Hellkus lachte abfällig auf. “Natürlich! Zum Wohle der Gemeinschaft! Bisher war sowas hier nur noch nie nötig. Wobei ich schon oft überlegte Elisabeth zu richten. Ihre nächtlichen Ausflüge zum See waren mir schon immer ein Dorn im Auge. Als Sektorand ist es nun mal meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regeln der Rea eingehalten werden. Alle! Robert habe ich aus Freundschaft schon sein Handwerk gestattet ... Ihm viel zu viele Freiheiten für seine Liebe gegeben und dafür ist er nun tot! Da sieht man mal, was man davon hat!”
Ich verstand die Welt nicht mehr. Mein Vater starb, weil er meine Mutter liebte? Und sie – wegen ihrer Gebete? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein! Sie erzählte mir zwar viel über den Glauben Zerian – leitete davon ja sogar meinen Namen ab, aber sie hatte mir nie etwas aufgezwungen oder sonst einem! Ich muss es wissen, denn ich bin schon mit zehn nicht mehr gläubig gewesen.
Ja, mit jedem Jahr wurde es nämlich enttäuschender an einen Geist Wünsche zu richten – die ja doch nie wahr wurden. Selbst als ich nur um ein kleines Zeichen bat, geschah nie etwas. Wie sollte ich also weiter daran glauben können? An etwas, das angeblich in den Monden und im Wasser lebte – kälte oder den Regen brachte? Das passierte alles willkürlich! Musste ja so sein, denn wieso sonst gab es Dürren, die ganze Felder nahmen und sogar Menschenleben? Wieso hatte es nicht einmal geregnet, obwohl ich es tagelang erflehte? Und wieso dann nicht aufgehört, als es zu viel wurde? Fluten gab?
Die Rea dagegen waren wirklich und leibhaftig. Man konnte sie tatsächlich um etwas bitten und auch ihre Wunder miterleben. Sie kamen von den Sternen. Konnten Licht in tiefster Dunkelheit hervorbringen. Wahrlich gottgleich. Sie ermöglichten uns das Leben hier. Das Leben und den Tod. Sie konnten darüber bestimmen. Einfach so. Ganz offensichtlich nicht mal ohne irgendwelche Konsequenzen. Der Glauben der Zerian war dagegen wirklich nur ein altes Ammenmärchen.
So vollkommen gedankenverloren blickte ich wieder auf und merkte jetzt erst, dass Hellkus die ganze Zeit weiter gesprochen hatte. “... da der Graf dich nun für sich beansprucht, wird es jetzt auch nicht mehr nötig sein. Dieses leidige Mondgebete endet also, hier und heute.” Verstört sah ich ihn einfach nur an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann stoppte plötzlich die Kutsche. Hastig riss ich den Vorhang beiseite und stellte schockiert fest, dass wir uns schon vor dem Anwesen befanden. NEIN! Ich schüttelte den Kopf und schlang mir die Decke bis zum Hals, als könnte sie mich vor aller Augen verbergen. Mich beschützen vor dem, was nun unweigerlich kommen würde.
“Oh doch. Wir sind da und du wirst auch aussteigen”, sprach Hellkus unbekümmert und öffnete ohne Umschweife die Tür. “Wurde aber auch Zeit!”, ertönte es sofort von draußen. O Gott! Das ist die Stimme von diesem Richard! Und gerade, als ich dies dachte, spähte er auch schon hinein. “Wie sieht sie denn aus?”, fragte er missbilligend zu Hellkus, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte. “Sie ist wieder da und in einem Stück. Ich denke, das wird Van Rotterval milde stimmen. Sanktionen gegenüber der Stadt sollten also nicht notwendig sein. Niemand hatte sie versteckt.” “Das wird er selbst entscheiden, aber sicherlich nicht mehr heute”, erwiderte Richard und entfernte sich dann von der Kutsche.
Ängstlich rutschte ich weiter in die Ecke und sah Hellkus flehend an. “O bitte! Lasst mich nicht hier!”, wimmerte ich, doch er verschränkte lediglich die Arme vor seiner Brust. Blieb stumm. “Du kannst mich doch nicht ernsthaft hier lassen! Bei diesen grausamen Leuten!” Verdammt, nein! Noch eine Flucht würde mir sicherlich nicht gelingen. Schon bei der ersten hatte ich mehr Glück als Verstand.
“Nein! Bitte nicht! NEIN! Hellkus bitte!”, schrie ich weiter, als plötzlich mir unbekannte Männer kamen und mich grob hinaus zerrten. “Fast mich nicht an! Lasst mich los! I-ich gehöre ihm nicht!” Ich wehrte mich nach Leibeskräften.
Hielt mich krampfhaft am Fenstervorhang der Kabine fest. Vergeblich. Der Stoff zerriss.
“Schweig!”, rief jemand und dann spürte ich einen schmerzlichen Schlag in die Seite, der mir fast die Besinnung raubte. Völlig fertig wurde ich auf den pompösen Vorplatz gezogen und musste den Leuten gegenüberstehen, denen ich doch gerade erst heute Morgen entkommen war. Ganz vorne stand Richard, der Haus- und Hofmeister in seinem dunklen zugeknöpften Anzug. Daneben diese verrückte Dagmar, die mich mit ihren strengen Blicken regelrecht zu erdolchen schien. O Gott! Bei ihrer Brautkleidanprobe war ich aus dem Fenster geklettert. Das schien sie mir sichtlich übel zu nehmen.
“Grundgütiger! Wie sieht sie denn aus?!”, sprach die alte Frau schließlich mit mürrischer Miene und musterte mich erneut sorgfältig von oben bis unten. “So kommt sie mir nicht ins Haus! Bei Adel und Hofe! Mehr Tier als Mensch, ungeheuerlich! Bringt sie zu den Stallungen und säubert sie, wie jedes Nutzvieh. Gründlich!”, sprach sie aufgebracht und wedelte sich Luft mit einem kleinen violetten Handfächer zu. Richard nickte grimmig, drehte sich herum und machte ein Handzeichen, dass man ihm folgen sollte. Die beiden Männer, die mich noch immer unerbittlich festhielten, gehorchten auch prompt und trugen mich hinterher. “Richard, eins noch!”, rief Dagmar mit einem Mal und raffte ihr bauschiges Kleid, um uns nach zu eilen. “Lasst noch nach Wilhelm schicken. Er soll bei dem Mädel die Reinheit bescheinigen. Bei ihrem Äußeren halte ich es für angebracht.” “Gewiss”, antwortete er mit einem angedeuteten Knicks und Schritt weiter. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mitschleifen zu lassen. Aus dem Augenwinkel sah ich noch die Kutsche losfahren. Hellkus, wieso nur?
*
Mein unfreiwilliger Weg führte vorbei an geschnittenen mannshohen Hecken sowie massiven Steinskulpturen. Der schwache Schein der Lampen ließ dabei alles sehr bedrohlich wirken. Erzeugte unheimliche Schattenspiele. Verzweifelt suchten meine Augen nach einem möglichen Versteck oder einem Fluchtweg für später. Aber, es war schwer, etwas Genaueres auszumachen. Verdammt, ich muss etwas finden! Hierbleiben konnte ich auf keinen Fall!
Wie besessen prägte ich mir jedes Detail des Weges ein. Jede Biegung, jeden Baum, Strauch, Stein – was auch immer. Als ich dann tatsächlich einen Stall ausmachte, schluckte ich schwer. Sie bringen mich wirklich zu den Pferden und nicht ins Haus? Ich dachte, die alte Schachtel sagte dies nur, um mir Angst zu machen. Ich bin doch kein Tier!
“Macht sie fest”, sprach Richard eisern und zeigte zu einigen Pfosten, wo zu meinem Entsetzen bereits ein Mädchen angebunden war. Nackt. Sie hockte halb aufgerichtet auf Knien und hing kraftlos in den Seilen, die man ihr um die Handgelenke gebunden hatte. Ihr Körper war übersät mit diversen roten Streifen sowie deutlich ältere Narben. Ein breites flammenähnliches Brandmal zierte zudem ihren Rücken. O Gott! Was lief denn hier ab?
“NEIN! Was habt ihr mit mir vor?! Hört auf!”, schrie ich los und fing an zu zappeln. Richard drehte sich sofort herum und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. “Schweig! Besitz hat erst auf Anweisung zu sprechen.” “Ich gehö–”, begann ich meinen Satz und fing mir gleich noch eine ein. Viel stärker als die Erstere. Meine Wange glühte und auch die Tränen ließen sich nicht mehr länger zurückhalten. Das war alles zu viel für mich. Nur verschwommen sah ich, wie man mich weiter trug. Schmerzhaft wurde an meinen Armen gezerrt. Ich spürte den wachsenden Druck um meine Handgelenke. O Gott! Ich wurde wie ein wildes Tier fixiert. Raue Stricke schnitten in meine Haut.
Was sind das nur für Menschen? Wieso tun sie mir sowas an? Oder dem deutlich jüngeren brünetten Mädchen neben mir? O Gott! Ich kenne sie! Das ist das Zimmermädchen, welches mir die Kleider in die Umkleide gereicht hatte. Wieso taten sie so etwas fürchterliches ihren eigenen Leuten an?
“Johanna, büßt für ihre Unachtsamkeit, dein Verschwinden erst so spät bemerkt zu haben”, sprach Richard, der sich vor mir gestellt und wohl mein bestürztes Gesicht mitbekommen hatte. Er schritt sogar noch zu ihr und zog ihren Kopf an den Haaren hoch. “Stimmt’s, Johanna? Das wird dir nicht noch einmal passieren, oder?” Sie nickte hastig, bevor ihr ängstlicher verweinter Blick zu mir schweifte. Richard umfasste plötzlich ihren Hals und drehte sie wieder zu sich. “Was wird das? Ich habe dir noch nicht gestattet, von mir wegsehen zu dürfen. Wie kannst du es wagen, weiter so respektlos zu sein?” Sie keuchte und rang sichtlich nach Atem in seinem Griff. Der bringt sie ja glatt um!
“Lass sie los! Sie hat doch gar nichts gemacht!”, brüllte ich ihn an – was mir dann leider seine volle Aufmerksamkeit einbrachte. Und einen erneuten Hieb ins Gesicht, aber das war in Ordnung. So konnte Johanna immerhin wieder atmen. Richard blieb indes vor mir stehen und wartete scheinbar darauf, dass ich noch etwas sagte. Seine Hand hielt er drohend erhoben. Am liebsten hätte ich ihm jetzt ins Gesicht gespuckt, um meine Ablehnung deutlich zu machen – verkniff es mir aber.
Da ich ihm nichts entgegengebrachte, lächelte er schließlich zufrieden und nahm dann einen größeren Abstand zu mir ein. “Fangt an!”, befahl er mit einem Mal und ehe ich mich versah, packten grobe Hände nach meiner Kleidung. Gott! “NEIN!”, schrie ich voller Pein auf, als sie mich entblößten. “Nein! Bitt–” zu mehr kam ich nicht, da Richard mir abermals ins Gesicht hieb. Schwindel fegte jede Scham aus meinem Körper und nahm auch die Kraft aus meinen Beinen. Blut schmeckte ich auf meiner Zunge. Kein Zweifel – ich war in der Hölle.
Das grauenhafte Ziehen an meinen Handgelenken, zwang mein Körper dann doch wieder Fuß zu fassen. Gleich verschwand dieses pochende Gefühl. Anders als Johanna war ich nicht so tief angebunden worden, dass ich mich auf den Knien abstützen konnte. Nein, ich musste fast aufrecht stehen, um diesem Schmerz zu entgehen. Andernfalls würden sicherlich meine Hände absterben.
“Ich will kein Wort mehr von dir hören”, sprach Richard finster und demonstrierte mir seine Überlegenheit, indem er nun mir die Kehle zudrückte. Tränen flossen aus meinen Augen, aber nicht weil ich Angst davor hatte, dass er mich wirklich tötete. Nein. Dies würde ich sogar begrüßen. Vielmehr weil ich wusste, dass er mich am Leben ließ. Er mich nur zum Spaß quälte. Es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Jedes weitere Wort, würde ihn weiter anstacheln. Ich schwieg also. Bemerkte nur am Rande, wie auch das letzte bisschen Stoff von meiner Haut verschwand. Anschließend ließ Richard von mir ab und entfernte sich, worüber ich irgendwie dankbar war.
Plötzlich klatschte eine Ladung Wasser gegen meinen Rücken und ließ mich erschrocken aufschreien. Ich biss sofort die Zähne zusammen, als der erste Schock verflog. Ich wollte diesen sadistischen Bastard nicht gleich wieder zu mir locken.
“Macht es ja gründlich Emeli oder du kannst Johanna Gesellschaft leisten”, hörte ich Richard und sofort trat eine Frau in einem schlichten braunen Dienstkleid an mich heran. “Bitte, verzeiht”, flüsterte sie besorgt und schüttete mir sogleich einen Eimer Wasser über den Kopf. Ein zweiter wurde ihr gereicht, welchen sie ebenso über mir entleerte. Sie ist also da um mich von dem ganzen Schlamm zu säubern? Hier? Das ist doch abartig!
Ihr schien das auch nicht sonderlich zu gefallen. Jedenfalls glaubte ich, ab und zu Mitleid in ihren Augen zu erkennen. Sie zögerte jedoch keine Sekunde, um mich mit Seife einzuschäumen. Nicht mal, als sie meine Brüste wusch oder den Bereich – zwischen meinen Beinen. Jetzt wurde mir das plötzlich wieder unglaublich peinlich, auch wenn sie zügig und oberflächlich arbeitete. Gott! Ich versuchte, ihre Berührungen auszublenden. Versuchte zu vergessen, wo ich war. Aber, es ging nicht. Ich hörte die umstehenden Männer leise Lachen. Wusste, dass sie meinen nackten Körper begafften. Es war mir zuwider.
“Achtung, es wird noch einmal kalt”, flüsterte Emeli, bevor sie Wasser über meinem Rücken schüttete. Ich stutzte. Dass es kalt sein sollte, fühlte ich nicht. Eigentlich gar keine Kälte, fiel es mir gerade auf – dabei war doch heute solch kalte Herbstnacht gewesen. Bin ich schon so erschöpft, dass ich es nicht mehr spüren konnte? Schon so erfroren? Aber, wieso kann ich denn alles andere deutlich fühlen? Jede Berührung von dieser Emeli – auch das weiche Handtuch, welches sie nun über meine Haut tupfte.
“Ich bin fertig, werter Herr”, sprach sie schließlich und entfernte sich sogleich von mir. “Gut. Geh, bereite ihr Zimmer vor und informiere auch die Hadeza Dagmar.” “Sehr wohl”, erwiderte sie und schritt nach einem tiefen Knicks davon. “Darf ich sie dann jetzt ansehen?”, fragte nun eine deutlich ältere Stimme direkt hinter mir. Schnell warf ich einen besorgten Blick über meine Schulter und sah so halbwegs einen weiß gekleideten Mann.
“Natürlich. Ihr habt ihn gehört. Spreizt ihre Beine”, sprach Richard und trat wie auch weitere Leute zu mit. Um was zu tun?! Beine spreizen? O nein! “NEIN!”, kam es ganz automatisch aus meinem Mund, als raue Hände an meinen Hintern fassten. Danach blieb mir nur noch panisch nach Luft zu japsen, weil Richard mir erneut den Atem nahm. Unerbittlich meine Kehle quetschte.
“Aber, aber. Meine Herren. Solch Gewalt ist nicht nötig”, sprach der Fremde und dann piekte etwas in meinen rechten Arm. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich, wie er mir blitzschnell eine gelbe Flüssigkeit spritzte. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber aus meinem Mund kamen nur abgehackte Wortfetzen. Mein Gezappel erlahmte. Ein Gefühl von Ohnmacht überkam mich und dann wurde alles schwarz.