-‡Johannas Sicht‡-
Ich sah Feuer. Wahrhaftig eine Flamme auf meiner Handfläche tanzen, ohne, dass ich mich daran verbrannte. Das war verrückt, verwirrend, faszinierend, unheimlich und doch – vertraut. Ich hatte dieses Bild schon einmal gesehen. Genau dieses kleine Feuer auf meiner Hand, aber ich erinnerte mich nicht. Nicht wirklich zumindest. Es war mehr ein unverständliches Raunen. Ein seltsames Gefühl, dass sich nicht beschreiben ließ und je länger ich auf das glühende Weiß-Rot starrte, desto stärker wurde es.
“Ich habe es dir verboten!”
Ich zuckte zusammen. Blickte verwirrt von meiner Flamme auf und sah – Dunkelheit. Um mich herum war absolut nichts mehr zu erkennen. Wo war plötzlich der Flur hin? Und. Was war das für eine verzerrte Stimme?
“Zerian?”, fragte ich beunruhigt und senkte meine Hand, löschte das Feuer. Umgehend stand ich in einem Meer aus Schwarz. Gänsehaut bereitete sich auf meinem gesamten Körper aus. “Zerian? Wo bist du?!”, rief ich weiter ins Leere, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Hilfe. Angst drohte mich zu übermannen. Schnell erhob ich erneut den rechten Arm und entfachte ein Licht.
“Es ist wunderschön.”
Ich fuhr herum. Diesmal war die Stimme deutlicher und bei weitem nicht so tief. Ein Kind. Ich hatte unverkennbar ein Kind gehört, aber hier gab es außerhalb meines Lichtkegels nichts als Finsternis. Was war das hier nur für ein befremdlicher Ort? Ein Traum?
Plötzlich tauchte vor mir eine schemenhafte Gestalt auf und umfasste grob meine Kehle. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich dabei um Richard handelte – er mich zu erwürgen versuchte. Aber wieso? Er war tot!
“Willst du mich immer noch verärgern? Du sollst DAS doch nicht machen!”, schimpfte er und drückte mir brutal die Luft ab. Sofort wallte Panik in mir. Verzweifelt schlug ich nach ihm und – weg. Schwer hust-keuchend sackte ich zu Boden. Was war bitte das gewesen? Richard verschwand genau in dem Moment, als ich nach ihm greifen wollte. Er löste sich in rotglühendem Nebel und wurde anschließend eins mit der Dunkelheit.
“Es ... ist nicht echt ...”, flüsterte ich atemlos und berührte gleichzeitig meinen Hals. Die Stelle schmerzte. Für einen Traum oder bloße Einbildung hatte es sich aber verdammt echt angefühlt. War das jetzt wieder etwas von Zerian? Ein fauler Zauber? Wie nannte er es noch? Verborgene Erinnerungen?
Vollkommen ratlos starrte ich ins Nichts. Unschlüssig, ob ich das Feuer, welches bei dem Handgemenge ausgegangen war, erneut entfachen sollte. Würde Richard abermals erscheinen? Mich angreifen? Und überhaupt – wie kam ich hier wieder raus?
Plötzlich wurde es hell. Ich blickte erschrocken auf und sah ein grelles Licht, welches seltsamerweise nicht in den Augen brannte. Es schwebte einige Meter vor mir in der Luft und bei genauerem Betrachten, handelte es sich um dieselbe weiß-rote Flamme, die ich zuvor erschaffen hatte. Verunsichert stand ich auf und wartete. Kam jetzt der nächste Schrecken?
Beunruhigt schaute ich umher, aber nichts passierte. Schließlich näherte ich mich langsam dem kleinen Feuer, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Bei jedem Schritt hielt ich jedoch kurz inne, da sich merkwürdige orangene Nebelschwaden bildeten. Erst undefiniert, aber dann formten sich klare Umrisse. Teile eines edlen Tisches, ein hoher Lehnstuhl und letztlich – ein Kind. Ein kleines Mädchen mit langen Haaren in einem kurzen Kleidchen saß da und in ihrer Hand befand sich die Flamme, welche sie wie gebannt anstarrte.
Verblüfft ging ich einmal um diese Erscheinung herum – fuhr prüfend mit der Hand hindurch. Es fühlte sich überraschend warm an, war aber im Gegensatz zu Richard tatsächlich nichts weiter als ein Trugbild. Durchlässig. Ohne feste Struktur.
“So schön”, murmelte auf einmal das Kind und streichelte andächtig über die flackernde Spitze. “Wer bist du?”, fragte ich, aber sie reagierte nicht darauf. “Wo bin ich hier?”, versuchte ich es weiter, mit dem gleichen Ergebnis. Seltsam. Sollte ich das vielleicht sein? Ich hatte jedenfalls keinerlei Bezug zu dieser Erinnerung – wenn es denn eine war.
Das Geräusch einer Tür drang an meine Ohren. “Bist du schon fertig?”, fragte eine Stimme, die ich überall erkennen würde. Richard! Mit rasendem Herzen suchte ich nach ihm – fand aber nichts.
Das Mädchen wiederum drehte den Kopf und streckte die Hand mit der Flamme nach vorne. “Sieh mal! Das hab ich gemacht, ist es nicht schön?” Ich hörte Schritte und dann tauchte Richard mitten aus der Dunkelheit auf. Er stellte sich dicht an ihre Seite und blickte liebevoll auf sie herab.
“Ja, sehr hübsch, aber was ist mit deinem Essen? Du hast ja gar nichts angerührt.” “Oh ... ja, ich hatte keinen Hunger.” “Du musst dennoch essen, das ist wichtig. Du machst alles genau so, wie ich es dir gesagt habe. Die Medikamente sowie die Nahrungsmittel stets zur angegebenen Uhrzeit.” “Ich weiß, tut mir leid.” Er streckte einen Arm vor. “Komm jetzt. Es ist Zeit für dich zu schlafen.” Sie lächelte, ließ das Feuer verschwinden und griff nach seiner Hand. “Spielst du dann morgen mit mir, so wie du es versprochen hast?” “Natürlich, meine Süße.” Er zog sie anschließend mit sich ins Schwarze. Ich blieb zurück. Blickte verwirrt auf die Stelle, wo beide verschwanden.
“So schön.” Ich zuckte augenblicklich zusammen und drehte herum. Das Mädchen saß wieder am Tisch und starrte auf die Flamme. Aber. Wieso? Was sollte das? Auch die Tür hörte ich erneut. “Bist du schon fertig?”, fragte Richard und trat aus dem Schatten, als die Kleine ihm das Feuer zeigte. Und es ging weiter, bis sie sich wieder auflösten. Alles war exakt gleich. Warum? Ich verstand es nicht.
“So schön.” Noch einmal? “Warum sehe ich das? Was will mir dieser Moment zeigen?” Schweigen. Sie reagierte nicht und es passierte genau dasselbe, wie zuvor. Richard kam und nahm sie anschließend mit. Viermal. Fünfmal. Nach dem zehnten Durchlauf hörte ich auf zu zählen.
*
Ich kam wirklich nicht dahinter, was hier passierte, und mittlerweile war ich es mehr als nur leid, mir diese Abfolge immer und immer wieder anzusehen. Ich fand keinen Sinn dahinter und selbst wegzugehen brachte keine Erlösung. Egal wie viele Schritte ich in die Dunkelheit machte, der Tisch mit dem Kind entfernte sich keinen Meter. Blieb konsequent hinter mir. Es war zum Verrücktwerden!
“Was willst du von mir?”, fragte ich schließlich resigniert und setzte mich neben dem Mädchen auf den Boden. Ich fühlte mich seltsam erschöpft und wollte nur noch hier raus. Wieso ließ sie mich nicht gehen?
“Bist du schon fertig?”, fragte Richard nun bestimmt schon zum hundertsten Male und schritt wenig später an mir vorbei. Es interessierte mich eigentlich nicht mehr, aber etwas fiel mir dann doch auf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Die anfängliche Freundlichkeit fehlte – richtig hasserfüllt blickte er jetzt auf die Kleine. Ich verstand nur nicht warum. Hatte es überhaupt eine Bedeutung?
“Wieso?!”, schimpfte er plötzlich und packte das Mädchen grob am Arm – zog sie auf die Füße. “Wieso machst du das immer noch?” “Ahh! Du tust mir weh!” “Komm jetzt mit! Ich werde dir diesen Unsinn endgültig austreiben!”
Verstört sah ich ihnen nach, aber wirklich Zeit darüber nachzudenken hatte ich nicht. Kaum verschwanden die geisterhaften Konturen – fiel ich. Wortwörtlich. Der schwarze Boden unter mir gab nach und dann klatschte ich auch schon ins Wasser – wurde vollkommen davon umschlungen. Ich konnte nichts erkennen, fühlte aber den unverkennbaren Druck auf meinem Körper. Panisch strampelte ich und suchte mit aller Kraft nach der Oberfläche – fand aber keine. Luft. Ich brauchte Luft! Drohte zu ersticken. Musste atmen!
Verzweifelt riss ich schließlich den Mund auf und – nichts Schlimmes passierte. Das Wasser war schlagartig weg. Ich stürzte. Landete schmerzlich auf hartem Untergrund. Vor Schock über das gerade erlebte rollte ich mich zusammen. Keuchte. Heulte. Das war einfach zu viel für mich.
“So schön.” Ich stutzte und lugte zwischen meinen Armen hindurch. Der Tisch. Dieser verdammte Tisch samt Stuhl, Kind und der Flamme stand wieder vor mir. Was zur Hölle?
Ich rappelte mich zittrig auf. “WIESO BIN ICH HIER!”, schrie ich und fuhr aufgebracht durch das orange Nebelbild. “LASS MICH RAUS!” Obwohl ich eigentlich keine Reaktion erwartet hatte, hob sie den Kopf und blickte mich an. Das Feuer in ihren Händen verschwand und vereinzelte Tränen kullerten über ihre Wangen. Konnte sie mich also doch hören und sehen?
“Bist du schon fertig?”, fragte Richard und tauchte hinter ihr auf. “Hat das eine Bedeutung?”, erwiderte sie und hielt ihre traurigen Augen weiterhin fest auf mich gerichtet.
“Wie bitte?” Er umfasste die Stuhllehne und beugte sich vor. “Du wirst nicht mit mir spielen, nicht wahr? Nichts wird je passieren. All diese Mittel, die ich nehmen soll ... sind nicht gut”, flüsterte sie und faltete die Hände zusammen, als würde sie beten.
“Was soll das werden, Johanna? Wovon sprichst du?” Ich runzelte die Stirn. Die Kleine sollte also doch ich sein? “Das Feuer hat mir die Wahrheit gezeigt”, antwortete sie und entfachte im selben Zuge erneut eine Flamme. Richard verzog sofort das Gesicht, holte aus und gab ihr eine schallende Ohrfeige, die sie regelrecht vom Stuhl fegte.
“DU WAGST ES?!”, brüllte er und schleuderte das Möbelstück aus seinem Weg. “Wieso, WIESO kannst du das immer noch?!” Er schritt wutentbrannt auf sie zu und obwohl ich am ganzen Leibe zitterte, stellte ich mich entschlossen in seinen Weg.
“Lass sie in Ruhe!”, rief ich, doch sein Abbild interessierte das herzlich wenig. Er ging einfach durch mich hindurch. Natürlich. Was hatte ich auch erwartet?
“Du hast mir zu gehorchen! Du tust, was ich sage, wenn ich es sage! Ich habe dich nur für dieses Zeck gemacht!”, blaffte er das Kind an und wollte nach ihr greifen, aber – er schreckte zurück. Sie fing Feuer. Lodernde Flammen züngelten plötzlich aus ihrer Haut und verbrannten knisternd den Stoff ihres Kleides. Rot glühende Augen starrten uns an, während die umliegende Dunkelheit Stück für Stück von dem roten Licht verdrängt wurde. Das zu sehen hätte mir vermutlich Angst machen sollen – tat es aber nicht. Sie strahlte eine Wärme aus, die mich wie eine liebevolle Umarmung umschloss. Angenehm. Vertraut.
“Ich ... gehöre ... nicht ... zu ... dir”, sagte sie in einer unmenschlichen Stimme, die mir sofort durch Mark und Bein ging. Richard krabbelte rückwärts, rief irgendetwas Unverständliches und löste sich anschließend in Nebel. Ich blieb allein mit ihr – mit der immer größer werdenden Feuersbrunst. Sie erfüllte mein ganzes Sichtfeld. Ein Meer aus rot, weiß und gelb. Wunderschön.
Ein Wimpernschlag später, badete ich allerdings nicht mehr in diesem herrlichen Schein, sondern versank in tosenden Wassermassen. Ich ging erneut unter. In kalten finsteren Tiefen. Ein übermächtiges Rauschen kreischte in meinem Kopf. Unaufhörlich wuchs der Druck von allen Seiten. Alles drehte sich. Die Bedeutung von oben und unten vermischte sich in einem absurden Strudel. Ich fiel. Ich schwebte. Ich flog. Alles zusammen und doch nichts davon. Wellen schlugen gegen meinen Leib. Schleuderten mich hin und her, gleich einem Spielball. Das Gefühl zu ertrinken umfasste meine Lungen und dann – nichts. Die Folter hörte abrupt auf und ich landete auf hartem Boden. Hektisch atmend kämpfte ich gegen den Schwindel, der mich zu übermannen drohte und blickte anschließend verunsichert umher. Würde das jetzt ewig so weitergehen? Bis was? Ich zusammenbrach? Oder aufgab? Den Verstand verlor?
Die Antwort: wahrscheinlich. Es fehlte definitiv nicht mehr viel. Allein schon körperlich war ich längst an meine Grenzen gestoßen und als sich erneut orange Umrisse bildeten, nahm die Verzweiflung mich vollends ein. Ich konnte und wollte nicht mehr.
Jedoch – statt dem üblichen Tisch mit Stuhl und meinem früheren Ich, zeichnete sich etwas anderes in dem Schwarz ab. Langsam stand ich auf und berührte vorsichtig die glatte Fläche vor mir, die fast nach einem Spiegel aussah. Was kam jetzt? Eine Kammer?
O Gott, ja! Ich war eingesperrt! Der Nebel fest wie eine Mauer – hielt mich in eine Art Kasten gefangen. Nur noch knapp einen Meter Platz hatte ich.
“Sie bricht immer noch nicht.”
Ich hielt den Atem an. Versuchte, mein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Lauschte.
“Ich kriege das Element nicht unterworfen.”
Richards Stimme! Er klang zwar dumpf und leicht hallend, aber er war es eindeutig.
“Nein, verdammt! Geht es eben nicht!”
Ich zuckte erschrocken zurück, jedenfalls soweit es in diesem winzigen Raum ging, als plötzlich seine widerliche Erscheinung auf der anderen Seite der Spiegelfläche auftauchte. Er legte eine Hand auf den Nebel zwischen uns und sah mich unergründlich an.
“Nein. Da kannst du klonen, so viel du willst. Es gibt immer nur einen, der letztlich funktioniert, aber das Grundproblem besteht weiterhin. Du kannst es nicht kontrollieren. Ich mach es jetzt anders”, sagte er und ein lautes Geräusch ertönte, welches ich nicht zuordnen konnte. Dann allerdings floss eiskaltes Wasser um meine Füße und mit einem Mal wusste ich, was das hier war. Eine Forschungskapsel – ein Test. Ich erinnerte mich. Das hier. Genau DAS war der Anfang meiner Alpträume. Der Beginn der Dunkelheit.
Die Flüssigkeit stieg und stieg. Schwappte mir bereits bis zum Kinn. Nichts konnte ich dagegen tun. Ich würde ertrinken, das wusste ich sicher. Sterben. Wieder einmal. Einen Teil von mir verlieren, genauso wie früher. Und darum ging es hier eigentlich. Ich hatte etwas verloren. Vergessen. Mich vergessen.
Und dann umschloss das Wasser mich vollständig. Kein entkommen. Keine Luft. Ertrinken. Es gab nichts Schlimmeres als das. Panisch schlug ich mit der Faust gegen mein Gefängnis – wollte mich befreien. Ohne Erfolg. Und Richard? Er sah es – blickte durch das Glas und beobachtete meinen Todeskampf. Nur verschwommen konnte ich sein Gesicht erkennen, aber es spielte ohnehin keine Rolle. Es war lediglich eine alte Erinnerung. Was er getan oder sagte hatte – bedeutungslos. Er war tot. Ich hielt inne. Er war tot. Zerian hatte mich doch schon befreit – wovor hatte ich jetzt noch Angst?
Das Wasser würde mir nie wieder etwas antun. Zerian war doch das Wasser. Richtig. Er beschützte mich. Auch hier. Ich konnte es spüren. Sehr deutlich sogar, als ich mich endlich von dieser unsäglichen Furcht trennte – mein Herz aus den Fängen der Panik riss.
Mein Verstand wurde seltsam klar. Meine hektischen Bewegungen erlahmten, aber diesmal nicht, weil die Kälte meine Muskeln betäubte oder weil ich keine Luft mehr bekam – nein. Ich konnte atmen. Alles war in Ordnung und ich glaubte zu verstehen. Mein Leben zu begreifen – irgendwie.
Langsam führte ich meine Arme nach vorne und starrte auf meine Hände. Feuer. Ich konnte es. Ich musste nur daran denken. Genau. Erst kringelten sich kleine Flammenzungen um meine Finger, dann schlängelte es über meinen gesamten Körper. Die Hitze raste ungebremst durch meine Adern. Glühendes Leben durchströmte mich vom Scheitel bis zur Sohle. Unglaublich. Wundervoll.
Ich war das. Etwas Mächtiges, was sich nicht in Worte fassen ließ. Ob nun eine Sklavin oder Zar’Rea Johanna Aschengard. Ich war all diese Erinnerungen und das, was noch kommen würde. Frei von Angst. Gehüllt in Licht. Umgeben von Wasser. Und das erste Mal überhaupt – uneingeschränkt glücklich deswegen.