❂Elians Sicht❂
Mit hinunterbaumelnden Beinen saß ich auf der Krankenliege und blickte gedankenversunken zur Tür. Meekamahi hatte es so eilig gehabt, dass sie ganz vergessen hatte, diese zu schließen. Was ich nachvollziehen konnte. Nur zu deutlich hatte ich ihre brennende Wut gespürt – Wut auf Leo. Warum oder wieso, verstand ich zwar nicht, aber das musste ich auch nicht. Solange mir keiner der beiden wegen meines Schwächeanfalls zürnte, war alles in Ordnung. Viel mehr beschäftigte mich dagegen, warum Leo seine Kontrolle über die Kopie verloren hatte und sich dazu noch in einem abgeschirmten Raum aufhielt. Was machte er dort?
Nachdenklich wanderte mein Blick zu einem Ärmel meiner Robe. An der einen Seite stand ein kleiner weißer Faden ab, der meine Finger wie magisch anzog. Ich zupfte daran herum, während die Unruhe in mir immer stärker wurde. Was, wenn Hendrickson außer Kontrolle geraten war und Leo sich mit ihm eingesperrt hatte? Oder schlimmer. Mit Alexander. Wenn Meekamahi hier war, bedeutete es schließlich, dass das Spiel der Rea geendet hatte und er sich im Schiff befinden musste.
Ich atmete einmal tief durch. Diese Konstellation mochte ich nicht. Es war gefährlich – hatte zu viel Negativpotenzial und das tat mir nicht gut. Wobei. Meekamahi hatte gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte, und sie würde mich nie belügen. Wenn etwas passiert wäre, hätte sie mir ganz sicher davon erzählt. Leo und Meekamahi waren hier und nur das zählte. Sie passten auf uns auf. Immer. Ich musste also nur warten. Ruhig und geduldig warten, bis beide zurückkamen. Ja. Das würde ich locker schaffen.
Plötzlich flackerte das Licht im Krankenzimmer, was mich verwirrt aufblicken ließ. Ich bereute es jedoch sofort, da ich trotz der Wände direkt von einem gleißenden Licht geblendet wurde. Etwas aus Essenz, das in gleichmäßigen Wellen erstrahlte und unverkennbar von Leo stammte. Obwohl es keinen aggressiven Ursprung hatte, war es für meine empfindlichen Sinne viel zu viel. Ich musste mich mit den Händen davor schützen, um eine Überreizung zu vermeiden. Angst hatte ich jedoch keine. Warum auch immer er seine Macht auf diese Weise nutzte – es erheiterte mein Gemüt. Er war so unfassbar stark, dass niemand ihn je überragen könnte. Er bedeutete vollkommene Sicherheit.
⫷Junger Herr Elian⫸, die Stimme von Tyschka ließ mich erschrocken zusammenfahren, ⫷das Fräulein Suciu wünscht, Euch zu sprechen, nehmt Ihr an?⫸
“Suciu? Ja, ja! Natürlich!”
⫷Übertrage Sprachanruf.⫸
“E-Elian? Bist ... du da?” Ihre ängstliche Stimme stach mir mitten ins Herz.
“Ja, ich bin hier.”
“Nein, bist du nicht. Ich ... bin ganz allein.” Meine Brust schmerzte mit jedem weiteren ihrer weinerlichen Worte. “Leo hat mir gesagt, du bist zusammengebrochen ... Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht ...” Sie schniefte. “U-und dann hat er sich auf einmal aufgelöst! Zu Kristallstaub! Es ist was passiert!” Ich schüttelte den Kopf.
“Es ist alles gut. Leo ist auf dem Schiff und Meekamahi geht gerade zu ihm. Sie hat gesagt, es sind keine Fremden da und dass ich warten soll.”
“Wirklich?” Ich nickte.
“Ja, wirklich.”
“Aber ... die Lichtfrequenz in unserem Zimmer schwankt ... Ich habe Angst. Kannst du vielleicht ... zu mir kommen?” Ich sprang so schnell vom Bett, dass ich durch den Schwung fast hingefallen wäre.
“Ja, ich komme!” Ich stürmte aus dem Zimmer, nur um im Flur erst einmal verwirrt stehenzubleiben. Wo war ich? Und wo musste ich lang?
Es dauerte einen Moment, bis ich mich zurechtfand. Ich war definitiv nicht auf der normalen Krankenstation oder einem Labor, sondern in dem privaten Abteil von Leo und Meekamahi. Im Gegensatz zu dem Rest der Tyschenka, gab es hier keine prunkvollen rot und weißgoldenen Verzierungen. Es wirkte zwar ebenso edel, aber die Dekoration bezog sich hauptsächlich auf Naturmotive und dessen Farbvarianten. Der Gang war zudem voll von großen Gemälden, auf denen Landschaften oder allein der Himmel in jeder nur erdenklichen Situation dargestellt wurde. Leo veränderte dabei immer etwas, wenn ein Spiel endete, um Meekamahi eine Freude zu machen. Jetzt hatte ich jedoch leider keine Zeit, die vielen Neuerungen zu bewundern. Hurtig lief ich zu einer Stelle, wo sich ein blaues Rechteck am Boden befand. Die Beförderungsanlage mochte ich eigentlich nicht, aber bis zu unserem Zimmer war es ein gutes Stück und Suciu sollte nicht länger als nötig auf mich warten, wenn sie sich fürchtete.
Vorsichtig stellte ich mich auf das Ding und atmete einmal tief durch. Es war nicht gefährlich, das wusste ich. Leo benutzte es schließlich ständig und doch – das zu wissen half nicht. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Jede Form von Technik erinnerte mich unfreiwillig an meine Zeit bei den Rea und die war alles andere als schön gewesen. Allein die Tyschenka an sich zu akzeptieren hatte unglaublich lange gedauert und mich unendlich viel Kraft gekostet. Dennoch war ich froh, dass ich es geschafft hatte – allen Zusammenbrüchen zum Trotz. Ich hatte bei Leo bleiben wollen und nur so war es möglich gewesen. Mit allem anderen technischen Sachen tat ich mir jedoch bis heute schwer.
“Ziel: Wohnabteil ...” Ich überlegte fieberhaft. Unser Zimmer hatte eine Nummer, aber die vergaß ich ständig. Wobei. “Sonne! Wohnabteil Sonne!” Stimmt. Leo hatte es extra umbenannt, weil ich damit immer solche Schwierigkeiten hatte. Die Plattform erhob sich auch prompt und es kostete mich alle Mühe, nicht gleich wieder davon runterzuspringen. Zitternd bohrten sich meine Hände in den Stoff der Robe, während ich meine nackten Füße anstarrte und innerlich die Sekunden zählte. Ich wusste selbst, dass das albern war. Mir würde nichts passieren. Ich war hier sicher.
Mit der Zeit wurde es zum Glück besser. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam, auch wenn hin und wieder seltsam das Licht flackerte. Als es dann jedoch endgültig erlosch, war die Anspannung sofort zurück. Reinste Dunkelheit umgab mich und verpasste mir eine massive Gänsehaut. Sowas hatte ich auf dem Schiff wahrlich noch nie erlebt. Wieso war plötzlich alles so tiefschwarz? Selbst bei einem größeren Defekt, wie Leo es nannte, hatte es bisher immer Licht gegeben. Zwar abgeschwächt, aber doch ausreichend, um alles sehen zu können.
Besorgt konzentrierte ich mich auf meine Fähigkeit und bildete eine kleine leuchtende Kugel direkt aus meinem Körper. Als der gelbe Schein wirkungsvoll die Umgebung erhellte, verbesserte sich deutlich mein Wohlbefinden, aber zugleich ließ es mich auch verwirrt die Stirn runzeln. Das flache Rechteck, auf dem ich noch immer stand, schwebte zwar weiterhin einige Zentimeter über dem Boden, bewegte sich aber ansonsten nicht mehr von der Stelle. Warum? Dem Aussehen des Flurs nach zu urteilen, war ich noch nicht bei unserem Zimmer angelangt.
“Ziel: Wohnabteil Sonne.” Nichts passierte. Probehalber stieg ich langsam runter und stellte mich anschließend wieder drauf. “Ziel: Wohnabteil Sonne.” Das Ergebnis blieb allerdings dasselbe. War es vielleicht kaputt? “Tyschka? Was ist passiert? Wieso funktioniert es nicht?” Leider erhielt ich auch darauf keine Reaktion. Merkwürdig. Was war hier bloß los? “Tyschka? Bitte mach einen Implink zu Leo.” Ich sollte das zwar nur im Notfall machen, aber allmählich fühlte es sich wie einer an. Warum sonst ignorierte sie völlig meine Stimme?
Unschlüssig schweiften meine Augen umher, während die bedrückende Stille unablässig zunahm. Was sollte ich bloß tun? Hierbleiben? Zu Fuß weiter oder lieber gleich zurück? Was, wenn Leo und Meekamahi mich bereits suchten? Vielleicht machten sie sich Sorgen oder waren erzürnt, weil ich nicht gewartet hatte. Nein. Das wäre unwahrscheinlich. Ich wollte nur zu Suciu und – Ich schluckte schwer. Am Ende meines Lichtkegels lauerte nach wie vor die Finsternis. Was, wenn es überall so aussah? Das wäre schlimm. Schlimmer als schlimm! Suciu brauchte doch das Licht.
Ein gewaltiger Ruck ging durch mich hindurch und ich rannte augenblicklich los. Der Gedanke, dass sie jetzt alleine in der Dunkelheit saß – nein. Das durfte nicht sein. Sie würde sterben vor Angst. Ich musste zu ihr. Schnell. Schneller! Aber leider interessierte es meinen Körper nicht im Geringsten, wie eilig ich es hatte. Schon nach wenigen Metern spürte ich deutlich, dass ich keinerlei Ausdauer besaß. Mein Herz raste und ich hatte das Gefühl, keine richtige Luft zu bekommen. Trotzdem blieb ich nicht stehen. Weiter. Ich musste weiter. Immer weiter.
*
Keuchend und völlig fertig stützte ich mich abwechselnd an der Wand, irgendeinem Tisch oder einer Dekoration ab. Meine Sicht war durch Tränen verschleiert und nur die Tatsache, dass ich ein künstliches Bein besaß, hielt mich überhaupt noch aufrecht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal derart schnell und weit gelaufen war. Sämtliche Muskeln brannten wie Feuer. Meine Kehle bestand aus kratzenden Sandkörnern und die Lunge schien sich komplett verabschiedet zu haben. Dennoch. Ich schleppte mich unerbittlich voran. Gerade jetzt, wo ich verschwommen den gelbgrünen Teppich wahrnahm, der Suciu und meinen Bereich einläutete. Ich hatte es fast geschafft. Nur noch ein kleines bisschen.
Ich stieß schließlich mit meinen lahmen Füßen gegen etwas, stolperte und landete der länge nach auf dem Boden. Der Schmerz des Aufpralls verlor sich dabei in meiner allgemeinen Erschöpfung. Wie erschlagen blieb ich liegen. In meinem Kopf herrschte nur noch ein Gedanke: Atmen. Schneller atmen und doch war es nicht genug. Bunte Punkte tanzten bereits vor meinen Augen. Ich drohte zu ersticken oder ohnmächtig zu werden. Eins von beiden garantiert. Vielleicht auch beides zusammen.
Mit letzter Kraft rollte ich mich auf den Rücken, um wenigstens etwas Erleichterung zu erfahren. Was zum Glück funktionierte. Kaum wich der Druck von meinem Brustkorb, wurde es besser. Ja. Viel besser, auch wenn sich meine Atemzüge nach wie vor fürchterlich anhörten und ebenso schrecklich anfühlten. Was ich jedoch nicht verstand – ich bekam zusätzlich dazu noch ein schlechtes Gewissen. Die Sorge um Suciu trieb mich unablässig voran und fand es verwerflich, dass ich nun untätig herumlag. Aber. Das war nicht fair. Es war doch nicht meine Entscheidung, zusammenzubrechen. Da konnte mein Innerstes noch so vehement dagegen rebellieren. Es tat mir auch unendlich leid, aber es ging einfach nicht. Mein Körper war zu schwach. Ich brauchte eine Pause.
Mit zitternden Händen wischte ich mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht und starrte mein gelbes Licht an, das gleichmäßig über mir seine Kreise zog. Es funkelte wie ein kleiner Stern und hüllte mich mit seinem warmen Schein in eine tröstende Umarmung. Das half ungemein und sorgte dafür, dass sich mein hektischer Atem und mein rasendes Herz langsam beruhigten.
Wie viel Zeit letztlich verging, wusste ich nicht, aber irgendwann fiel mein Blick dahinter auf das unregelmäßige braune Muster an der Decke. Ich blinzelte. Das waren keine Verzierungen, sondern Wurzeln! Sofort richtete ich mich mühselig auf. Das kam ohne Zweifel von Suciu. Sie hatte ihre Pflanzen wie feine Adern überall durch den Flur gezogen. Oje! Leo mochte das überhaupt nicht. Ihre Fähigkeit machte zu viel im Schiff kaputt. War es vielleicht deswegen dunkel? Hatte sie das verursacht?
Mit wehleidigem Stöhnen kämpfte ich mich auf die Beine. Wirklich wackelfrei ging es zwar nicht und jede Bewegung schmerzte, aber es musste sein. Länger wollte ich sie nicht warten lassen. Schon jetzt reagierten ihre Ranken kein Stück auf meine Anwesenheit, was nur bedeuten konnte, dass der Lichtmangel sie zum Schlafen gezwungen hatte. Ein Zustand, der nichts als Alpträume für sie bereithielt und ihren Körper schwächte – ihr schadete und mir mit diesem Wissen zusätzlich weh tat. Ja. Das alles war meine Schuld. Wenn ich von Anfang an auf Leo gehört hätte und bei ihr geblieben wäre, würde sie jetzt nicht allein mit der Dunkelheit sein. Nicht leiden müssen.
Die schrecklichen Schuldgefühle beflügelten geradezu meine Schritte. Ich erreichte unser Zimmer, stand jedoch prompt vor einem neuen Problem. Die Tür ging nicht auf. Diesmal war der Grund dafür eindeutig Suciu. Ihr Wurzelwerk hatte sich hier besonders stark ausgebreitet und den Mechanismus blockiert. Dies war schon öfter vorgekommen und normalerweise auch keine große Sache. Sie müsste lediglich ihre Ausläufer wieder zurückziehen.
“Suciu? Hörst du mich?” Ich klopfte gegen die Tür. “Ich bin’s, Elian!” Ich lauschte an dem Metall, hörte jedoch nur meinen eigenen donnernden Herzschlag. Sie schlief also tatsächlich. “Ich mach dir Licht, ja?” Konzentriert schloss ich die Augen und versuchte, einen kleinen Stern bei ihr im Zimmer zu materialisieren. Was schwer war. Etwas auf Distanz und dann auch noch durch eine Wand entstehen zu lassen, verbrauchte unglaublich viel Essenz. Mein Körper war zudem nach wie vor deutlich vom Rennen erschöpft. Einfacher wäre es natürlich, wenn ich schlicht ein Loch durch die Tür brennen würde – allerdings genauso unmöglich. Ich wusste zwar, dass Suciu durch die Zerstörung ihrer Ranken keinen Schaden erlitt, aber trotzdem. Ich konnte das nicht. Niemals könnte ich etwas von ihr zerstören.
Es war ja auch völlig unnötig. Allmählich kehrte Leben in die Pflanzen, nachdem mir das Licht gelang. Das hölzern wirkende Braun wich einem satten Grün. Saftige Blätter und bunte Blütenknospen entstanden, die sich keine Sekunde später in all ihrer Pracht öffneten. Der Anblick zusammen mit dem angenehm süßlichen Duft zauberte mir ein glückliches Lächeln auf die Lippen.
“Suciu? Bist du wach? Kannst du mich jetzt hören?” Ich hielt den Atem an. Hoffentlich ging es ihr gut.
“Ja ...” Ihre Stimme drang nur sehr leise aus dem Zimmer, dennoch wallte pure Erleichterung durch meinen Körper.
“Du musst deine Pflanzen zurückziehen, sonst krieg ich die Tür nicht auf.”
“Entschuldige ...” Mit einem lauten Knarren legte sie sofort die Mechanik frei, wodurch ich endlich eintreten konnte. Weit kam ich jedoch nicht. Aus dem Rauminneren sprang mir förmlich ein ganzer Urwald entgegen, an dem ich mich erst einmal vorbeiquetschen musste. Was auch schnell unmöglich wurde. Immer stärker schlangen sich Ranken gezielt um meine Arme und Beine. Hielten mich fest.
“Suciu ...” Ich seufzte. “Wie soll ich denn so jemals zu dir kommen?”
“Tut mir leid ...” Der Griff um meine Glieder wurde schmerzhaft.
“Soll ich lieber auf Abstand bleiben?”
“Nein!” Sämtliche Blätter raschelten. “Ich ... Es tut mir leid.” Langsam bewegten sich die Pflanzen zurück, sodass ich mal etwas mehr als nur Grün in unserem Zimmer erkennen konnte. Der einstige Boden mit seinen feinen Pfaden aus weicher Erde und kleinen Steinen war kniehohem Gras gewichen. Auch meine Sachen waren, wie zu erwarten, komplett von einem wilden Geflecht überwuchert worden. Das gelbe Himmelbett und die mit weißen Sternen verzierten Schränke hatte es dabei sauber zerlegt. Also alles wie immer. “Ich ... freu mich, dass du da bist. Ich hab dich vermisst.” Mein Blick wanderte zur Mitte unseres riesigen Raums, wo sich eigentlich ein flacher Brunnen befand, im Moment jedoch nichts außer dichtes Blattwerk zu erkennen war. Die Farben der Pflanzen leuchteten in diesem Bereich besonders intensiv und da auch ihre Stimme aus dieser Richtung kam, musste sie sich unweigerlich dort befinden.
“Dann darf ich zu dir kommen?” Sie hielt mich zwar nicht länger fest, aber ich musste es dennoch von ihr hören.
“Ja. Bitte ...” Gleich einer Einladung teilte sich das Grün zu einem richtigen Weg und führte mich direkt zu ihr. Sie lag in dem Brunnen, der durch ihre Zerstörung jedoch kein Wasser mehr führte, dafür aber gefüllt von vielerlei Blüten war.
“Darf ich dich berühren?” Ich ging auf die Knie und lehnte mich an den Rand des Beckens.
“Ja.” Ihre trüben Augen sahen zu mir und auffordernd streckte sie eine Hand aus. Ich lächelte, hob ihren zierlichen Oberkörper ein Stück aus dem wunderschönen bunten Pflanzenmeer und umarmte sie schließlich liebevoll. All meine Sorgen verschwanden sofort, als ihr wohltuender süßliche Geruch meine Sinne umspielte. Einfach atemberaubend. Jetzt war alles in Ordnung. So konnte es für immer bleiben.
“Was ist passiert, Elian? Warum bist du eigentlich zusammengebrochen?” Ihre Hand strich sanft über meinen Rücken. “Hat dir das Eis etwas angetan? Leo hat mir nichts darüber erzählen wollen.” In ihrer Stimme schwang deutliches Unbehagen mit.
“Nein. Dezeria hatte lediglich Angst vor Leo und sich in einem großen Eisberg eingeschlossen. Hendrickson war bei ihr ... An mehr erinnere ich mich nicht und fragen konnte ich Leo bisher auch nicht, weil seine Kopie sich dann aufgelöst hatte.”
“Wind war bei euch? Er ist doch gefährlich und instabil. Hat er dich vielleicht verletzt?” Ihre Hand wanderte zu meinem Hals, wo sie sich sogleich unter den Stoff begab und meinen Rücken abtastete.
“Nein ...” Ich atmete schwer. Ihre Finger fühlten sich so unbeschreiblich gut auf meiner Haut an. “Mir fehlt nichts.” Sie stoppte ihre Überprüfung.
“Wirklich?”
“Ja.” Ich nickte. Meine trockene Kehle, die Lunge und viele Muskeln schmerzten zwar nach wie vor, aber ich wollte sie nicht beunruhigen. “Ich bin lediglich etwas erschöpft, weil ich hergelaufen bin. Ansonsten geht es mir gut.”
“Weißt du dann, warum es auf einmal Dunkel geworden ist? Tyschka reagiert auch nicht, wenn man sie was fragt ... Es war so schrecklich.” Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper.
“Ist ja gut.” Ich verschmolz meine beiden umherschwebenden Lichter zu einem größeren und flutete mit den weißen Strahlen jeden Winkel unseres Zimmers. Zusätzlich verstärkte ich noch die Wärme, damit sie nicht fror. “Ich bin jetzt hier.” Behutsam streichelte ich ihr zerzaustes dunkelgrünes Haar. “Warum das passiert ist, weiß ich leider nicht ... Ist auch nicht länger wichtig. Ich mache dir so viel Licht, wie du willst.”
“Das ist lieb von dir.” Sie drückte sich enger an mich, was mir ein unvergleichliches Hochgefühl bescherte. Ihr so nahe sein zu dürfen, war etwas Kostbares. Ebenso, dass sie von sich aus unsere Berührung intensivierte. Nach allem, was ihr widerfahren war, empfand ich es noch immer als ein absolutes Wunder. Oft hatte ich sogar den Eindruck, dass mich die Vergangenheit sehr viel stärker belastete als sie selbst. Gerade bei solch schönen Momenten kamen mir unwillkürlich die Bilder in den Kopf, was die Rea ihr alles angetan hatten. Wie ich dabei hatte zusehen müssen, ohne die Möglichkeit ihr zu helfen. Umgehend verspürte ich den Drang, ihr etwas Gutes zu tun.
“Darf ich dir die Haare kämmen? Sie sind ganz verknotet. Wenn du magst, flechte ich sie dir auch wieder.” Sie lockerte ihre Haltung.
“Gerne ... A-aber nur, wenn du es willst ... Also du musst nicht.” Lächelnd löste ich die Umarmung und bettete sie zurück in die Blumen.
“Ich will es.” Ganz uneigennützig war mein Tun schließlich auch nicht. Ich wollte mich von diesen schrecklichen Erinnerungen ablenken und zudem hatte ich großen Durst. “Bin gleich zurück.” In der Unordnung allerdings was zu finden, entpuppte sich als ziemliche Herausforderung. Es gab einfach keine Stelle, die die Pflanzen nicht überwuchert hatten. Der Ort, wo ich den Kamm zuletzt abgelegt hatte, existierte quasi nicht mehr. Aber was solls. Für diese Fälle hatten wir schließlich Ersatz da.
“Kannst du ...”, ich berührte eine dicke Ranke, die sich über einige Schubfächer gewunden hatte, “die hier ein Stück zur Seite bewegen?” Suciu tat zwar sofort, was ich wollte, das Ergebnis blieb jedoch dasselbe. Es ließ sich nicht öffnen. “Am besten auch das dahinter ... Oder gleich alles im Umkreis.”
“Entschuldige ...” Es raschelte und knarzte bedrohlich, aber dann ließ sich das Fach öffnen. “Ich wollte nicht ...”
“Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.” Natürlich war der Boden rausgebrochen und sämtlicher Inhalt mit dem Zeug darunter verwühlt. “Ich liebe deine Pflanzen.” Es war zwar oft etwas umständlich, aber das hatte mich noch nie gestört. Selbst Leo verlor ihr gegenüber nie auch nur ein negatives Wort, obwohl sie immer so viel kaputt machte und ihn das nervte. “Hab ihn!” Freudig hielt ich einen Kamm in die Luft. Jetzt brauchte ich nur noch was zu trinken. Dringend!
Zum Glück hatte Leo unser Zimmer so eingerichtet, dass man selbst mit Sucius Verwüstungen immer irgendwie an Wasser kam. Es gab neben dem Brunnen diverse Anschlüsse, die auf Knopfdruck kleine Becken am Rand befüllten oder eine Vielzahl an kleinen Löchern in der Decke, die es richtig regnen lassen konnten. Und wenn einmal nichts davon funktionierte, hatten wir einige Behälter in einer bruchsicheren Truhe. Eben jene, zu der ich mich nun begab und von einigen Wurzeln aus dem Boden gerissen worden war.
“Wärst du noch einmal so lieb?” Wieder berührte ich zärtlich jede Pflanze, die mir das Öffnen erschwerte. Sie kringelten sich zuerst leicht und wichen dann zurück. “Danke.” Ich schnappte mir zwei Wasserflaschen, wovon ich gleich eine bis zur Hälfte leertrank, bevor ich freudig zu Suciu eilte. Sie hatte sich in der Zwischenzeit mithilfe einiger Ranken aufrecht hingesetzt und sah in meine Richtung, ohne mich jedoch direkt anzusehen.
“Möchtest du auch etwas trinken?” Sie schüttelte sachte den Kopf.
“Nein gerade nicht.” Ich stellte die Behälter vor den Brunnen.
“Falls doch, sag einfach Bescheid.” Unschlüssig betrachtete ich sie. “Darf ich mich hinter dich setzen?”
“Natürlich.” Sie streckte ihre Hand vor, die ich sofort ergriff. Langsam und ohne sie dabei loszulassen, ging ich um sie herum. Erst als ich mich hinter ihr auf die Knie begab, löste ich den Griff und kümmerte mich um ihr wunderschönes Haar.
“Wenn ich zu fest ziehe, sag es mir bitte.” Vorsichtig entwirrte ich die ersten Knoten mit den Fingern.
“Mach ich.” Sie neigte den Kopf ein Stück zu mir und warf anschließend die vorderen Strähnen über ihre Schulter. Mit einem freudigen Lächeln nahm ich diese entgegen und machte mich daran, sie ebenfalls zu glätten. Ich liebte diese Arbeit. Es war so herrlich entspannend und als Suciu dann auch noch zu Summen anfing, war ich endgültig im Himmel.
Ich versank vollständig in meinem Tun. Genoss den bezaubernden Klang ihrer Stimme, ihren intensiv blumigen Duft und die vielen kleinen Ranken, die liebkosend an mir hinaufwanderten. Wie ich jemals ohne Suciu hatte leben können, verstand ich nicht. Eine Welt ohne sie konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Das wurde mir jedes Mal aufs Neue schmerzlich bewusst, wenn mir auch nur eine Sache davon fehlte. Es verpasste mir einen richtigen Schlag, als sie plötzlich verstummte und ihre Haltung strafte.
“Es ist kalt.” Ich runzelte die Stirn und blickte nach oben. Hatte ich durch meine Träumerei etwa das Licht vernachlässigt? Das war zwar schon öfter passiert, aber diesmal nicht. Meine kleine weiße Sonne strahlte nach wie vor und gab auch gut Wärme ab.
“Sicher? Ich könnte mein Licht noch stärker machen, will aber auch nicht, dass es deine Pflanzen versengt.”
“Nicht hier.” Sie hob ihren Arm und deutete in eine Ecke. “Der drastische Temperaturabfall kommt aus dieser Richtung. Er ist noch entfernt, breitet sich aber hierher aus.”
“Zu uns?” Das war nicht gut. “Vielleicht ein Defekt. Leo wird das bestimmt schnell beheben.”
“Vielleicht, aber ... könnte es nicht auch das Eis sein? Was, wenn es bei Dezeria noch dunkel ist und sie sich fürchtet?” Daran hatte ich bisher keinen einzigen Gedanken verschwendet, was mir prompt ein schlechtes Gewissen bescherte. “Im Flur ist es jedenfalls außerhalb deiner Fähigkeit nach wie vor finster.”
“Ist es? Ich sehe mal nach.” Hurtig legte ich den Kamm beiseite, erhob mich und ging zur Tür. Tatsächlich lauerte pure Schwärze auf beiden Seiten des Ganges. Was seltsam war. So lange hatte die Tyschenka sich noch nie in Dunkelheit gehüllt. Licht gab es irgendwie immer. Wenn nicht normal, dann als Notfallbeleuchtung, wie Leo es nannte.
“Du hast recht ...” Nachdenklich schritt ich zurück ins Zimmer. “Vielleicht betrifft es aber auch nur unseren Bereich.” Hoffentlich.
“Und wenn nicht? Sie macht doch das Eis, wenn sie sich fürchtet ... Hast du selbst gesagt.”
“Ja. Ich weiß.” Bei jedem Elementar war das schließlich so. Gefühle beeinflussten stets die Essenz. Am liebsten hätte ich auch nach Dezeria gesehen, aber das ging nicht. Ich konnte Suciu nicht alleine lassen.
“Dann gehen wir am besten zu ihr.” Überrascht von ihrer Aussage stolperte ich über eine Wurzel und landete mit dem Gesicht voran im Gras. “Elian?! Hast du dir was getan?”
“Nein ...” War immerhin nicht das erste Mal.
“Wirklich? Kannst du aufstehen?” Sie klang zunehmend besorgt.
“Ja ...” Wenn ich es denn gewollt hätte, aber gerade war mir nicht danach. Ich blieb reglos liegen und betete inständig dafür, dass ich mich verhört hatte. Mit ihr durch das Schiff zu gehen, obwohl Leo das verboten hatte und dazu noch Hendrickson UND Alexander irgendwo herumliefen – nein. Einfach nur nein.
“Warum tust du es dann nicht?”
“Weil ...” Ich nicht will, dass du dich in Gefahr begibst. Das Zimmer zu verlassen ist aktuell eine durch und durch schlechte Idee.
“Elian?”
“Ja?”
“Gehen wir dann jetzt zu Dezeria?” So viel zu meiner Hoffnung. “Ich will nicht, dass sie wegen der Dunkelheit leidet. Das ist zu schrecklich. Niemand sollte deswegen Angst haben.”
“Wenn das dein Wunsch ist ... sehen wir nach.” Schwerfällig raffte ich mich auf und steuerte wie benommen die überwucherten Schränke an. Sie brauchte etwas zum Überziehen und auch diesen schwebenden Stuhl, den Leo ihr extra zur Fortbewegung angefertigt hatte.
“Falls das Licht bei ihr funktioniert, können wir ja gleich wieder zurück.” Deutlich hörte ich ihre Freude, aber erwidern konnte ich es nicht. Für mich war es die reinste Hölle. Was, wenn sie von einem der anderen verletzt wurde? Ich hatte schließlich keine Fähigkeit, mit der ich sie vor körperlichem Leid beschützen konnte. Selbst wenn Dezeria sie nur aus Versehen mit dem Eis angriff, würde ich das nicht verhindern können.
Hilfe. Die bloße Vorstellung davon, bereitete mir Magenschmerzen und doch kramte ich wortlos alles herbei, was sie für einen Ausflug brauchte. Ich konnte ihr das einfach nicht ausreden, weil ich das mit der Angst nur allzu gut verstand. Vielleicht sah ich auch alles viel zu schwarz. Leo und Meekamahi waren ja auch noch irgendwo auf dem Schiff. Bestimmt reparierten sie schon, was auch immer kaputt gegangen war, und die ganze Angelegenheit hatte sich längst erledigt, sobald wir uns auf den Weg machten. O bitte, bitte, bitte!