“Gefahr festgestellt. Hilfe eingeleitet.” Die beiden Frauen machten sich sofort an die Arbeit, uns von dem hartnäckigen Eis zu befreien. Es ärgerte mich dabei immer mehr, dass ich keine wirkliche Kontrolle hatte. Ich konnte das Eis zwar rufen, aber nicht wieder auflösen. Wieso war das so verflucht kompliziert?
“Himmel ja-a! D-danke ... Vielen Dank!” Der Fremde war sichtlich erleichtert, als er nicht länger bis zum Halse im Kühlen feststeckte. Ich wurde allerdings nach wie vor nicht schlau aus ihm. Er verhielt sich nicht wie Lichius oder Richard und auch sonst – er wirkte seltsam normal. Allein schon, dass er sich die Hände vor die Augen schlug, als er meine Nacktheit bemerkte, war im Vergleich zu den anderen schon außergewöhnlich.
“Oh! Entschuldige! Ich wusste nicht ...” Schnell drehte er sich herum und knallte mit dem Gesicht volle Kanne gegen den Türrahmen, als er das Bad fluchtartig verlassen wollte. “Aaah ... Woah ... M-mheine N-Nhase!”
“Junger Herr Elian, benötigt Ihr medizinische Betreuung?”, fragte eine der Damen und lief ihm hinterher. Ich beeilte mich unterdessen, die für mich bestimmte Kleidung aufzusammeln und anzuziehen. Die weiße Unterwäsche passte zum Glück schonmal.
“N-nein, nein. Ist in Ordnung. I-ich wollte ohnehin gehen.” Ich hielt in der Bewegung inne. Er wollte gehen? So nicht!
“Hey! Warte!” Ich riss mir hektisch das blaue Kleid über den Kopf, was mein verletzter Arm alles andere als gut fand. “Du kannst doch jetzt nicht abhauen! Du bist der erste, mit dem ich hier vernünftig reden kann!” Ich stolperte ins Wohnzimmer, wo er gerade die Tür nach draußen ansteuerte.
“Hm?” Er blickte fragend zurück und noch bevor ich irgendeinen klaren Gedanken dazu hatte schoss eine Eiswelle direkt auf ihn zu. “Ahhhhh!” Eine dicke Kristallschicht überzog blitzschnell Teile seines Körpers sowie auch die Wand hinter ihm.
“Gott, das wollte ich nicht!” Nun. Nicht wirklich zumindest. Aber irgendwie war ich auch froh, dass er so nicht mehr weglaufen konnte. Die Tür hatte ich erfolgreich blockiert. Und mich zu meinem Leidwesen auch wieder selbst am Boden festgefroren. Das nervte.
“Hilfe!” Er zappelte panisch. “W-warum tust du mir das an? E-es ist s-so schrecklich k-kalt!” Beide Bediensteten eilten zu ihm. Eine befreite ihn vorsichtig, während die andere kurz vor ihm anhielt und starr die Umgebung musterte. Sie blickte auch zu mir, was unangenehm war. Erstens, weil ich an der Sache schuld hatte und zweitens – ich bekam meine verdammten Beine nicht aus dem blöden Eis. Es hielt mich gefangen und mit nur einem funktionierenden Arm würde ich da nie rauskommen. Zumal mir in den Fingern schon sämtliche Kraft fehlte.
“Angriff auf den jungen Herrn Elian registriert. Sicherheitsprotokoll wurde verletzt. Kein Ursprung erkennbar. Vorfall wird weitergeleitet.” Verwirrt sah ich sie an. Angriff? Ich hatte ihn doch nicht wirklich verletzt, oder? Gott! Bitte nicht! Von meiner Position aus ließ sich leider nicht viel erkennen. Allein dass er Angst hatte, spiegelte sich überdeutlich in seinem Gesicht. Das war richtig seltsam. Ob er mir das vorspielte?
“Hör auf Leo anzurufen und h-hilf mir lieber hier r-raus! Himmel, w-wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben.” Mit einem letzten kräftigen Ruck stand er frei und klopfte sich erstmal die übriggebliebenen Kristallreste ab. “W-wieso muss es ausgerechnet Eis sein? U-und dann auch noch so kaltes Eis!”
“Verbindung steht. Sprachlink wird geöffnet: ... Elian? Was ist los? Ist was mit ihr passiert?” Ich versteifte. Aus dem Mund der Frau ertönte eindeutig die Stimme des Monsters! Wie konnte das sein?
“M-mit ihr? Was ist mit mir? Sie hat mich vereist! D-du hast aber gesagt, sie kann mir nichts tun! Du hast mich angelogen! Mich!” Die Stimme des Jungen klang eigenartig wehleidig und geradezu theatralisch fasste er sich an die Brust. “Wie willst du das nur jemals wieder gutmachen?” Ich stand einfach nur da und starrte ihn ungläubig an. Wie redete er denn mit dem Rea? Er hatte keinerlei Furcht – noch nicht einmal Respekt.
“Wie ... verreist? Willst du meine Nerven ernsthaft wegen ein bisschen Raureif strapazieren? Ich wollte von dir wissen, wie es ihr geht. Also?”
“Ha, von wegen Raureif! Aber ja, es geht ihr gut. Oder?” Sein prüfender Blick ging zu mir. Plötzlich wirkte er äußerst schockiert. “Oh je, dein Arm! War ... war ich das? Hast du Schmerzen?” Er kam vorsichtig auf mich zu.
“Elian! Ich habe im Moment Wichtigeres zu tun, als mir dein Theater anzuhören. Wenn sie wohlauf ist, geh zurück in dein Zimmer! Ich kümmere mich nachher selbst um alles Weitere ... Sprachlink wurde abgebrochen. Verbindung beendet.” Das letzte kam wieder völlig emotionslos von der Frau, was ich ehrlich begrüßte. Ich wollte diese finstere Stimme nicht länger hören. Dass er angekündigt hatte, sich nachher erneut selbst um mich zu kümmern, bereitete mir eine Gänsehaut.
“D-Dezeria? Darf ich mir das mal ansehen, ohne, dass du mich wieder einfrierst?” Er deutete auf meine mittlerweile schwarz-violett gewordene Prellung. “Ich wusste nicht, dass ich dich so schwer mit der Tür getroffen habe ... Oh, du hast ja überall blaue Flecke. Sind die alle von mir?”
“Nein ...” Mehr brachte ich irgendwie nicht heraus. Seine Art verwirrte mich. Er gehörte definitiv zu dem Rea und dann doch wieder nicht. Oder? Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein – wünschte es mir verzweifelt. Ich wollte nur einen guten Menschen haben. Nur einen, der mir half, wie Reznick es getan hatte.
“Holt Henriette sofort aus dem Eis und versorgt ihre Wunden”, sprach er streng zu den Bediensteten und allein dieser falsche Name ließ all meine Hoffnungen in sich zusammenfallen. Er war nicht anders.
“Ich heiße nicht so! Und die sollen mich ja nicht anfassen!” Neues Eis wuchs am Boden und fror die Frauen vollständig ein. Mich natürlich auch gleich noch schlimmer als zuvor. Das Kristallgebilde kletterte bis zu meiner Hüfte. Als Elian das sah, wurden seine Augen groß und schnell hechtete er hinter ein nahestehendes Sofa.
“Ooh bitte, Dezeria! Es ist doch nur ein Name, um den Puppen ein Befehl zu geben!” Vorsichtig lugte er hinter der Lehne hervor. “Leo macht das immer so. Wenn du alleine sein willst, dann gehe ich, ja? Wenn du mich lässt, bin ich sofort verschwunden! Du musst nur das Eis von der Tür wegmachen, in Ordnung?”
“Nein! Gar nichts ist in Ordnung!” Tränen bildeten sich. Mittlerweile fühlte ich nur noch Schmerzen und Erschöpfung. “Ich bin hier gefangen! Und ihr macht euch nichts weiter als einen Spaß daraus! Mir tut alles weh ... Ich ... ich will nach Hause, aber das geht nicht, weil meine Eltern ermordet wurden. Ich hasse mein Leben!”
“Aber du hast wenigstens noch eines. Viele können das nicht von sich behaupten und ich für meinen Teil bin froh, hier zu sein.” Er stand ganz langsam auf. “I-ich will mich nicht mit dir streiten, okay? Nicht mal hier sein. Du kannst–”
“Ich will auch nicht hier sein! Und dass ich noch lebe, habe ich auch nie gewollt! Zerian hat aus mir eine Hexe gemacht und ... und ... Sieh mich doch an!” Wütend über meine Unfähigkeit auch nur irgendwas mit dem Eis richtig auf die Reihe zu bekommen, donnerte ich mit der Faust auf das massive Gebilde. “Bei Gott, lass mich los!”
“Dezeria?” Auf einmal schlängelte sich ein leuchtender Faden direkt in mein Sichtfeld. “Dezeria? Bitte lass das, du tust dir nur selbst weh.” Das weiche Licht tanzte vor meinen Augen. Zog eine Acht nach der anderen. Es wirkte seltsam beruhigend.
“Ich weiß nicht, was ich zu dir sagen soll oder kann. Es ist schwer, mit instabilen ein vernünftiges Gespräch zu führen. Dir wird es egal sein, was ich sage. Du wirst mich höchst wahrscheinlich verletzen, so wie du das auch bei dir gerade tust.” Das sanfte Gelb huschte zu ihm und verschwand in seinem Körper. Sorgte dafür, dass sich unsere Blicke trafen. Ich sein ängstliches Gesicht sehen konnte.
“Ich kann nicht kämpfen, Dezeria. Verstehst du das? Mein Licht kann nicht so gewaltvoll sein wie dein Eis. Bitte beruhige dich, damit keinem von uns etwas passieren muss, ja?”
“Aber ich will es doch gar nicht!” Verzweifelt wischte ich mir einige Tränen beiseite. Schniefte. “Ich will doch selbst, dass das blöde Eis aufhört ... Aber es gehorcht mir nicht! Nie funktioniert es so, wie ich will!”
“Hm ... Dann vielleicht, wenn du erstmal ruhig bleibst. Das würde schon helfen, es nicht noch schlimmer zu machen. Und wenn du mich lässt, dann werde ich dich aus dem Eis holen, ja? Suciu hat auch oft Probleme mit ihrer Fähigkeit. Es ist nicht schön, aber du musst dich nur entspannen, verstehst du? Nur ruhig bleiben.”
“Wie soll ich entspannen, wenn man mich gefangen hält und mich verletzt?” Ich schniefte erneut. “Ich will hier nicht sein ... Mir ist das alles zu viel!”
Er seufzte. “Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn du meinen Vorschlag nicht annehmen willst, was dann?” Sein Blick ging kurz zur Tür. “Du wolltest scheinbar nicht, dass ich gehe, oder? Wenn nicht bewusst, dann auf jeden Fall unterbewusst. Also ... was willst du von mir?”
“Ich ...” Ja, was wollte ich? Er konnte mir nicht das geben, was ich verloren hatte. Und zur Flucht verhelfen? Nein. Er war klein und schmächtig. Arbeitete mit dem Rea zusammen. Er hatte hier sicherlich nichts zu bestimmen, oder? “Kannst du mich hier rausbringen?”
“Nein.” Er schüttelte den Kopf und befeuerte damit genau meine Befürchtungen. “Das wäre nicht gut. Glaube mir. Du bist hier sicher. Ja ... ich weiß, Leo ist nicht unbedingt der–”
Plötzlich krachte es lautstark, was uns beide erschreckte. Und mich gleich noch einmal, als ich den Grund für den Lärm fand. Eine Art riesige Sichel bohrte sich brachial durch das Eis bei der Tür. Spaltete es regelrecht in tausend Stücke.
“Ah, endlich!”, rief Elian sichtlich erfreut und eilte direkt zu der Gefahrenquelle, während alles in mir schrie wegzulaufen oder sich zu verstecken. Was natürlich nicht ging. Das Eis hielt mich erbarmungslos fest und es wuchs sogar weiter, als ich das Monster durch das entstandene Loch erblickte. O Gott! Die schwarze Klinge war aus seinem Arm gemacht!
“Leo! Siehst du? Es ist kein Raureif ... D-du hast mich belogen!”, murrte Elian und umarmte den Rea, wodurch dieser merklich versteifte – überrascht aussah. Er verletzte ihn allerdings nicht. Das scharfe Metall formte sich umgehend zu einem Arm zurück. Einfach unglaublich.
“Was du nicht sagst. Und jetzt verschwinde.” Leo pflückte ihn grob von sich und schob ihn schnell beiseite. Anschließend warf er mir einen finsteren Blick zu. Gott! Panik wallte in mir auf und ohne, dass ich es irgendwie beabsichtigt hatte, schoss knirschend das Eis in seine Richtung. Griff ihn an. Nein! Ich wollte das wirklich nicht. Es würde nichts bringen, das wusste ich. Und doch. Das Eis machte, was es wollte. Es tat mir richtig leid, als ich Elian schreien hörte. Ich wollte nicht auch so ein Monster werden, welches grundlos irgendwen verletzte. Ich war so nicht!
Verzweifelt kniff ich die Augen zu und wagte es nicht mehr, sie zu öffnen. Selbst dann nicht, als irgendetwas krachend zu Bruch ging und sich wenig später eine kräftige Hand um meinen Hals legte. Er war das. Das wusste ich ganz genau. Er hatte mich schon mal so bedroht und auch jetzt verfehlte es seine Wirkung nicht. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich spürte, wie sich das Eis immer fester um meinen Körper zog. Ihn abzuwehren versuchte. Aber davon ließ er sich nicht beeindrucken. Der Druck um meinen Hals blieb beständig. Seltsam gleichmäßig und auch rundherum – huch?
Erschrocken riss ich die Augen auf, als ich den Halt um meine Beine verlor und zusammen sackte. Das Eis ließ mich völlig unvermittelt frei. Zerfiel wie feiner Sand und verteilte sich großflächig auf dem Boden.
“Na immerhin funktioniert das”, murrte das Monster und packte grob meine Handgelenke. Ich wimmerte, da er genau auf die blutunterlaufenen Stellen fasste. Auch meinen geschwollenen Arm zog er ohne Rücksicht näher zu sich, als ich diesen schützend an mich pressen wollte.
“Du wirst dich jetzt ruhig verhalten! Hast du mich verstanden?”, fragte er kühl und ich konnte nicht anders, als zu nicken. Mich verstörte dafür zu sehr, was er da gerade tat. Seine Finger nahmen unnatürliche flüssige Formen an – wurden schwarz und schlossen sich binnen Sekunden vollständig um meine Gelenke. Es waren Ringe, wurde mir bewusst. Harte Fesseln, die er problemlos aus seinem Körper machen konnte und auch dortblieben, als er seine Hände wieder fortnahm. Die Beschaffenheit erinnerte mich stark an diesen Stein – diesen Kristall, welchen er mir in den Brustkorb gesteckt hatte. Damals wie auch jetzt verfärbte sich das Schwarz schnell und wurde heller. Leuchtete schließlich weiß.
“Dich etwas zu fragen, würde wohl nichts bringen, wie?” Er umfasste mein Kinn und drehte es zu sich, sodass ich in seine kalten dunklen Augen sehen musste. “Warum deine Fähigkeit wiedergekehrt ist, wirst du vermutlich am allerwenigsten wissen und warum ich dich nicht mehr spüren kann – warum mein Blut aus dir verschwunden ist ... Interessant. Leider habe ich für die Ergründung deiner Geheimnisse im Moment keine Zeit.” Ruckartig hob er mich hoch. Drückte mich bestimmend an seine Brust.
“Ihr tut mir weh ...”, flüsterte ich halb erstickt an den Tränen. Zu meinem Entsetzen war es aber nicht nur meine schlechte Verfassung, die mir die Kehle zuschnürte – Gott! Ich hatte auch einen Halsreif um! Panisch befühlte ich das Ding. Fand jedoch keinen Verschluss. Es war genauso glatt und eben, wie die beiden Ringe um meine Handgelenke. Jetzt kam ich mir gleich noch deutlicher wie ein unbedeutender Sklave vor, mit dem man alles machen konnte. Und wieso rührte sich das Eis jetzt überhaupt nicht mehr? Hatte er es erneut unterdrückt?
“Versuch es gar nicht erst. Das wirst du nicht abbekommen.” Das Monster setzte sich in Bewegung, stoppte aber keine zwei Schritte später vor den beiden Frauen. “Beseitigt gefälligst diese Unordnung!”
“Wir Ihr wünscht, werter Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan.“ Sie verbeugten sich tief, was ihm ein zufriedenes Brummen entlockte. Sein Weg führte anschließend in den Flur, wo ich auch Elian erblickte. Ihm ging es offensichtlich gut. Ich hatte ihn also nicht verletzt. Das erleichterte mich wenigstens ein bisschen, wenn auch sonst alles zum Heulen war.
“Was machst du noch hier? Du sollst auf dein Zimmer gehen!”
“Wo bringst du sie denn jetzt hin?”, fragte Elian unbeeindruckt der scharfen Worte und folgte uns dicht auf. Musterte mich neugierig von der Seite. “Sie hat große Angst vor dir. Und sie ist verletzt.”
“Das wird dir auch gleich passieren, wenn du nicht gehorchst!” Wir bogen um eine Ecke, wo die weiße Teppichfarbe in ein dunkles Weinrot wechselte und auch sämtliche prunkvollen Dekorationen an den Seiten verschwanden.
“Du gehst zu den G-Trakten ... Du willst sie einsperren? Ich bezweifle, dass dies hilfreich sein wird. Sie kann doch jetzt kein Eis mehr machen, oder? Dann muss sie nicht weggesperrt werden.” Er lächelte mich bemüht freundlich an. “Sie ist wie Suciu. Vielleicht kann ich–”
“Nein ist sie nicht, Elian! Sie ist aktuell unberechenbar und stellt für euch eine Gefahr dar, um die ich mich aber im Moment nicht kümmern kann. Ich bin nur hier, weil ich in der Überwachung dein Drama gesehen habe.”
“Aber in einer Zelle wird es ihr nicht gut gehen.” Elian überholte uns und stellte sich mit ausgestreckten Armen mitten in den Weg. “Sie soll sich hier wohlfühlen. Wir haben noch genügend Gästezimmer und du kannst ja mit einem Bot in der Ecke sitzen und aufpassen, ja?”
“Meine Antwort lautet nein. Ich habe keine geistigen Kapazitäten, um noch einen zu bilden. Ich behebe gerade den kritischen Defekt von Tyschka und kümmere mich um den unfertigen Körper in der Aufbereitungsanlage. Damit der keinen Schaden nimmt, werde ich das jedoch wieder selbst in die Hand nehmen müssen. Zeitgleich laufen außerdem Versammlungen der Augonen, der Lataff und ebenso eine mit den Oht’esch. Hendrick muss ich irgendwie dazwischen auch noch neu konditionieren. Zudem wird meine Frau bald mit ihren neuen Anhängseln samt meinem wilden Sohn hier eintreffen und du weißt, was das heißt. Also, Elian, gehorche endlich und geh auf dein Zimmer!”
Leo wollte rechts vorbei, doch davon ließ sich der junge Mann nicht beirren. Er versperrte schnell wieder den Weg und verzog flehend das Gesicht. “Och komm schon. Bitte, bitte, bitte!”
“Willst du mich nerven oder hast du mir etwa nicht richtig zugehört? Geh beiseite. Andernfalls wird gleich ein Unglück passieren.” Seine Stimme wurde tief und versprach nichts als Schmerzen. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. War starr vor Angst. Warum erging es Elian nicht genauso?
“Bittteee.”
O Gott. Er dachte wirklich keine Sekunde daran, nachzugeben. Weigerte sich vehement, das Monster vorbeizulassen. Wieso setzte er sich für mich ein, wo ich ihn doch gegen seinen Willen eingefroren hatte – er mich nicht kannte und ich selbst kein einziges Wort rausbekam? Warum setzte er sein Leben so leichtfertig aufs Spiel?
Bedrückende Stille kehrte ein, was mich schwer schlucken ließ. Würde Elian jetzt vor meinen Augen eine grausame Strafe bekommen? Gleich keuchend und blutend am Boden liegen? Bei den Monden, bitte nicht!
Ein Schnaufen erklang, was mich besorgt hinaufblicken ließ. Zu meiner Überraschung fand ich jedoch keinen Zorn in den schmalen Gesichtszügen des Reas. Er sah höchstens frustriert aus. Das änderte sich allerdings schnell, als er herabblickte. Völlig emotionslos musterte er mich, bevor seine Aufmerksamkeit zurück auf Elian fiel.
“Das Bleasta bleibt aber dran!” Ruckartig drehten wir herum. “Und sobald etwas Ungewöhnliches passiert, rufst du mich!”
“Yey, geht doch!”
“Treib’s nicht zu weit, Elian!” Seine Schritte beschleunigten und kaum hatten wir den kargen Flur hinter uns gelassen, riss er auch schon die nächstbeste Tür auf. Trat, ohne zu zögern, in den stockdunklen Raum. Schlagartig bildete sich überall auf meinem Körper Gänsehaut. Wo brachte er mich hin?
“Der Bereich ist noch vom Hauptrechner getrennt, aber das sollte für dich ja kein Problem sein.”
“Stimmt.” Es wurde plötzlich taghell. Mehrere kleine Lichtkugeln schwirrten durch die Luft. Es war wunderschön und beruhigte mich wieder etwas. Vorsichtig sah ich mich um. Das Zimmer schien lange nicht benutzt worden zu sein. Viele große weiße Laken verdeckten die Möbelstücke.
“Ähm, wie siehts denn hier aus? Ist das etwa Staub?”, fragte Elian irgendwo außerhalb meiner Sichtweite.
“Leb damit. Ihr bleibt vorerst definitiv hier.” Leo setzte mich unerwartet sanft auf einer länglichen Sitzgelegenheit ab und eilte danach sofort zu einer breiten Flügeltüre, die sich als riesiger Wandschrank entpuppte. Berge aus Stoffen türmten sich darinnen, die er eifrig durchwühlte.
“Zieh deine nassen Sachen aus”, sprach er weiter, was mich besorgt schlucken ließ. Ich hatte doch gerade erst diese Kleidung angezogen. Mir war es egal, dass sie nun durch das Eis klamm waren. Die Kälte spürte ich schließlich nicht.
“Die Unterhose auch? Sie fühlt sich trocken an.” Ich runzelte die Stirn. Mir galt dieser Befehl gar nicht sondern Elian? Musste wohl, denn er zog sich ohne Umschweife aus. Dass ich dabei zusehen konnte, schien ihm nichts auszumachen. Ich wollte eigentlich auch meinen Blick senken, aber es ging nicht. Meine Augen hatten sich regelrecht an den vielen Narben an seinem Oberkörper festgefressen. Dicke dunkle Kerben verliefen kreuz und quer über seine helle Haut. Gott! Bei Reznick hatte es damals schon schlimm ausgesehen, aber das? Wie konnte man sowas einem anderen bloß antun? Würde mir das hier auch unweigerlich widerfahren?
“Zieh das an.” Leo warf ihm ohne sich umzudrehen eine Art Pullover vor die Füße. Mir blieb fast die Luft weg, als ich deswegen seine Beine genauer betrachtete. Anschlüsse. Ich sah bei dem linken Bein genau dieselben mechanischen Elemente wie bei den Bediensteten. O Gott! Er war also auch eine Maschine. Nicht echt!
Aber wie konnte das sein? Ich atmete tief durch. Elian war mit Abstand der menschlichste von ihnen. Wenn er nur aus Rea-Technik bestand, wieso dann dieses Schauspiel? Wieso hatte er sich für mich eingesetzt? Oder machten die beiden das absichtlich, damit ich wenigstens zu einem Vertrauen fasste? Hilfe. Von diesen Überlegungen brummte mir der Kopf. Auch das Pochen an meiner Stirn wurde immer fieser. Ich war viel zu erschöpft, um noch etwas richtig zu verstehen. Wobei. Selbst erholt würde ich das wohl nie.
“Und du wirst auch ... das hier anlegen.” Das Monster kramte einen silbernen Armreif hervor und wartete anschließend geduldig, bis sich Elian den übergroßen Pullover fertig angezogen hatte. Der dickmaschige Stoff fiel ihm dabei fast bis über die Knie.
“Doof, ist viel zu groß!”, murrte der junge Mann und wirkte damit noch mehr wie ein Kind. Als sein Blick dann aber den Reif erfasste, machte er einen schnellen Schritt zurück. “Oh, nein! Das will ich nicht!”
“Elian, das war keine Bitte. Gib mir deinen Arm. Oder ich überlege mir die Sache hier sofort anders.”
“Aber ich will keine Rea-Technik!” Er sah unglücklich zu mir. “Du wirst mir doch nichts tun, oder?”
Verwirrt über diese Frage legte sich meine Stirn in tiefe Falten, was umgehend noch stärkere Kopfschmerzen zur Folge hatte. “Aua ... Gott! N-nein ich würde das nicht u-und ich wollte auch das mit dem Einfrieren nicht.”
“Versprich es mir.” Er lächelte, während das Monster neben ihm stand und mich mit einem emotionslosen Blick strafte. Die beiden konnten unterschiedlicher nicht sein.
“Warum willst du das?”, fragte ich verwirrt, denn ein Versprechen war für niemanden bindend. Oft sagte man es nur so nebenbei. Ein Wort ohne tiefere Bedeutung.
“Weil mir das wichtig ist. Bitte versprich, dass du mir nicht schaden wirst. Bitte, bittteee!” Sein Lächeln wurde unsicher. Hatte schon fast etwas Flehendes.
“Ich verspreche es ...” Warum er darauf beharrte, war mir allerdings weiterhin schleierhaft. Aber wenn er es so sehr wollte. Ich hatte kein Problem, ihm das zu sagen.
“Ha!” Elian wandte sich freudestrahlend herum und deutete mit einer ausladenden Geste auf den Rea. “Hast du gehört? Sie hat’s mir versprochen! Wir brauchen also keine Technik, die uns überwacht!”
Leo schnappte sich den Arm des Jungen und ließ das Metall blitzschnell um dessen Handgelenk einrasten. “Ja. Schön dass wir darüber gesprochen haben.”
“Was? Nein!” Elian starrte fassungslos auf den silbernen Reif und ich verstand ehrlich nicht, was ihn daran so schockierte. Es schien ihm nicht wehzutun, ähnlich wie die Dinger bei mir. Und sein Licht hatte es auch nicht unterdrückt. Die kleinen Lichtkugeln schwebten nach wie vor an der Decke.
“Ich will keinen Ryron hier! Die sind gefährlich!” Bockig verschränkte er die Arme vor der Brust, was immer stärker den Eindruck vermittelte, dass die beiden Vater und Sohn wären. Aber konnte das sein? Sie sahen sich absolut nicht ähnlich.
“Was das angeht, hast du kein Mitspracherecht. Außerdem habe ich genug von dieser Zeitverschwendung.” Leo ignorierte Elians verächtliches Schnauben und holte aus dem Schrank eine Art kleine schwarz-silberne Truhe. “Der Ryron wird von mir umgeschrieben und richtet sich allein nach deinen Vitalwerten sowie deinen Befehlen, das sollte ja wohl ausreichend sein.” Er tippte ein paarmal auf die Oberfläche, was kleine Blitze um seine Fingerspitzen springen ließ. Zu meinem Leidwesen hatte ich danach seine volle Aufmerksamkeit.
“Siehst du das hier, Henriette?” Er deutete auf den Kasten. “Das ist eine Waffe und solltest du diesen Naivling mit was-auch-immer verletzen”, seine Hand landete auf Elians Kopf, “wird sie dir unvorstellbare Qualen bereiten.”
“Hey! Hör auf damit!”, beschwerte dieser sich sofort und zog auch die Hand geschwind aus seinem zerzausten Haar. Mich jedoch verwirrte die Situation zu sehr, als dass ich neue Furcht empfand. Ja. Diese Drohung machte nichts schlimmer. Angsteinflößend war dieser Mann auch, ohne ein einziges Wort zu sagen. Warum aber lag ihm so viel daran, dass ich Elian nicht verletzte?
“Was soll das überhaupt? Sowas zu sagen ist gemein!”
Ein dunkles Lachen folgte. “Wäre es nur, wenn ich ihr bei vollem Bewusstsein die Haut abziehe.”
“Igitt!” Elian schüttelte angewidert den Kopf und auch mir bereitete diese Vorstellung Magenkrämpfe. Wieso war er ständig so widerlich zu mir? Ich hatte schließlich nichts getan und freiwillig war ich auch nicht hier!
“Wie dem auch sei. Wenn sie sich nicht benimmt, wird es Konsequenzen geben.” Das Monster setzte sich in Bewegung, was mich zusammenzucken ließ. Ich befürchtete, dass er mir diesen Gehorsam noch einmal verdeutlichen wollte. Aber. Dem war zum Glück nicht so. Er ging lediglich zu Tür.
“He! Du willst uns schon verlassen?” Elian eilte ihm nach. “Ich hab nicht mal Socken oder eine Hose von dir bekommen! Und auch dieses Ding ist viel zu groß und kratzig! Dezeria ist zudem noch verletzt und ihre Sachen sind sicherlich auch nass!”
“Lässt sich nicht ändern. Was anderes ist nicht da. Wenn dir kalt ist, nimm eine Decke und sie friert ohnehin nicht.” Leo öffnete gelangweilt die Tür. “Ihre Wunden sind nicht tödlich. Im Badezimmer sollte vorerst was zur Wundheilung sein. Alles Weitere lasse ich euch bringen, sobald ich Zeit habe.” Er griff mit Daumen und Zeigefinger an seine Nasenflügel. Schloss kurz stöhnend die Augen.
“Du solltest Suciu noch Bescheid sagen, dass du länger brauchst. Sie fängt jetzt auch noch an, meine Nerven zu strapazieren.” Er holte etwas aus seiner Jackentasche und drückte es ihm in die Hand. “Ruf sie am besten gleich an. Und nun – entschuldige mich.” Die Tür knallte buchstäblich vor Elians Nase zu. Leicht ratlos stand er da und blickte anschließend zu mir.
“Aber ich bin doch gaaanz schlecht in diesen Dingen.”
“Hm? Was meinst du?”
“Na anrufen oder kennst du dich damit aus?” Er kam zu mir und reichte mir eine dünne schwarze Tafel, die mir seltsam bekannt vorkam. Genau! Ludwig hatte doch auch solch einen Stein gehabt. Eindeutig Rea-Technik.
“Nein, du musst es eher so rum halten ...”
“Ahh!” Ich sog scharf die Luft ein, als er es mir zu stark in die Hand drückte. Auch diese Armringe trugen nicht unbedingt dazu bei, dass die Schmerzen besser wurden.
“Oh, nein! Bitte entschuldige! Darum kümmere ich mich gleich, in Ordnung?” Er sprang panisch auf und rannte in ein angrenzendes Zimmer. Vermutlich das Bad. “Bitte, bitte sei mir nicht böse, ja? Es war keine Absicht!”, rief er noch, was mich trotz allem zum Schmunzeln brachte.
Konnte er wirklich nur eine Maschine sein? Aber auch wenn. Im Moment war ich einfach nur dankbar, ihn hier zu haben und nicht in einem Käfig zu sitzen. Die Frage war nur, wie lange das anhielt. Das Monster würde früher oder später zurückkommen.