschreibungen auch durch Vergleiche, wie "mit der Geschwindigkeit einer Echse" oder "Schuppen so dick wie ein Krokodil", gekennzeichnet.
Abgeleitete Merkmale von diesen reptilischen Merkmalen ist auch die übernatürliche Heilfähigkeit eines Drachen, so wird in vielen Kulturen die Häutung von Schlangen als Heilungsfähigkeit betrachtet und gelangte so in den Fähigkeitskatalog der Drachen. Auch wenn die reine Heilfähigkeit nicht allein typisch Drache ist.
Diese Reptilien-Merkmale allein wären allerdings nicht genug für eine Klassifizierung als Drache, sonst wären Drachen eben auch "nur" Reptilien. Drachen sind allerdings nicht nur reptiloid, sondern auch zeitgleich Mischwesen. Das bedeutet, dass sie aus mindestens zwei Kreaturen bestehen, dabei müssen die Kreaturen nicht zwingend Huhn und Schlange sein, sondern können auch beispielsweise zwei Schlangen darstellen. Reptilienwesen mit geringem Mischwesen-Charakter sind dementsprechend schwieriger in der Beschreibung und können teilweise sowohl als Drachen, als auch als Nicht-Drachen betrachtet werden.
In Hinblick des Merkmals, der reptiloiden Mischwesen, welche alle Drachen zu verbinden scheint, sollte zudem die Frage in den Raum gestellt werden, ob Greife Drachen sind oder nicht.
Im ersten Moment scheint diese Frage abwegig, doch da Vögel ebenfalls zu den Reptilien zählen und Greife Mischwesen aus eben diesen sind, besteht die Möglichkeit, dass es sich auch bei ihnen, biologisch betrachtet, um Drachen handeln könnte.
Dieses Projekt untersucht daher auch diese Frage.
Ähnlich fraglich scheint der Status der griechischen Chimäre und anderer Lebewesen, welche Mischwesen-Charakter und reptiloiden Charakter miteinander vereinen. Sind diese Wesen Drachen oder keine?
Weiter sei hier in diesem Zusammenhang der Begriff Halbdrache erläutert. Ein Halbdrache ist, im allgemeinen Verständnis, ein Wesen, dessen einer Elternteil ein Drache und der andere Elternteil ein anderes Tier gewesen ist. Da ein Drache ein reptilioides Mischwesen ist, welches bereits aus mehreren Tieren besteht, wird dem Nachwuchs nur ein weiteres Tier hinzugefügt. Es ist demnach unmöglich, einen Halbdrachen von einem Drachen zu unterscheiden, außer man weiß von ihrer Zeugung. In anderen Darstellungen des Begriffs "Halbdrache" werden Wesen beschrieben, welche Säugetier-Merkmale und Reptilien-Merkmale miteinander vergleichen und ähnlich einem Greif sich meist aus zwei Tieren zusammensetzen, wie den katzenartigen Darstellungen des Tatzelwurms.
Flugfähigkeit
Denkt man an die populärsten Drachen, den Westlichen Drachen und den Östlichen Drachen, so scheint die Flugfähigkeit ein bei allen Drachen verbindendes Merkmal zu sein. Dabei ist es nicht relevant, ob der Drache nun durch Flügel fliegen kann, oder die Fähigkeit zu fliegen von einem magischen Objekt oder Segen erhält, wie es bei den Östlichen Drachen geschieht.
Allerdings ist die Flugfähigkeit kein allgemeingültiges, bei allen Drachen vorkommendes, Merkmal, so besitzt beispielsweise die Tarasque keine Flügel und keine Flugfähigkeit, wird aber seit jeher als Drache betrachtet und erfüllt das Hauptkriterium, als reptiloides Mischwesen.
Weiter steht die Fähigkeit zu fliegen für Freiheit und spirituelle Erleuchtung, was vor allem bei den Östlichen Drachen besonders deutlich wird, bei denen nur jene Drachen fliegen können, welche diese Erleuchtung erlangt haben.
Wasserwesen
Für uns, welche die feuerspeienden Drachen der modernen Fantasy-Drachenmythologie nur allzu gut kennen, ist die erste elementare Assoziation mit einem Drachen wohl selten Wasser, jedoch werden Drachen seit der Antike mit dem Element Wasser in Verbindung gesetzt. Sei es mit Regen und Dürre (dem Fehlen von Wasser) oder einem bestimmten Gewässer, wie im Fall des italienischen Tarantasios. Andere Drachen vergiften Brunnen oder sind die Verkörperung von Flussläufen und so meist Lebensspenden.
Unter den Drachen gibt es dabei auch jene, welche nicht nur wassernah leben, sondern auch in der Lage sind Wasser als solches zu kontrollieren, wie etwa durch die Beschwörung von Regen.
Gefährliche Gewässer, wie Wasserfälle und Strudel sind daher häufig auch Heimat oder Jagdrevier eines oder mehrere Drachen.
Aber nicht alle Drachen sind mit dem Wasser in Verbindung zu setzen, so ist der germanische Drache Puk ein Hausdrache, der unabhängig von Wassern aller Art erscheinen kann.
Übernatürliche Kräfte
Wie bereits beschrieben, besitzen einige Drachen die Fähigkeit das Element Wasser nach Belieben zu manipulieren. Neben dieser übernatürlichen Kraft besitzen viele Drachen auch andere übernatürliche Kräfte, wie das bekannte Feuer speien, was einen Wyrm (Schlangenartiger Drache) von einem Schlangenwesen unterscheiden kann. Gerade bei Randgruppen wie den Wyrmen sind solche, weiteren Erkennungsmerkmale hilfreich für die genaue Bestimmung und Unterscheidung von anderen mythologischen Fabelwesengruppen.
Neben der elementaren Manipulation können einige Drachen ihre Gestalt wandeln, mit Menschen kommunizieren, Weissagung betreiben und vieles mehr.
Giftigkeit
Ein giftiger Atem oder giftige Dämpfe sind häufig bei Drachenbeschreibungen zu finden. Giftigkeit ist, wie die Flugfähigkeit, in den meisten Fällen keine übernatürliche Kraft, selbst das Speien von Gift ist auch außerhalb von Drachen in der Natur zu beobachten, wie bei den Speikobras. Dennoch kann das Gift übernatürliche Kräfte besitzen, wie eine übernatürliche Tödlichkeit, der kein Kraut und schon gar nicht ein Mensch gewachsen sei. Oder dass Drachen solche Giftmengen produzieren, dass sie Wasser verderben können.
Allerdings sind nicht alle Drachen giftig oder ihr Gift ist so schwach, dass es nicht überliefert wurde.
Drachen-Synapomorphie
Von den klassischen Merkmalen, welche die meisten bzw. alle Drachen besitzen, ist nur das Merkmal eines reptiloiden Mischwesens bei allen Drachen zu finden. Daher betrachten wir dieses Merkmal als unser Kernmerkmal, ein Wesen, dass wir als Drachen bezeichnen wollen, muss dieses Merkmal besitzen. Oder anders ausgedrückt aus Teilen von zwei oder mehr Lebewesen zusammensetzen, dabei ist es im Hinblick der "Hydren" auch möglich, dass ein Wesen sich aus mehreren Vertretern der gleichen Art zusammensetzt. Hierbei handelt es sich um Randgruppenvertreter, welche auch argumentativ als Nicht-Drachen betrachtet werden können.
Weiter wollen wir, zwecks Drachengreif-Hypothese in unserer Methodik die Körperstrukturen aller Drachen genauer betrachten. Wenn es Drachen gibt, welche ausschließlich Federntragen, wäre es ein Indiz dafür, dass Greife eventuell als Drachen zu betrachten sind. Besitzen alle von ihnen Schuppen, ist dies wiederum ein Indiz für eine Wiederlegung dieser Theorie - denn dan wären Drachen nicht nur reptiloide Mischwesen, sondern Schuppentragende reptiloide Mischwesen. Sollten sich die Greifen wiederum als Drachen entpuppen, wäre das Taxon der Drachen um einiges größer als erwartet und auch andere Geschöpfe, wie Pegasus, müssten aus rein biologischer Sicht den Drachen zugeordnet werden. Da hier auch ein reptiloides Mischwesen vorliegt.
Die Merkmale der Flugfähigket, Nähe zum Wasser, übernatürliche Kräfte und Giftigkeit sind nicht bei allen Drachen vertreten, können aber bei der Identifizierung eines Drachen, als solchen, hilfreich sein.
Neben diesen Merkmalen gibt es weitere Merkmale, welche bei einigen Drachengruppen vorkommen. So besitzen einige Drachen Vogel-Attribute (befiederte Flügel, Schnäbel, etc.), eine Rolle als Wächter von Schätzen oder besitzen einen besonderen Status, sodass manche Drachen als "Könige der Schlangen" oder "Könige der Tiere" betrachtet werden. Diese Merkmale werden uns für den weiteren Verlauf und der genaueren Unterscheidung von Drachen, innerhalb der Drachen selbst, helfen.
Quellen
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- Price, Samantha A.; Bininda-Emonds, Olaf R. P.; Gittleman, John L. (2005). "A complete phylogeny of the whales, dolphins and even-toed hoofed mammals (Cetartiodactyla)". Biological Reviews. 80 (3): 445–73. doi:10.1017/s1464793105006743. PMID 16094808. S2CID 45056197.
- Malcolm C. McKenna; Susan K. Bell (1997). 'Classification of Mammals - Above the Species Level. Columbia University Press. ISBN 978-0-231-11013-6.
- DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 8.04.2022.
- Lutz Röhrich: Drache, Drachenkampf, Drachentöter. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 3, Gruyter, Berlin/New York 1981, ISBN 3-11-008201-2, S. 788–789.
- Hans Schöpf: Fabeltiere. 1988, S. 27–64; Lutz Röhrich: Drache, Drachenkampf, Drachentöter. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 3, Gruyter, Berlin/New York 1981, S. 790; Sheila R. Canby: Drachen.