-‡Johannas Sicht‡-
Es war mal wieder einer dieser schrecklichen Tage. Leid lähmte meinen gesamten Körper. Ich konnte kaum atmen, geschweige, richtig die Augen öffnen. Dunkelheit umgab mich. Tiefstes Schwarz und unerträgliche Schmerzen. Ja, die typischen Folterspiele meines Meisters. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es dazu kam. Warum er mich dieses Mal quälte. Aber. Es war auch nicht wichtig. Er brauchte noch nie eine echte Begründung dafür.
Wann immer ich dergleichen durchleben musste, verschloss ich meinen Geist. Kroch tief in die hinterste Ecke meines Verstandes. Nur so schaffte ich es, nicht zu brechen wie all die anderen Sklaven hier. Irgendwann würde es schon wieder aufhören. Irgendwann. Es war schließlich nur ein Tag von vielen.
Heute jedoch musste die Folter wirklich schlimm sein, denn ich sah blaues sanftes Licht, wie ich es nur selten vermochte. Ich wusste nicht warum, aber dieser Schein hatte mir schon immer Trost in besonders schweren Zeiten gebracht. Dieses Gefühl von Geborgenheit – ich liebte es. Auch wenn ich wusste, dass es nicht echt war. Ja. Pure Einbildung. Nur ein Traum, der verhindert, dass ich tiefer noch in diese Dunkelheit fiel. Etwas, das mich ungewollt am Leben hielt. Dennoch – ich liebte es. Genauso oft, wie ich den Tod herbeisehnte, wollte ich deswegen auch leben. Eigentlich nur deswegen.
Plötzlich kam die Kälte. Sanfte, angenehme Kälte, die durch mich hindurch floss. Sie legte sich wie ein samtiger Schleier um meine Seele. Der Schmerz verging Stück für Stück, bis ich kein Leid mehr verspürte. Ich fühlte mich wunderbar. Was mich kurz darauf irritierte – das blaue Licht blieb weiterhin bestehen. Das war höchst ungewöhnlich. Auch, dass es mich noch stärker zu umhüllen versuchte. Eigentlich verschwand es immer dann, wenn es mir besser ging. Ließ mich allein, bis neue Folter uns wieder zusammenführte.
Langsam öffnete ich meine Lider und sah im ersten Moment nichts als Dunkelheit. Normalerweise hätte es mir angst gemacht, doch empfand ich noch immer alles, wie in meinem Traum. Ich fühlte mich herrlich geborgen und unglaublich sicher. Als hielt mich das Licht richtig im Arm und schirmte mich von jedem negativen Gefühl ab. Ich lächelte. Was auch immer mein Meister getan hatte, dass ich noch derart benommen war, ich genoss jeden Moment davon.
Glücklich blickte ich auf und fand leuchtend blaue Augen. Ein wallendes Meer spiegelte sich darinnen und verdeutlichte mir einmal mehr, dass es sich hierbei nur um einen Traum handeln konnte. Wobei. Ich hatte das schon einmal gesehen. Grau und glanzlos hatten sie mich angefleht. Dem Tode nahe.
“Ze-Zerian?”, fragte ich leise und als er es tatsächlich bejahte, viel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Er lebte. Es ging ihm gut. Aus einem tiefen Bedürfnis heraus, zog ich seinen Kopf noch ein bisschen zu mir und legte meine Lippen behutsam auf die seinen.
Sofort explodierte der Himmel. Mein Herz raste. Noch nie hatte sich in meinem Leben etwas derart gut angefühlt. Befreiend. Lebendig. Geradezu mächtig. Ich spürte seine weichen Lippen und wollte mehr. Viel mehr! Umschlang seinen Nacken und hielt ihn stärker noch in diesem Kuss gefangen, den er ebenso feurig erwiderte. Ich verlor mich in seinem Geschmack und versank vollkommen in dieser unendlichen Zuneigung. Einfach atemberaubend.
Es dauerte eine Weile, bis mein träger Verstand einige Dinge realisierte, die nicht zusammenpassten. Wenn dies ein Folterspiel war, warum schmerzte es dann nicht? Wenn mein Meister mir Drogen verabreicht hatte, wieso war mein Geist denn so klar? Und wieso– “Mhhh!”, stöhnte ich gegen Zerians Mund, als seine kühlen Finger wohlige Schauer durch meinen Körper jagten. Mich mit jeder Berührung schier in Flammen setzten. Ich stutzte. Dieses intensive Gefühl – das kann unmöglich ein Traum sein!
Schwer keuchend unterbrach ich unseren Kuss und sah ihn an. “Zerian? Das hier ist ... echt, oder?” “Echt. Richtig. Nur du und ich”, erwidert er und wollte mich erneut küssen, doch ich hielt sein Gesicht penibel auf Abstand. “Wo sind wir? Hat man uns gefangen genommen?”, fragte ich vorsichtig und blickte umher. Dunkelheit. Nur hin und wieder vereinzelte dumpfe Lichtstrahlen. Es plätscherte überall. Hatte man uns etwa in einen feuchten alten Keller geworfen?
“Weiß nicht so genau. Vermutlich ein abgestürztes Schiff der Adligen.” “Abgestürzt?”, echote ich besorgt und schälte mich sofort aus seiner Umarmung. “Wir haben die Flucht geschafft? Was ist mit Reznick und Heka? Geht es ihnen gut?” “Ich weiß leider nicht, wer genau Heka ist und Reznick war bewusstlos.” Seine Hände wanderten streichelnd zu meinem Gesicht, welche ich umgehend stoppte. “Dann hast du ihn gesehen? Ist er schwer verletzt gewesen? Schnell, bitte bring mich zu ihm!” Mühselig rappelte ich mich auf und versuchte, mehr vom einstigen Schiff zu erkennen. Aber. Vergeblich. Ich sah nur schemenhafte Umrisse der Trümmerteile.
“Was willst du von ihm? Er ist nicht gut für dich”, sprach Zerian mit deutlichem Missfallen in der Stimme und stellte sich dich an meine Seite. Seine blauen Augen unablässig auf mir. “Nicht gut?”, fragte ich hingegen, denn ich verstand nicht, was er meinte.
“Ich will nicht, dass er dir weh tut. Niemand darf dir Schmerzen bereiten.” Er umarmte mich – drückte mich fest an seine kühle Brust. Ich wollte etwas dazu sagen, aber da trafen unsere Lippen auch schon erneut aufeinander. Ein Schauer nach dem anderen raste über meine Haut. Setzte mein Innerstes in Brand. Wie schafft er das nur so einfach? Ich bin doch keineswegs derart empfindlich! Kaum gedacht hatte ich auch schon meine Arme um ihn geschlungen und den Kuss intensiviert. Verdammt, offensichtlich bin ich es doch! Hilfe, was tue ich hier eigentlich?
Das war nicht richtig. Irgendwo in meinem Kopf wusste ich, dass ich unter normalen Umständen nie begierig auf einen Mann reagieren würde. Nie liebebedürftig gewesen bin. Und es vor allem nicht bei einem Mann sein sollte, der gerade erst beim Sex mit einer anderen Frau fast zu Tode gefoltert worden war.
Keuchend löste ich mich von ihm. “Wir sollten das nicht tun ...”, sagte ich und drückte beständig gegen seine muskulösen Schultern. Brauchte dringend Abstand. “Du zweifelst. Warum?”, fragte er sofort und fuhr sanft über meine Oberarme. Es kribbelte erfrischend und verursachte ein wundervolles Hochgefühl in meinem Innern. Ohhh Himmel, wie sehr mein Körper danach verlangte.
“Weil ... es weder die richtige Zeit, noch der richtige Ort ist. Bitte, bring mich zu Reznick.” Seine wunderschönen Augen verengten sich. “Aber ... ich fühle, was du fühlst. Wir gehören zusammen.” Okay. Das ist irgendwie süß, wenn auch zugleich unheimlich. Ich mein, ja, ich spürte auch deutlich diese tiefe Verbindung zwischen uns, aber. Das ist doch nicht normal! Vielleicht sind einige medizinischen Substanzen von Reznick hier ausgelaufen und vernebeln unsere Sinne. Ja, das klingt plausibel. So muss es sein.
“Reznick ist nicht gut. Ich bin gut”, sprach Zerian nach einem Moment der Stille und wollte mich ganz offensichtlich noch einmal küssen. Ich seufzte leicht frustriert und wich ihm aus. “Ich will auch nicht mit ihm rummachen, sondern helfen. Heka muss hier auch noch irgendwo sein. Bitte sei vernünftig, wir stehen vermutlich sowieso nur unter dem Einfluss irgendeiner Droge.” “Einfluss? Du meinst Rausch? Etwas Künstliches? Nein. Das ist echt. Ich fühle es. Fühle dich mit jeder Faser meines Menschseins. Du hast mich geheilt. Mich aus den Schmerzen und der Dunkelheit befreit. Du bist meine kleine Sonne. Das Licht in meinem Inneren. Ich will nicht mehr ohne dich sein.” O Mann. Bei diesen Worten wurden meine Knie weich wie Butter. Seine liebevolle, sinnliche Stimme bereitete mir eine Gänsehaut. Sehnsucht nach seiner Nähe wallte in mir. Ich wollte nur noch in seinen Armen liegen und–
Plötzlich krachte es bedrohlich, was mir umgehend sämtliche Lust austrieb. Ein metallisches Kreischen folgte sowie ein greller Blitz, der sich an der Decke entlang schlängelte. Die Helligkeit brannte schmerzhaft in den Augen und bunte Lichtpunkte tanzten unaufhörlich in meinem Sichtfeld. Mist. Nun konnte ich rein gar nichts mehr erkennen.
“Zerian, wir müssen hier raus!”, rief ich aufgewühlt und klammerte mich zugleich an ihm fest. “Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir.” Er drückte mich zärtlich und blieb vollkommen ruhig, während ich besorgt in jede Richtung lauschte. “Nachher stürzt hier noch was ein und begräbt uns! Los, bitte. Bring mich zu Reznick, wir müssen ihm helfen.” “Willst du nun hier raus oder zu Reznick?” Ich seufzte. “Na erst Reznick und Heka retten und dann hier raus. Komm schon Zerian, bitte.” Er schloss die Augen und schien darüber nachzudenken.
“Na schön. Gehen wir. Ich wollte ja auch noch Antworten bekommen.” Er drehte sich herum und zog mich an der Hand mit sich. “Antworten?”, fragte ich verwirrt und stolperte ihm blind hinterher. So absolut nichts zu sehen, und dann auch noch über unebenen Boden zu gehen, ließ unliebsame Erinnerungen hochkommen.
Mein Meister hatte mich oft betäubt und in absolut schwarze Labyrinthe gesperrt. Ein Spiel. Natürlich. Entweder man fand heraus und quälte sich durch unzählige Fallen oder brach aufgrund von Dehydration zusammen. Wenn man es nicht schaffte – gab es noch tagelang Peitschenhiebe, bis einem das Blut in strömen vom Rücken floss.
“Woran denkst du?”, fragte er besorgt und wurde deutlich langsamer. “An früher ... Ist nicht so wichtig.” “Erzähl mir davon. Es belastet dich. Ich möchte doch, dass du glücklich bist.” Ich lächelte. “Ich bin glücklich.” Er hielt an und drehte sich herum – sah mich mit diesen blauen Augen an, in denen ich nur zu gerne versank. Die Erinnerungen an meine Folter verblassten. Es tat unglaublich gut, bei ihm zu sein. Ihm nahe zu sein.
“Warum habe ich denn deine Angst gespürt?”, fragte er und umfasste behutsam mein Gesicht. “Es war nur eine Erinnerung ...”, hauchte ich und ignorierte weiterhin die Tatsache, dass er glaubte, meine Gefühle zu kennen. Es schien mir nicht falsch, obwohl es das sein sollte. So etwas konnte schließlich keiner. Und doch. Ich empfand ebenso. In seiner Stimme hörte ich unendliche Liebe und hingebungsvolle Fürsorge. Sah es in seinen Augen und fühlte es in jeder seiner Berührungen.
Ein erneuter Kuss folgte, denn ich nur zu gerne entgegennahm. Er wollte mich küssen und ich von ihm geküsst werden. Es war fast wie ein Fluch. Ein atemberaubender Fluch, der sich unfassbar wohltuend anfühlte. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.
“Besser?”, fragte er mich, als sich unsere Lippen trennten. Ich nickte völlig berauscht und unfähig zu sprechen, woraufhin er langsam seine Hände runter nahm und auch etwas Abstand zwischen uns brachte. “Gut. Hier geht es jetzt abwärts und es wird etwas eng. Pass bitte auf deinen Kopf auf.” “Hm? Oh, ja. Danke”, stammelte ich, während mein Lächeln immer größer wurde. So ein Mann ist mir echt noch nie begegnet.
Wie er gesagt hatte, ging es ein Stück in die Tiefe. Obwohl sich meine Augen langsam an das wenige Licht gewöhnten, wurde es immer dunkler. Unheimlich, aber das machte mir nichts. Ich vertraute ihm. Dass er ununterbrochen meine Hand hielt, half dabei enorm. Problemlos führte er mich den Weg entlang. Vorsichtig an jedem Hindernis vorbei.
Es war seltsam, dass er so genau wusste, wo es lang ging. Konnte er etwa wie viele Adlige im Dunkeln sehen? Welchen Stand er wohl hatte? Er war mit der Frau des Grafen unterwegs gewesen und man hatte ihn bei dem Kirchenritual opfern wollen – ein Sklave also? Nein. Dafür wirkte er zu unbefleckt. Ein gefallener Rea vielleicht? Gerade als ich ihn fragen wollte, knackte es bedrohlich. Metall ächzte. Irgendetwas stürzte hinab. Und dann – war da nur noch Wasser.
“Ahhh!” Eine starke Welle prallte gegen meine Beine. Panisch riss ich mich von Zerian los und versuchte, irgendwo hinauf zu klettern. Höher zu kommen. “Schnell! Raus hier!” Angst peitschte mich voran. Aber. Nichts als dumpfe Umrisse erkannte ich. Meine feuchten Hände fanden keinen Halt. Verdammt! Mein Kopf war so leer. Das kühle Nass umspielte immer weiter meinen Beinen – ging mir bereits bis zur Hüfte. Ertrinken! Ich werde ertrinken!
“Was hast du?” Plötzlich wurde ich gepackt und fest an eine mir nur allzu bekannte Brust gepresst. “Zerian! Wir ertrinken!”, keuchte ich und zappelte wild um mein Leben. Mein Herz raste. Ich wollte nicht sterben. Nicht so!
“Alles gut. Ich bin da. Ich beschütze dich.” Kaum hatte er es ausgesprochen, fühlte ich nicht einmal mehr einen Tropfen auf meiner Haut. Der Boden – war trocken? Verwirrt hielt ich inne. Habe ich mir das gerade nur eingebildet? “Was ist da gerade passiert?” Verstört sah ich zu ihm auf. “Warum fürchtest du dich vor dem Wasser?” Er hörte sich seltsam niedergeschlagen an.
“Ich ... mag es halt einfach nicht”, murrte ich und senkte den Kopf wieder. “Es sind eben keine schönen Erinnerungen daran geknüpft.” Ich verengte die Augen, um besser sehen zu können. Doch ich fand keine Spiegelung. Kein Schimmern von Feuchtigkeit am Boden oder den Wänden. Seltsam. Nicht einmal das leise Plätschern von Regentropfen konnte ich noch hören.
“Wieso? Sag es mir”, sprach Zerian nun mit deutlich belegter Stimme, als hätte ich ihn persönlich beleidigt. Ein sonderliches Gefühl von Enttäuschung keimte in mir auf. Warum? Hatte ich vielleicht etwas in meiner Angst getan oder gesagt, das ihn gekränkt hatte? O bitte nicht!
“Es tut mir leid ...”, begann ich und umfasste vorsichtig sein Gesicht. “So eine verfickte Scheiße! MEIN ZUHAUSE!” Ich horchte überrascht auf. Das ist doch– “Reznick?!” “Was zum ... Johanna?! Du hast den Absturz überlebt? Bist du noch in einem Stück?”, hallte es etwas entfernt durch die Trümmer. Das war eindeutig Reznick. Mir fiel ein Stein vom Herzen. “Uns geht es gut!” “Uns? Wer zur Hölle is bei dir?” “Na Zerian!” Im selben Atemzug blickte ich diesen mit einem Lächeln an.
“Komm, lass uns zu ihm, ja? Führst du mich bitte das Stück noch durchs Schiff?” Seine klaren blauen Augen starrten mich an. Was überlegte er da jetzt großartig? “Zerian?” “Na gut.” Er schien alles andere als begeistert. Hm. Hoffentlich vertragen sich die zwei später. Ich hatte keine Lust auf eine sinnlose Zankerei. Ich wollte nur Reznick und Heka holen – danach nichts wie raus hier!