❅Zerians Sicht❅
Meine Sorge wuchs. Selbst als ich Johannas Hand mit der kleinen Flamme beiseite drückte und ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund gab, reagierte sie nicht. Blickte weiter stumm und starr vor sich hin, als hätte sie einen Schock erlitten. Aber warum? Hatte ich etwas Falsches gesagt?
Gedanklich ging ich unser Gespräch noch einmal Stück für Stück durch – fand aber keinen Anhaltspunkt. Ehrlich ratlos sah ich sie an. Umkreiste sie. Musterte ihren zierlichen Körper. Sie war wunderschön, aber gleichzeitig auch so klein und verletzlich. Genau. Verletzlich. Ihre Vergangenheit war schrecklich gewesen – ob ihr jetziges Verhalten etwas damit zu tun hatte? Sie sich nicht nur vor dem Wasser, sondern auch vor sich selbst – vor ihrem Feuer fürchtete? Dezeria hatte immerhin auch entsetzt auf das Eis reagiert. Obwohl. So wirklich vergleichen konnte man es nicht. In Johanna herrschte es schließlich schon von klein an.
“Johanna? Bitte sag etwas. Ist es wegen der Flamme? Das Element gehört zu dir, wie das Wasser zu mir. Alles ist gut ...”, flüsterte ich und streichelte sachte über ihre Wange, die sich überraschend heiß anfühlte. Auch ihre Augen erglühten nun in einem kräftigen Rot. Ojee. Was ist, wenn sie jetzt kaputt geht? Für immer so bleibt?
Besorgt umfasste ich ihr Gesicht und suchte nach ihrem wilden Geist, der zweifellos nicht mehr in diesem Körper steckte. Hilfe. Was hatte ich getan? Hatte ich überhaupt etwas getan? Ich wollte ihr doch nur helfen. Meiner kleinen Sonne die Angst nehmen, denn dieses Gefühl war mitunter das Schlimmste am Menschsein. Ja. Das erste Mal überhaupt konnte ich es richtig begreifen. Genau in diesem Moment spürte ich sie nämlich. Die Angst.
Ich hatte nie verstanden, warum Menschen sich fürchteten. Warum die Nacht unheimlich sein sollte oder die Tiefe eines Gewässers. Große Höhen oder das Geheul eines Wolfes. Harmlose kleine Lebewesen wie Spinnen, Mücken, Mäuse oder Schlangen. Es gab so viele verschiedene Dinge, dass ich nie ein Muster darin fand. Ich konnte manches zwar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, aber es selbst zu spüren, war etwas ganz anderes. Und ich wollte es ganz und gar nicht – wollte, dass es aufhört. Niemand sollte sich so fühlen!
“Johanna, bitte wach auf!”, flehte ich und gab ihr einen erneuten Kuss. Voller Liebe. Voller Hingabe. Ich presse sie an mich. Sie sollte wissen, dass ich hier war und auf sie wartete. Egal wie lange es dauern würde. Ewigkeiten hin oder her. Mein Leben gehörte ihr. Nichts anderes gab es mehr.
Und es half. Sie reagierte – wenn auch anders, als ich erwartet hatte. Erst stieg die Temperatur ihrer Haut sprunghaft an und dann fing sie Feuer. Wortwörtlich. Unbändige Hitze schlug mir entgegen, wodurch ich sie vorsichtshalber losließ und einige Schritte zurückging.
“Johanna? Was ist? Was hast du? Ich bin es, erkennst du mich nicht? Bitte zügle deine Kraft”, sprach ich ehrfürchtig, denn noch nie hatte ich solch eine Macht erlebt. Sie tat mir nicht direkt weh und doch schien ich zu kochen. Ich verbrannte außen wie innen, ohne es tatsächlich zu tun. Es war seltsam – seltsam vertraut. Wenn ich mich früher in Wasser gelöst hatte – ja. Genauso fühlte es sich an und doch anders. Wundervoll ursprünglich. Natürlich.
Ich genoss ihren Anblick. Wie ihre Haare glühend Rot in die Höhe schossen – gleich einer tanzenden Flammenzunge. Ihr Körper strahlte in weiß und gelb. Das Feuer flackerte und verhüllte sie ähnlich einer dünnen Kleidung. Atemberaubend.
So schön ich ihre Erscheinung auch fand, die Umgebung konnte dem weniger abgewinnen. Um uns herum ächzte, knackte und zischte es bedrohlich. Der Steinboden unter ihren Füßen platzte auf. Risse bildeten sich und huschten in allen Richtungen den Flur entlang. Die Wände gingen lichterloh in Flammen auf. Sämtliches Holz in der Nähe verkohlte binnen Sekunden. Metall schmolz oder barst unter der gewaltigen Hitze.
“Wir sollten raus, Johanna. Dein Wesen ist nicht für solche Räumlichkeiten gedacht ... wie auch meins nicht für hier bestimmt ist”, sagte ich und hielt doch im selben Zug inne. Ich war das Wasser. Der See. Das Meer. Aber sie? Wohin gehörte die Sonne? So konnte ich mit ihr nicht einmal über die blühenden Wiesen oder durch die herrlichen Wälder gehen. Sie würde alles zerstören.
“Johanna? Hörst du mich? Du musst dich wandeln! Wieder nur Mensch sein! Ich helfe dir auch, keine Angst!”, rief ich, doch das war leichter gesagt als getan. Das Feuer ignorierte mein Wasser komplett. Naheliegende Flammen auf dem Gebäude konnte ich zwar löschen, nicht aber die auf ihrem Körper. Egal, wie viel meiner Fähigkeit ich aufwendete, so brannte ihre Haut fröhlich weiter. Unglaublich. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Verunsichert betrachtete ich das immer größer werdende Inferno. Was sollte ich tun? Ich konnte sie doch unmöglich so lassen. Vor allem nicht hier. Was wenn Trümmer herabstürzen würden? Oder Menschen sie verletzen wollten? Aber fortbringen ging auch nicht, oder?
Langsam schritt ich auf sie zu, ignorierte die flimmernde Luft und die sengende Hitze. Streckte die Hand vor. Zögerlich berührten meine Fingerspitzen die Flammen. Heiß. Unerträglich heiß. Sie machten mir deutlich, dass ich den Abstand wahren sollte und dann doch wieder nicht. Es zog mich unumstößlich an. Ihr Feuer war Leben und Zerstörung im selben Atemzug.
“Du bist meine Sonne ...”, flüsterte ich und betrachtete ihr emotionsloses Gesicht. Nur zu gerne hätte ich sie noch einmal geküsst, aber das hatte ja vorhin schon nichts gebracht.
“Ich werde dich jetzt hier wegbringen.” Entschlossen griff ich an ihre Hüfte und hob sie hoch. Legte sie mir behutsam über die Schulter. Sofort verschwanden die Flammen von ihrem Körper, was mich ehrlich verwirrte.
“Hey, was soll ... Hö? Zerian? Lass mich runter!”, sprach Johanna verwirrt und zappelte mit den Beinen. Schnell setzte ich sie ab – musterte sie.
“Du bist ... du selbst?”, fragte ich besorgt und blickte in ihre Augen. Das Rot glomm noch unverkennbar darinnen und auch die Haare hatten diese leuchtende Farbe behalten. Das Feuer lag definitiv sehr nah an der Oberfläche.
“Ich war in einem Traum oder nein. In einer Erinnerung ... glaube ich.” Sie fasste sich seufzend an die Stirn. “Das war ... verrückt. Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber ich habe etwas über mich selbst gelernt”, sprach sie leise und hob einen Arm. Entfachte in ihrer Hand erneut ein flackerndes weiß-gelbes Licht.
“Ich habe gar nichts gemacht”, erwiderte ich und lächelte. “Du bist Feuer. Immer schon gewesen. Ich habe es in dir gesehen. So wunderschön. Und du bist echtes Feuer und keine Täuschung wie Allie.” Kaum ausgesprochen knallte mir plötzlich eine Druckwelle entgegen und warf mich zurück. Ich verlor nach zwei Schritten das Gleichgewicht und landete schmerzlich auf meinem Hintern.
“Hör auf, mich ständig mit dieser Hexe zu vergleichen!”, schrie Johanna mit einer hallenden Stimme, während ihre Augen grell aufblitzen und sich alles an ihr entzündete. “Ich bin NICHT diese Verrückte, die dich gefoltert hat!” Ojee. Sie war wütend auf mich!
“Ich hab das so nicht gemeint. Ich weiß, dass du nicht sie bist. Ich wollte dir doch nur erklären, dass Allie mir erzählte, sie wäre die Sonne und das Feuer, aber ...” Ich stoppte. Johanna hatte mitten in meinem Satz das Gesicht verzogen und die Temperatur soweit steigen lassen, dass selbst mir unwohl dabei wurde. Was hatte ich jetzt wieder falsch gemacht?
“Ich will dieses Namen nicht mehr hören!”, schimpfte sie und starrte mich regelrecht nieder. Ich nickte schnell. “Alles, was du willst, nur zügle deine Kraft ... bitte.” Sie blinzelte und sah überrascht an sich herab – auf ihre brennende Haut.
“Ohh ... entschuldige.” Im Nu verschwand jedwede Hitze und auch ihr Körper erhielt seine Menschlichkeit zurück. “Habe ich dich verletzt? Das wollte ich nicht!” Sie streckte mir einen Arm entgegen. “Komm, ich helfe dir.” “Mir ist nichts passiert”, erwiderte ich und ergriff ihre Hand – stand auf.
“Für deinen nächsten Ausbruch sollten wir jedoch vorsichtshalber rausgehen.” Ich lächelte, aber Johanna schien darüber weniger erfreut. “Gott! Soll das bedeuten, ich war das gewesen? Wie das hier aussieht!” Sie blickte hektisch umher und deutete auf einige schwarz verkohlte oder komplett zerschmolzene Dinge. Auch hatten sämtliche Wände übergroße Risse bekommen. Mich störte der Anblick allerdings nicht.
“Jetzt ist es nicht mehr dunkel”, erwiderte ich und betrachtete die Sonnenstrahlen, die nun problemlos auch diesen Teil des Anwesens erreichen konnten.
“Das ist nicht lustig!”, murrte sie und sah mich tadelnd an. “Weißt du, was es bedeutet, solche Fähigkeiten zu haben? Wir sind keine Menschen. Wir waren nie Menschen!” Ich sah sie fragend an. Diese Aussage verwirrte mich, aber ich zog es vor, besser zu schweigen. Irgendwie fand ich im Moment keine passenden Worte und wollte sie nicht weiter verärgern. Außerdem machte sich fürchterliche Erschöpfung in mir breit, sowie auch andere Defizite meines Körpers. Durst.
Umgehend formte ich mit beiden Händen eine Schale, bildete Wasser und trank erst einmal. Meine Kehle fühlte sich mittlerweile an, als würde sie voller Staub und Sand sein. Schrecklich.
“Möchtest du auch?” Ich streckte meine Arme zu ihr, die sie geradezu misstrauisch musterte. “Wir müssen trinken”, fuhr ich fort, wodurch sie endlich einwilligte. Ihre warmen Lippen an meinen Fingern ansetzte. Trank.
“Mehr hast du dazu nicht zu sagen?”, begann sie anschließend wieder. “Du bist der Mondgott, aber was bin ich? Eine Feuer- oder Sonnengöttin? Oder sind wir etwas anderes? Wozu gibt es uns?” “Ich weiß nicht, was ich dir darauf antworten soll.” “Wie du weißt es nicht?” Ich sah sie ratlos an, öffnete den Mund, hielt dann aber inne. Ich hörte Schritte. Eilige Schritt und sie wurden lauter. Da lief jemand zu uns!
Johanna vernahm es ebenso, drehte herum und blickte den Gang entlang. Keine Sekunde später erkannte ich einen Menschen. Eine Frau in einem roten Kleid sowie mit hellen Haaren. Sie rannte ungelenk – richtig untypisch. Stolperte fast bei jedem Schritt. Sehr seltsam.
Mir gefiel es nicht, dass sie immer näher kam und die Geschwindigkeit beibehielt. Was, wenn sie Johanna schaden wollte? Nein. Darüber durfte ich nicht nachdenken. Ich entschied, es nicht soweit kommen zu lassen. Rief mein Wasser herbei und klatschte die Person kurzerhand gegen die nächstbeste Wand – stoppte erfolgreich ihren Lauf.
“Das ist die CeKyde von Ludwig”, sagte Johanna und näherte sich der Frau. Ich eilte an ihr vorbei – hielt sie zurück. “Geh nicht so dicht ran. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.” Sie seufzte und schob mich beiseite. “Also wirklich, Zerian, ich kann schon auf mich aufpassen. Außerdem hast du die Puppe ziemlich hart getroffen. Ich glaube, die hat sich ausgeschaltet.”
Ich betrachtete die Frau von oben bis unten. Das Wort Puppe und CeKyde war mir ein Begriff. Eine Maschine. Ich kannte das, war aber nicht in der Lage, diese Konstrukte von echten Menschen zu unterscheiden. Wenn das hier aber eine war, musste ich gleich noch viel vorsichtiger sein. Maschinen konnten leicht den Tod bringen – konnten Johanna verletzen. Besser ich zerstörte das Ding. Genau. Ich werde jede Gefahr von meiner kleinen Sonne fernhalten!