Die Nure-onna (jap. 濡女, wörtlich: "nasse Frau"), lokal auch Iso-onna (磯女; dt. "Küstenfrau") genannt, ist ein bösartiger Yōkai der japanischen Mythologie.
Merkmale
Nure-onna besitzen den Oberkörper und Kopf einer attraktiven, jungen Frau mit langen, glatten Haaren und den Leib einer Seeschlange (Hydrophiinae). Je nach Überlieferung besitzt der Oberkörper Arme oder ist armlos. Gelegentlich erscheint die Nure-onna auch als unbekleidete Frau, die ständig badet und erst ihre Schlangengestalt offenbart, wenn sie jemanden verfolgt. Diese verschiedenen Variationen stehen im Einklang mit der Verwandlungsfähigkeit dieser Kreaturen.
Der Name leitet sich davon ab, dass sie immer so aussehen, als seien sie klitschnass.
Die Angaben zur Größe variieren deutlich, manche Angaben sprechen von Menschengröße andere allein schon von einer Schwanzlänge von mindestens 3 chō (ungefähr 327 Meter).
Vorkommen
Die Nure-onna besiedelt Küsten, Flüsse und andere Gewässer vorrangig auf der japanischen Insel Kyūshū. Darüber hinaus erstreckt sich ihre Verbreitung im Norden bis in die Präfektur Niigata und im Osten bis zur Präfektur Fukushima auf der Insel Honshu.
Lebensweise
Ernährung
Nure-onna ernähren sich vampirisch von menschlichem Blut.
Obwohl Nure-onna körperlich viel stärker als Menschen sind, verlassen sie sich lieber nicht auf rohe Gewalt und wenden Tricks und List an, um ihre Beute zu fangen.
Nure-onna verkleiden sich für den Beutefang auf magische Weise als verzweifelte Frau, die ein zusammengerolltes Baby trägt (Fähigkeit des Gestaltwandels auf einer relativen hohen Spezialisierungsstufe). In dieser verwandelten Form schreien sie um Hilfe, um die Aufmerksamkeit von Fischer, Seeleute oder andere Personen, die vorbeikommen, zu erhalten. Alternativ ist nur ihr Oberkörper und der Kopf außerhalb des Wassers zu sehen. Ist die Beute nah genug, fleht die Nure-onna das Opfer an, ihr Baby für einen Moment lang festzuhalten, damit sie sich kurz erholen kann. Stimmt die Person zu und nimmt das Bündel entgegen, wird das "Baby" urplötzlich so schwer wie ein Felsbrocken. Aufgrund des Gewichts kann sich das Opfer nicht mehr bewegen, der Stein selbst kann mit einem Zauber versehen sein, der ein Wegwerfen nicht ermöglicht. Das wehrlose Opfer wird mit der langen, schlangenförmigen Zunge der Nure-onna attackiert und ausgesaugt. Alternativ wird es erst umwickelt und erdrückt.
Neben dieser Jagmethode hat sich auch eine Kooperation mit Ushi-oni etabliert. Die Spinnenstierdämon leben in derselben Umgebung und ernähren sich ebenfalls von Menschen ernähren. In diesen Kooperationen müssen die Nure-onna das Blut und die Ushi-oni das Fleisch des erbeuteten Menschen erhalten.
Bei dieser bittet die Nure-onna ihr Opfer darum, kurz ihr "Baby", das sie bei sich trägt, für sie zu halten. In dieser Phase der Ablenkung schleicht der Ushi-oni von hinten heran und versperrt den Fluchtweg, falls der Gefragte sich weigern sollte, das "Baby " in Empfang zu nehmen. Nimmt der Gefragte das "Baby" in den Arm, ruft die Nure-onna den Ushi-oni, der aus dem Meer schnellt und sich auf das Opfer stürzt. Der Ushi-oni drückt das Opfer unter Wasser und ertränkt es.
Das "Baby" ist auch in diesem Fall ein magischer, mit Tüchern umwickelter Stein.
Kulturelle Bedeutung
Darstellungen
Die Nure-onna ist unter anderem in dem Sammelwerk Gazu Hyakki Zukan (百怪図巻; Bilderrolle der hundert Monster) des Zeichners und Autors Sawaki Sūshi aus dem Jahr 1737 abgebildet. Hier ist die Nure-onna als Schlangenfrau mit nassem Haar zu sehen. In dem Sammelwerk Gazu Hyakki Yagyō (画図百鬼夜行; Bilderbuch der Nachtparade der 100 Dämonen) von Toriyama Sekien aus dem Jahr 1776 ist sie mit weiblichem Oberkörper am Ufer eines Meeres abgebildet. Beide Verfasser haben ihren Bildern allerdings keinerlei erklärende Beitexte hinzugefügt – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass das Wesen zu ihren Zeiten zwar schon länger bekannt war, sie aber nicht viel darüber zu erzählen wussten. Oder sie dachten sich, dass es aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades der Nure-onna keiner Erklärung bedürfe.
Mythologie
Der junge Priester und die Nure-onna
Eine Legende aus Präfektur Shimane erzählt von einem jungen Priester und wie er nur knapp dem Hinterhalt einer Nure-onna (in der Legende Iso-onna genannt) entkam. Dem jungen Mann war es verdächtig erschienen, dass eine Frau ihr Baby einem wildfremden Menschen einfach so regelrecht aufdrängen würde. Reflexartig warf er das Bündel zur Nure-onna. Die offenbar ihr magisches Bündel nicht verlieren darf und es somit fangen musste. Da aber die Magie des Steines auch auf die Nure-onna angewendet werden kann, versank sie im nassen Sand.
Nure-onna, Ushi-oni und ein verlässliches Schwert
Ein Mann wurde an einem Strand von einer Nure-onna und einem Ushi-oni attackiert. Eigentlich hätte es sein letztes Stündlein seien müssen, doch sein Schwert erwachte plötzlich zum Leben uns fuhr dem Ushi-oni bis zum Heft ins Genick. Mit dieser heroischen Tat wollte sich das Schwert erkenntlich zeigen, welches schon seit vielen Jahren ein uraltes Familienerbstück war. Doch dabei ging es der Familie für immer verloren. Die zurückgebliebene Schwertscheide wurde seitdem wie ein Schatz gehütet.
Nure-onna und die Burschen
An einem Flussufer an der Grenze zwischen der Provinz Echigo (heute Präfektur Niigata) und Aizu (heute Präfektur Fukushima) sammelten einige Burschen Holz. Eines ihrer Boote wurde vom Ufer fortgetrieben und die Bootsinsassen fanden bald darauf eine Frau, die sich die Haare wusch. Erst hielt die Burschen die Sache nur für ein Hirngespinst, doch als ihnen allmählich ihre Situation bewusst wurde, begannen sie in Verzweiflung schreiend ihr Boot von der Frau weg zu rudern.
Mit Mühe und Not gelang es ihnen, zu den anderen Booten zu gelangen. Als die anderen Burschen ihre kreidebleichen Gesichter sahen, fragten sie: "Habt ihr eine große Schlange oder so etwas gesehen?"
Die verängstigten Burschen entgegneten: "Etwas noch Erschreckenderes. Es war eine Nure-onna!"
Leider glaubten die anderen Burschen den ängstlichen nicht und wollten selber sehen, was dort fernab des Ufers war. Die Warnungen der verängstigten Burschen ignorierten sie.
Die Verängstigten folgten ihnen nicht und verließen die Uferregion.
Jene, die auszogen, um die Nure-onna zu finden, hörten mehrmals einen schrecklichen Schrei unter sich, ehe die gesamte Gruppe für immer verstummt war.
Trivia
- In der dritten Folge der zweiten Staffel von Dropkick on my Devil! Gehen Jashin-chan und seine Gruppe zu einer Monsterausstellung, in der Medusa sagt, dass sie wie Jashin-chan aussieht, was dazu führt das sich diese sich selbst als Nure-onna vorstellt.
Wissenschaftliche Erklärungsversuche
Es wird angenommen, dass die Nure-onna eine abgewandelte, fantastische Form der Seeschlangen ist.
Taxonomische Stellung
Nure-onna besitzen den Oberkörper einer Frau, ab den Hüften aber den Körper einer Seeschlange. Das macht sie zu einem reptiloiden Mischwesen und damit einen Drachen. Innerhalb der Drachen gehört sie der formellen Gruppe der Schlangenhüften bzw. Hüftschlangen an. Sehr wahrscheinlich steht sie damit in näherer Verwandtschaft zu den Nāga, den hier findet sich auch Schlangenhüften mit Verbindung zum Wasser.
Nachweise
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- Michael Dylan Foster: Pandemonium and Parade: Japanese Monsters and the Culture of Yokai. California Press, Berkeley 2009, ISBN 9780520253629, S. 59.
- Michaela Haustein: Mythologien der Welt: Japan, Ainu, Korea. ePubli, Berlin 2011, ISBN 3844214070, S. 55.
- Yokai.com "Nure onna" https://yokai.com/nureonna/ Abgerufen am 6.03.2024
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