•‡Dezerias Sicht‡•
Da saß ich nun. Gedankenverloren starrte ich die glatte Wasseroberfläche an. Der Schaum hatte sich längst verflüchtigt und auch von der entspannenden Wärme war nichts übriggeblieben. Die Finger schrumpelig. Dennoch wollte ich die Badewanne nicht verlassen. Hier raus zu gehen würde bedeuten, wieder Teil von diesem Irrsinn zu werden. Gott. Das Gesehene nagte noch immer schwer an meinem Verstand.
Hendrick hatte sich gegen seinen Vater gestellt. Gekämpft. Jedoch auf eine Art, die nichts Menschliches an sich hatte. Nein. Nicht mal ein bisschen. Die beiden waren keine Menschen. Ich wusste zwar, dass die Rea Macht hatten. Man sie als Götter verehrte – und doch. Irgendwie waren sie für mich immer greifbar gewesen. Nicht so wie der Mondgott – wie Zerian. Aber jetzt? Gab es überhaupt noch einen Unterschied zwischen der Rea-Technik und Hexerei? Magie?
Es war bereits unglaublich gewesen, dass sein Vater meinen Angriff überlebt hatte. Aber das? Er konnte sich einen abgetrennten Arm mit Leichtigkeit wieder anpinnen. Einen abgetrennten Arm! Es blieb nicht mal eine Wunde zurück. Und dann Hendrick – Gott. Sein markerschütternder Schrei hallte noch immer in meinem Kopf. So viel endloses Leid. Unwillkürlich kullerten Tränen hinab – plätscherten ins Badewasser. Es berührte mich noch immer. Ließ mein Herz bluten.
“Verzeiht, Fräulein Henriette, aber habt Ihr Schmerzen?”, fragten plötzlich die beiden unheimlichen Bediensteten, die etwas entfernt von der Badewanne standen und mich ununterbrochen anstarrten. Eine von ihnen trug ein weißes Handtuch auf den Armen, während die andere vermutlich irgendwelche Kleidung für mich hatte.
“Benötigen Sie medizinische Betreuung?” Die zweite Frage kam ebenfalls wie aus einem Munde und in einem derart emotionslosen Ton, dass es mir eine Gänsehaut bereitete.
“Nein. Verschwindet”, erwiderte ich verärgert, wie bereits dutzende Male zuvor, auch wenn es nichts brachte.
“Damit kann ich nicht dienen. Ungültiger Befehl.” Ja. Mittlerweile war ich mir sicher, dass es sich hierbei nicht um Menschen handelte – die beiden irgendwas aus Rea-Technik waren. Ob es hier überhaupt richtige Menschen gab, wagte ich zu bezweifeln. Deswegen hatte Hendrick das vermutlich auch gesagt. Er hatte geglaubt, ich wäre wie die da geworden. Vielleicht würde ich tatsächlich irgendwann so werden. Abgestumpft. Ohne Gefühle. Nichts weiter als eine Spielfigur, die sein Vater nach belieben benutzen konnte. Und wenn er mich nicht mehr brauchte–
“Sterben ...”, flüsterte ich und blickte dabei unwillkürlich auf meinen rechten Unterarm. Die Schwellung war inzwischen noch größer und schmerzhafter geworden. Mit etwas Glück nur eine Prellung – mit Pech ein Bruch. Dieser Kampf hatte mir sehr deutlich vor Augen geführt, wie schnell mir hier etwas passieren konnte. Und das einfach nur, weil ich in der Nähe gestanden hatte. Mein Körper war übersät von Blutergüssen und Schrammen, was aber im Vergleich zu dem Flur und den angrenzenden Räumlichkeiten fast schon in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Es glich einem Wunder, dass ich noch lebte.
Hendrick hatte aus dem Nichts einen gewaltigen Sturm entfacht. Selbst draußen war mir solch Naturgewalt noch nie untergekommen. Kreischende Blitze rissen die Wände entzwei – durchtrennten dickstes Metall. Heulende Windböen schleuderten mich spielend durch die Gegend – mich und sämtliche Einrichtungsgegenstände. Sein Vater war davon jedoch gänzlich unbeeindruckt und vor allem unverletzt geblieben. Einzig seine Haut hatte sich seltsam schwarz gefärbt, aber selbst das hatte eher den Anschein einer unüberwindbaren Rüstung gehabt. Konnte man den überhaupt töten?
Ich wurde aus diesem Monster – aus diesem was-auch-immer Rea einfach nicht schlau. Er hatte diese Situation provoziert. Ich war nur ein Vorwand gewesen, damit er gegen Hendrick kämpfen konnte. Das lag auf der Hand. Aber. Warum bloß? Hass war es definitiv nicht gewesen. Nein. Dafür hatte er danach viel zu liebevoll ausgesehen, als er seinen bewusstlosen Sohn davon trug. Dass ich mich bei all dem Chaos verletzt hatte, war ihm gar nicht aufgefallen. Zum Glück. Seine Aufmerksamkeit wollte ich nach dieser verstörenden Darbietung auf keinen Fall auf mich ziehen. Dafür kamen–
Plötzlich löschte das Licht. Ich blickte verwirrt in unendliche Schwärze. Lautes Poltern folgte, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Irgendetwas Massives war auf den gefliesten Boden aufgeschlagen.
“Ha-hallo?” Die Frage kam mir selbst dumm vor, aber mehr brachte mein panischer Verstand nicht zustande. Dass die komischen Bediensteten ebenfalls kein Wort sagten, machte es nicht besser. Was sollte das? Wieso ging das magische Licht nicht wieder an? Gott, kam jetzt das nächste Spiel?
*
Minuten verstrichen, in denen ich angestrengt in die Dunkelheit lauschte. Keinen Muskel bewegte. Vielleicht war das hier auch so ein Raum, wo man durch die Wände konnte. Das hatte ich vorher gar nicht überprüft. War nur froh gewesen, dass man mich in dieses Zimmer brachte und ich meine Notdurft verrichten, sowie ein Bad nehmen konnte.
Gott, die Angst wurde unerträglich. Ich hörte meinen Herzschlag donnernd in den Ohren rauschen. Sonst passierte allerdings nichts. Keine Schritte. Keine anderen Geräusche. Nur mein Atem und diese unheimliche schwarze Stille. Ich war allein. Oder? Ob die Bediensteten noch da hinten standen und mich beobachteten?
“Könnt ihr bitte wieder das Licht anmachen?” Nichts. Keine Antwort. So viel dazu. Gut. Mir reichte es jetzt auch. Ich konnte nicht ewig bibbernd in dem Wasser sitzen. Egal, was das für ein Spiel sein sollte, es würde so oder so passieren. Da konnte ich auch hinausgehen.
“Oh ...” Überraschend stellte ich fest, dass ich mich gar nicht bewegen konnte. Jedenfalls nicht im ersten Anlauf. Das Wasser war fest. Überall um mich herum hatte sich Eis gebildet, aber warum? Ich hatte schließlich keinen Gedanken daran verschwendet. Als ich das letzte Mal gegen das Monster hatte kämpfen wollen, entstand nur ein bisschen Raureif. Völlig nutzlos. Aber jetzt? Es war massiv und steinhart.
“Na toll.” Schwerfällig mühte ich mich ab, freizukommen. Scharf zog ich dabei hin und wieder die Luft ein. Mein verletzter Arm bedankte sich für jede noch so kleine Belastung mit einem fürchterlich pochenden Schmerz. Es ging jedoch nicht anders. Ich wusste nicht, wie sich das glatte oder stellenweise scharfkantige Eis wieder auflösen ließ. Mir blieb allein mich mit reiner Körperkraft dagegenzustemmen.
*
Ich wusste nicht, wie lange ich dafür brauchte, aber irgendwann war es geschafft. Erschöpft und weiterhin sehr verunsichert stützte ich mich am Rand der edlen Wanne ab. Diese Dunkelheit mochte ich nicht. Kein Restlicht half mir, wenigstens kleine Umrisse zu erkennen. Zum Glück wusste ich noch grob, wo sich die Tür befand.
“Ahh! Gott!” Das plötzliche Auftauchen von leuchtend weißen Augen ein paar Meter rechts von mir, hatte mir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Ich brauchte einen Moment, um diese als meine zu erkennen. Eine Spiegelung. Natürlich.
Ein paar tapsige Schritte weiter, stießen meine Zehen gegen Stoff. Ich bückte mich und erfühlte ein Handtuch. Ein Handtuch und – bei den Monden – eine Hand! Panisch zuckte ich zurück, rutschte aus und landete auf meinem Hintern. Reflexartig hatten meine Arme den Sturz abfangen wollen, was keine gute Idee war. Sofort stiegen mir Tränen in die Augen.
“Bei Gott tut das weh ...” Schniefend hielt ich mir den rechten Unterarm, welcher sich immer schrecklicher anfühlte. Bestimmt war er gebrochen. Schlimmer konnte es wohl kaum noch werden. Oder? Was war das für eine Hand gewesen? Und wollte ich das überhaupt wissen?
Ich verdrängte letztlich die Angst. Schluckte meinen Schmerz hinunter und biss die Zähne fest zusammen. Wagte mich mit rasendem Herzschlag wieder vor. Ich zog das Handtuch zu mir und prüfte mit federleichten Berührungen meiner Fingerspitzen, was sich da noch befand.
Eine Schulter. Ein Kopf. Der Körper einer der Bediensteten? An ihrem Handgelenk spürte ich keinen Herzschlag und auch an ihrer Nase keinen Atemzug. Prüfend tastete ich ein Stück weit neben ihr und fand dort auch die andere. Verrückt. Warum lagen die hier wie leblose Puppen auf dem Boden? Hatte das etwas mit dem Licht zu tun?
Mir fiel keine Lösung ein, war jedoch dankbar für das Handtuch. Ich schlang den weichen Stoff um meine Schultern und begann mich behutsam abzutrocknen. Alles an mir fühlte sich mittlerweile kalt und seltsam taub an. Von den vielen kleinen Schmerzherden mal abgesehen.
Anschließend ging ich langsam in die Richtung, wo ich die Tür vermutete. Hoffentlich gab es wenigstens im Wohnzimmer Licht und falls nicht – eine Kerze oder Öllampe. Ich wollte nicht länger in–
<<BÄMM>>
Plötzlich und ohne Vorwarnung knallte mir etwas Hartes dermaßen stark gegen den Kopf, dass ich für einen Moment nicht mehr wusste, wo oder wer ich war. Sternchen und bunte Punkte tanzten vor meinen Augen. Benommen taumelte ich und verlor das Gleichgewicht. Ich hörte lautes Knirschen mitsamt einem ängstlichen Schrei, der nicht aus meinem Mund stammte. Bei Del und Cor, ich war völlig überfordert. Hatte keine Ahnung, was hier gerade passierte. Ich spürte nur noch, wie sich dickes Eis um meinen Körper schlang – mich stützte. Und dann – kehrte wieder vollkommene Ruhe ein. Ruhe und die Dunkelheit.
“Bitte tu mir nichts!”, sprach eine sehr junge Stimme, die ich noch nie gehört hatte. In ihr schwang Angst und Unsicherheit mit.
“Ich mache Licht, in Ordnung? Bitte kein Eis mehr beschwören.” Ich blinzelte verwirrt. Was meinte er damit? Gott, mein Schädel drehte sich immer noch. Als es dann tatsächlich hell wurde, verstand ich erst seine Worte. Überall an mir und um mich herum hatten sich richtige Säulen gebildet. Grob erkannte ich das Badezimmer und die Tür, welche mich wohl getroffen haben musste.
“Tut mir leid, ich wollte nicht so hereinstürmen und dich auch auf gar keinen Fall verletzen ...”, der Junge schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln, was mir sofort ein Unbehagen bereitete. Gott, das war ein Rea! Er sah Lichius unglaublich ähnlich. Er hatte auch diese goldgelben kurze Haare, helle Haut und dann diese Augen! Eins leuchtend weiß und das andere gelb. Prompt wuchs das Eis in dem er steckte von seinem Brustkorb hinauf bis zum Hals.
“Ahh! Nicht, bitte! Ich tu dir doch nichts, Dezeria.”
“Du gehörst zu ihnen!”, platzte es zornig aus mir heraus, während die Kristalle unerbittlich zu seinem Kopf wanderten. Ich dachte nicht im Traum daran, ihn frei zu lassen. Mein Eis funktionierte. Ich war nicht mehr hilflos!
“W-was? Ich? Wieso ... warte! Ahh!”
Schlagartig wurde es dunkel. Warum? Und schlimmer noch, ich steckte selbst fest. Kam nicht von der Stelle. Na fabelhaft. Verärgert kämpfte ich mich aus dem Gebilde – brach schnaufend Zacken für Zacken von meinem Körper.
“Himmel, ist das kalt ... tut dir das nicht selbst weh? Da ist mir mein Licht tausendmal lieber.” Verwirrt hielt ich inne.
“Dein Licht? Dann ist es deinetwegen wieder dunkel? Mach es wieder an!”
“Nö. Nimm du erstmal dein Eis von mir. Es ist unangenehm u-und kalt.”
Ich runzelte die Stirn, was mir sogleich weitere Kopfschmerzen einbrachte. “Au ... Ich verhandle nicht mit dir! Mach sofort das Licht an!”
“Keine Chance. Wenn du mich nichts siehst, kannst du mich auch nicht gezielt mit deinem Eis angreifen. D-du hast Angst vor mir. Das kann ich verstehen. Ich habe das Spiel um dich verfolgt. Es-s tut mir leid, was mit dir passiert ist, aber sei versichert, dass ich nicht hier bin, um dich zu verletzen ... D-as mit der Tür war nur ein Unfall, ehrlich! Ich bin doch wie du ... Na ja, nicht ganz. A-aber so ähnlich. Außerdem bin ich nur hier, um nach dir zu s-sehen. Leo hat sämtliche Systeme des Schiffes wegen einem Fehler abschalten müssen. Er hat dich dann auch nicht mehr gespürt, deswegen bin-n ich hier. Ich musste nur nachsehen, ob es dir gut geht ... Bitte. Ich will Suciu nicht so lange allein lassen. Sie fürchtet die D-Dunkelheit.”
“Du bist wie ich?” Jetzt war ich nur noch verwirrt. “Und wer sind außerdem Leo und Sutio?”
“J-ja ... sieh. Aber bitte k-kein Eis mehr.” Das Licht kehrte zurück. Ein kleiner heller Faden bildete sich über ihm und flog langsam einen Kreis. Ich blinzelte. Er konnte das machen? “Leo i-ist der Rea, dem hier alles gehört und Suciu ist auch wie d-du und ich.”
Ich musterte ihn skeptisch. Ein verdammt junger Mann. Klein. Schlank. Einfache schmucklose Kleidung. Die Augen zugekniffen, weil sich bereits hauchdünne Kristalle darübergelegt hatten. Er wirkte harmlos. Dennoch. Wie konnte ich ihm glauben, wenn er von diesem Rea-Monster so ruhig und gelassen sprach? Und dann auch noch in seinem Auftrag handelte? Vielleicht war das leuchtende Weiß ja nur eine von diesen komplizierten Technikdingern und keine Zauberei. Alles nur ein Teil des Spiels.
“Es gibt noch mehr von uns? Warum sollte ich dir irgendetwas glauben? Wer bist du überhaupt?”
“Himmel, k-können wir uns v-vielleicht ohne dein Eis-s unterhalten? Bitte. E-es ist fürchterlich kalt.” Er zitterte und seine Lippen wurden blau. Irgendwie tat er mir dadurch leid.
“Das ... geht nicht”, murrte ich peinlich berührt und versuchte zugleich selbst meine Füße aus dem Eishaufen zu befreien.
“W-wie meinst d-du das? Bitte. I-ich schwöre, dass ich d-dir nichts antun werde.”
Plötzlich ging das magische Licht von überall her wieder im Zimmer an und auch die beiden Bediensteten am Boden rührten sich. Sie standen etwas ungelenk auf und drehten sich zu uns. Toll. Die hatten mir gerade noch gefehlt.