-‡Johannas Sicht‡-
<... täusche dich. Das ist aber nicht wahr.> Die Stimme von Heka war das Erste, was ich hörte. Benommen blinzelte ich einen hellblauen Sternenhimmel an. Ein wunderschönes Deckenbild, welches mir schon das erste Mal den Atem geraubt hatte. Erleichterung durchflutete meinen Körper. Ich bin also wieder im Schlafzimmer – wurde nicht verkauft oder zu meinem Meister zurückgebracht.
“Lass gut sein, Heka. Wer weiß schon, was du alles hinter meinem Rücken machst oder besser ... gemacht hast”, sagte Reznick spöttisch, klang ganz danach, als würden sie sich streiten. Schläfrig rieb ich mir übers Gesicht und stutzte, als einige Haarsträhnen mir ins Auge pieksten. Sie sind nachgewachsen? Wie lange hatte ich denn in diesem künstlichen Schlaf gelegen?
<Ich handle stets nur in deinem Interesse. Zu deinem Wohlergehen. Reznick, ich kann deinen Unmut zwar verstehen, aber er ist unbegründet.> “Ohh nein. Komm mir nicht auf die Tour! Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!” Ein Streit. Zweifelsohne. Verwunderte mich aber nicht im Geringsten. Er war immerhin so sauer gewesen, als sie ihn betäubte. Richtig zum Fürchten. Warum, verstand ich allerdings nicht. Traumloser, ruhiger Schlaf war mir lieber als alles andere. Ich habe mich noch nie davor gefürchtet, betäubt zu werden – vor dem Aufwachen hingegen schon. Sanft strich ich über den weichen Stoff des Lakens. Es gab nur sehr wenige Momente in meinem Leben, an denen ich friedlich aufgewacht war. Oder mich in einem weichen und warmen Bett befunden hatte.
Mein Blick ging zur Seite. Auf dem Nachttisch lag mein Stern. Heka hatte ihn tatsächlich rot gefärbt. Ich lächelte und griff nach meinem flauschigen Geschenk – drückte es fest an meine Brust. Meine Kopfschmerzen waren auch verschwunden, genauso, wie sie es versprochen hatte. Heka war wirklich eine tolle Adelstechnik.
<Du fühlst dich hintergangen und manipuliert. Aber völlig ohne Grund. Ich habe dir nie etwas vorenthalten. Also nichts, was für dich von großer Wichtigkeit gewesen wäre.> “Spar’s dir, Heka.” <Wieso? Du bist wütend auf mich und das möchte ich nicht. Ich will, dass es dir gut geht. Immer.> Reznick schnaubte abfällig. Kurz darauf hörte ich seine Schritte ganz in meiner Nähe.
Langsam richtete ich mich auf und blickte ihm entgegen. Ich musste gleich zweimal hinsehen, um ihn in dieser unheimlichen dunklen Rüstung zu erkennen. Er sah aus, als wollte er in eine Schlacht ziehen. Nein, viel mehr in sein Verderben. Leicht gräulich wirkten die sonst so braunen Augen. Seine Miene glich dem eines Sklaven, den man völlig zu Unrecht zum Tode verurteilt oder gefoltert hatte. Schmerz und Angst – versteckt hinter jeder Menge Wut.
“Was ist passiert?”, fragte ich vorsichtig, als er da nur so seltsam am Bettende stand und mich gründlich musterte. “Weißt du, wer du bist?”, erwiderte er monoton, was mich verwirrt die Stirn runzeln ließ. Wie lange hatte ich denn bitte geschlafen? Ich wusste natürlich von den möglichen Erinnerungslücken bei einer längeren Stase. Viele Sklaven erlitten solche Schäden während des Transports. Aber, ich fühle mich gut.
“Ja, ähm ... Johanna. Warum fragst du?” Sein Blick glitt kurz zu meinem Plüschstern. “Unwichtig. Du solltest dir allerdings eine andere Bleibe suchen. Schnellstens.” Er drehte herum – schnappte sich einen dunkelblauen Umhang aus dem Schrank.
“Andere Bleibe?”, echote ich schockiert und krabbelte hastig vom Bett. Eilte zu ihm. “Heißt, ich-ich muss gehen? A-aber wieso? Heka hat gesagt, ich darf bleiben! Sie war so nett zu mir. Sagte ... ich gehöre zur Familie.” Er reagierte nicht. Sah mich nicht einmal an. Warf lediglich den Stoff über seine Schultern und Schritt an mir vorbei. Verstört lief ich ihm nach.
“Warum? Warum schickt Ihr mich zurück zu meinem Meister?”, fragte ich panisch, denn genau das bedeutete es, wenn er mich jetzt verstieß. “I-ist es wegen meiner Unreinheit? Kann-kann man es denn nicht irgendwie rückgängig machen?” Ich stellte mich direkt in seinen Weg. Er hob eine Augenbraue. “Wovon sprichst du?” <Sie redet davon, dass Richard sich gemeldet hat und mitteilte, dass sie nicht Eure Frau sein kann. Er hat ihren Genpool beschädigt.> “Ah ja, noch etwas, von dem ich nichts weiß?”, grummelte Reznick, umfasste meine Oberarme und lächelte freudlos. “Und du, Johanna, woher willst du eigentlich wissen, dass es stimmt, he? Glaubst du alles blind, was sie sagt, ja? Wie naiv bist du? Du dumme Marionette. Geh mir aus den Augen!” Sein Griff wurde schmerzhaft und dann stieß er mich einfach zur Seite. Ich stürzte durch den Schwung und landete unsanft auf meinem Hintern.
<Reznick! Das ist absurd! Nichts enthalte ich dir vor! Ich habe lediglich ihre beschädigten Speicherchells repariert und anschließend einen Kommunikator implantiert. Was willst du sonst noch von mir hören? Dass ich einige inhaltslose Sprachnachrichten im Angebot habe? Dass sich Ludwig bezüglich der Leichen im Hangar meldete? Er dir eine Rechnung ausstellte? Seit wann interessiert dich derart Belangloses? Ich handle nur nach deinen Richtlinien. Deinen Vorgaben. Du wolltest nur relevante Informationen und die hast du von mir bekommen. Unwichtiges und Alpträume, die dir den Schlaf kosten oder Willensspiele von deinem Vater zählen definitiv nicht dazu!> “Damit habe ich dir aber nicht gestattet, mir irgendwelche Erinnerungen zu nehmen!” Er raufte sich frustriert die Haare, während ich nur verwirrt am Boden hockte und die Welt nicht mehr verstand.
<Es war nur zu deinem Besten!> “Ich fass es nicht, dass ich mich überhaupt noch mit dir unterhalte”, sprach er zornig und ging, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an mir vorbei. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte – tun sollte. Die Situation überforderte mich. Gedankenverloren blickte ich auf den kleinen roten Stern, den ich immer noch fest in einer Hand hielt. Was war bloß passiert in meiner Zeit des Schlafens?
Einen Moment später knallte es plötzlich ohrenbetäubend, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Mein hektischer Blick fand Reznick, der vor einer freien Wandfläche stand und mit gestrecktem rechten Arm ein Stück weit von sich auf den Boden deutete. Auf ein kreisförmiges schwarzes Loch, von dem aus feine Rauchfäden emporstiegen. War das etwa gerade eine Explosion gewesen? Langsam drehte sich Reznick. Seine Hand deutete nun mitten in den Raum hinein.
“Öffne die Tür, Heka, andernfalls wird der nächste Schuss deinen Kern treffen”, sprach er gefährlich dunkel, was mir umgehend einen kräftigen Schauer verpasste. Meine Augen suchten eine Waffe, fanden aber keine. Wie und mit was hat er da geschossen? Irgendeine Adelstechnik?
<Ich halte es immer noch für unklug, dich in diesem Gemütszustand gehen zu lassen. Passt bitte auf dich auf und fall deinem Vater nicht in die Hände.> Nach Hekas Worten bildete sich an der Wand der leuchtende Umriss einer Tür. Dort war also der Ausgang. Das hatte ich völlig vergessen.
“Tz! Wehe, wenn die Tasche nicht hier ist, oder sonst kein Anzeichen von Dezeria, dann werde ich dich eigenhändig einschmelzen. Das schwöre ich dir!”, knurrte Reznick und stellte sich in den Türrahmen. “Und ... Johanna?” “J-ja?” “Frag die liebe Heka doch einfach mal, ob sie deinen EP-141 drin gelassen hat”, sagte er spöttisch und sprang, ohne noch einmal zurückzublicken. Meine Augen weiteten sich. Schnell eilte ich ihm hinterher. Ich sah nichts als Wolken draußen. Er wird doch nicht? Bevor ich allerdings nachsehen konnte, ob und wie tief es hinunter ging, schloss sich die Tür blitzschnell vor meiner Nase.
<Du würdest einen Sprung aus dieser Höhe gänzlich ohne Ausrüstung, nicht überleben.> Ich starrte die Wand an, wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. <Fürchtest du dich nun? Denkst du, ich halte dich gefangen?> Ich überlegte. Diese Möglichkeit sollte mir Angst machen, tat es aber nicht. “Nein”, sagte ich schließlich und entfernte mich von der Wand. Gezwungen ruhig ging mein Atem – den roten Stern fest an meine Brust gepresst.
“Du sagtest was von Familie ... und ich glaubte dir. Ob dies ein Fehler war oder nicht, ist bedeutungslos. Ich bin jetzt hier und irgendwann werde ich wieder bei meinem Meister sein. Wie’s aussieht, sehr bald schon, nicht wahr?” <Nein. Du gehst nicht zurück. Was ich zu dir sagte, bleibt nach wie vor bestehen.> Ich runzelte die Stirn. “Aber, Reznick hat doch ... Sagte, ich soll gehen.” <Er ist sauer. Ich habe einen Fehler gemacht und seinem Vater so unbeabsichtigt geholfen. Reznick wird nicht zu mir zurückkommen – es sei denn, Dezeria ist verletzt. Nur dann wird er noch einmal meine Hilfe in Anspruch nehmen.> “Was ist denn überhaupt passiert? Und was meinte er mit “EP-141” und dass ich dich deswegen fragen soll?” <Setz dich erstmal und iss etwas.> Nach ihren Worten klappte sich sofort der breite Tisch vor dem Sofa, welcher bereits mit irgendwelchem Speisen gedeckt war, um und verschwand im Boden – machte einem neuen Tisch mit Essen Platz. Das war beeindruckend und unheimlich zugleich. Wenn man es genau nahm, könnte ich auch jeder Zeit einfach so von der Bildfläche verschwinden. Ich schüttelte den Kopf. Verdrängte schnell diese Sorge. Was brachte es mir denn schon? Wenn Heka mir etwas Böses wollen würde, so könnte sie es schließlich binnen Sekunden tun. Ob naiv oder nicht, ich vertraute ihr. Immer noch.
“Wie viel Zeit ist eigentlich vergangen?”, fragte ich neugierig, als ich mich auf das samtige blaue Möbelstück setzte. Das Essen – was es auch war – roch köstlich. Irgendwelches Fleisch, Brot und Früchte mit orange-gelben Streifen. Alles war in kleine Stückchen geschnitten, sodass man es problemlos mit den Fingern essen konnte.
<Nur ein paar Stunden.> “Hm?”, ich schluckte meinen Happen hinunter. “Stunden? Aber, meine Haare ... Hast du das gemacht?” <Ja. Ich habe sie wachsen lassen. Ich hoffe, Euch ist die Länge angenehm. Wenn nicht, ließe sich das natürlich anpassen.> Ich schüttelte kurz den Kopf. “Nicht nötig. Es ... gefällt mir. Vielen Dank, Heka.” Ich spürte, wie eine Träne über meine Wange lief. Schnell wischte ich diese fort und griff nach dem Glas mit dem Saft darinnen – trank.
<Ihr seid traurig? Oder habt Ihr Schmerzen?> “Mh-mh ... nein.” Fast hätte ich mich verschluckt. “Es schmeckt alles so lecker und ... ich bin noch nie so freundlich behandelt worden.” <Das ist bedauerlich. Und mehr noch, weil Reznick vielleicht recht hat.> “W-was meinst du?” <Ich habe meine letzten Entscheidungen analysiert. Möglich, dass meine Fürsorge gegenüber Euch, nur ein Mittel zum Zweck ist. Ihr, wie er sagte, eine Marionette seid. Reznick zu beschützen hat höhere Erfolgschancen, wenn ich dich habe – wenn du tust, was ich sage. Ich möchte dein Vertrauen, damit ich dich um einen Gefallen bitten kann. Das ist doch verwerflich, oder?> Ich überlegte. War es das? Nein. “Es ist ... menschlich”, flüsterte ich mehr zu mir selbst und war zugleich verwirrt über diesen Gedanken. Heka war doch Adelstechnik und kein Mensch — nur Menschen wollten für alles eine Gegenleistung. Aber, sie verhielt sich genauso. Das ist wirklich verrückt.
<Menschlich? Ausgeschlossen. Denkt das nicht von mir. Ich imitiere nur. Lese und interpretiere, was mir Datenbanken zur Verfügung stellen. Nicht mehr. Das ist es auch, was Reznick mit “EP-141” meinte. Jeder Sklave, welcher über ein Driv-Cor verfügt, wird mit verschiedenen Modis versehen. Sprich, er bekommt das gewünschte Verhalten einprogrammiert. EP-141 zum Beispiel verhindert, dass sich der Betroffene selbst töten oder verletzen kann. Ihr tragt so eins in Euch. Und. Ich habe es drinnen gelassen, obwohl ich es hätte entfernen können.> “Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Das ist in meinem Kopf und beeinflusst mich? Und ... du hast es nicht entfernt?” <Korrekt. Ich habe dich also in dem Status des Sklaven gelassen. Reznick hat es gewusst und mir eben dies auch vorgeworfen. Wenn ich nicht zu diesem Rea-System gehören – nicht zu seinem Vater gehören würde, hätte ich es entfernt. Ich hätte dich befreit. Aber. Ich konnte einfach nicht. Bitte verzeih.>
Wow. Das schockierte mich auf so vielerlei Ebenen. Sprachlos starrte ich auf das halb verspeiste Essen vor mir. Wie oft hatte ich ein Messer in den Händen gehalten und mich verzweifelt gefragt, wieso ich es nicht in meine Haut rammen konnte? Oder warum ich meinen Meister nie verletzen konnte? Plötzlich ergab das alles einen Sinn. Ich verstand Reznick – verstand seinen schmerzvollen, verzweifelten Blick. Das machte ihm also zu schaffen. Verständlich. Daran konnte man zerbrechen. Jeder würde sich hoffnungslos darin verlieren, dass alles, was einen ausmacht, nur eine Lüge ist. Aber. Ich nicht. Ich zerbrach nicht. O nein! Diesen Triumph würde ich meinem Meister nicht auch noch geben! Wer und was ich bin, war ohnehin nie wichtig gewesen. Ich bin ich. Ein Niemand. Johanna. Vielleicht hieß ich auch einmal anders. Wer weiß das schon? Die Einträge, die Reznick mir gezeigt hatte, könnten ebenso nicht echt gewesen sein. Die Welt der Adligen war nun einmal schlecht. Sie manipulieren und spielen um das Leben anderer. So eine Nachricht sollte da doch nicht mehr überraschen. Tief atmete ich durch. Ja, es sollte mich nicht schockieren. Ich bin ich. Ich bin jetzt hier und werde es ertragen. Wie sonst auch. Wie schon die ganze Zeit in meinem Leben.