•‡Dezerias Sicht‡•
Ich spürte Berührungen. Sanft und warm streichelte es über meine Haut. Benommen öffnete ich die Augen. Es war hell. Viel zu hell. Wo war ich? Was war passiert? Irgendwie drehte sich alles in meinem Kopf. Hm? Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass sich wirklich alles drehte. Huch? Ich war zudem nackt! Und – schwebte?!
Voller Panik versuchte ich mich zu bewegen, aber es ging nicht. Ich war in einer komischen blauen Lichtsäule gefangen – hing aufrecht darinnen. In der Luft! Gott, was war das für eine unheimliche Magie?
Erneut spürte ich eine Berührung an meinem Rücken, die sachte nach vorne zu meinem Bauch wanderte. Verstört blickte ich an mir herab und sah – Wasser? Ein kleiner Rinnsal kroch über meinen Körper und wusch die rötliche Färbung des Schlamms von mir. Weiß wie Schnee leuchtete meine Haut darunter. Unheimlich. Unmenschlich. So hell sollte sie definitiv nicht sein.
“Zerian? Bist du hier?”, fragte ich vorsichtig in den leeren Raum hinein, da das mit dem Wasser seiner Magie sehr ähnlich sah. Vielleicht hatte ich mich verletzt und er heilte mich? Aber. Wo war er dann? In dem Raum gab es sonderlicheweise gar nichts. Keine Möbel. Keine Gegenstände. Nur helle Kacheln am Boden, den Wänden und der Decke. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wo war bitte die Tür? Gott, wo war ich hier nur? Ein Traum konnte es nicht sein, dafür fühlte es sich zu echt an. Jedenfalls das Wasser. Erneut zog es seine feinen Bahnen auf mir, diesmal um meine Beine. Ich erschauderte umgehend. Es glitt doch tatsächlich auch über meine Scham. Beunruhigt deswegen, versuchte ich erneut mich zu bewegen – die Beine zusammenzupressen. Vergeblich. Das Wasser floss mühelos überall hin. Überall!
Ich keuchte. “Aufhören, bitte!”, flehte ich kurz darauf, auch wenn es nicht wirklich weh tat. Aber. Ich wollte dort nun mal nicht berührt werden. Leider stoppte die Magie nicht. Das Wasser säuberte mich äußerst gründlich und erst, als es scheinbar meinen ganzen Körper abgewandert hatte, ließ es von mir ab. Mit einem leisen Plätschern fiel es leblos auf den Boden. Das Licht der Säule färbte sich im selben Moment gelb und ich hörte endlich auf, mich so seltsam schwebend zu drehen. Dann erlosch es plötzlich vollkommen und meine Füße landeten auf dem warmen Boden. Gott sei Dank!
Wankend bemühte ich mich, nicht auf die Knie zu stürzen. Meine Muskeln waren wirklich unglaublich schwach. Seltsam. Warum bloß? Ich atmete mehrfach tief durch. Versuchte, ein besseres Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Eine Mischung aus Hunger, Durst, Müdigkeit und Schwindel umhüllte meinen Verstand. Erschöpft rieb ich mir die Stirn. Was war überhaupt passiert?
Reznick – ja. Ich erinnere mich dunkel an ihn. Hatte er mich nicht gerettet oder war das ein Traum gewesen? Und – O GOTT, Zerian! Mein Herz fing augenblicklich an zu rasen. Hastig sah ich mich erneut um, aber wie zuvor auch gab es hier nichts. Nichts als die weißen Kacheln überall. Verdammt! Ich musste hier raus! Muss ihn retten!
“Speis und Trank, werte Dame?” Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich ruckartig herum. Eine kleine Frau oder möglicherweise auch ein Kind stand da plötzlich an der Wand. Wo kam die den auf einmal her?
“Speis und Trank, werte Dame?”, fragte sie abermals in einem absolut emotionslosen Ton, welcher mir umgehend eine Gänsehaut bescherte. Sie war irgendwie unheimlich. Blickte mich nicht an und – auch ihr ganzes Äußeres. Sie trug ein weißgoldenes knappes Kleid für Bedienstete. Ihre Haare waren von einem roten durchsichtigen Schleier verhüllt. Außerdem – ihre Arme und Beine! Es sah aus als wären diese nicht echt – sondern aus Metall. Jeweils knapp von den Knien und den Ellenbogen abwärts. Ist das überhaupt ein Mensch? Oder gar Rea-Technik?
“W-wo bin ich hier? Bring mich bitte zu Zerian! Ihm geht es nicht gut! Er wurde gefoltert u-und stirbt, wenn ihm keiner hilft!”, brachte ich trotz meiner Angst heraus, auch wenn ich nicht wusste, ob er überhaupt noch in Gefahr schwebte – oder bei Del und Cor – ich nicht schon zu spät war. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ich inzwischen verloren hatte. O bitte, hoffentlich lebte er noch.
“Negativ. Eingabe nicht umsetzbar.” Verwirrt sah ich sie an. ”W-was bedeutet das?” “Oh, bitte entschuldigt. Ich formuliere anders: Ihr habt keine Rechte, um mir etwas zu befehlen oder zu fordern. Speis und Trank, werte Dame?” Verständnislos hob ich eine Augenbraue. Was sollte denn dieser Quatsch?
“Ich will nichts, danke”, murrte ich, auch wenn mein Magen überdeutlich knurrte. “Ich will wissen, wo Zerian ist und wo ich hier bin UND was das hier alles ist!” Ich deutete mit den Händen hektisch in den Raum hinein. “Wenn ihr keine Stärkung wünscht, wird nun das Laysieren folgen.” “Lay-sieren? Was soll das sein? Wo bin ich hier?! Wo ist Zerian? Antworte!”
“Bring ihr einfach einen vitaminreichen Saft”, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme – eine vertraute Stimme. “Und Essen, das sich an den Speisen aus Rotterval orientiert.” “Reznick?”, fragte ich ungläubig und rieb mir mehrfach die Augen. Er war auf einmal da – kam direkt aus der Wand und schritt gemächlich auf mich zu. “REZNICK!”
Mit unbändiger Freude und wild klopfendem Herzen rannte ich zu ihm – BÄÄM. Ein brachialer Schmerz erfasste urplötzlich meinen Kopf. Ich stürzte und landete unsanft auf meinem Hintern. Kurz wurde mir sogar richtig schwarz vor Augen. “GOTT! Verflucht! Tut das weh ...”, jammerte ich und befühlte mit zitternden Händen die pochenden Stellen. Allen voran die Nase und die Stirn hatte es ganz fies erwischt. Unwillkürlich kamen mir die Tränen. Was bitte war das gewesen? Es fühlte sich wie eine massive Wand an, aber – vor mir war doch nichts?
“Was machst du denn?”, fragte Reznick überrascht und stellte sich knapp einen Meter vor mich. Er streckte in einer schnellen Bewegung den Arm zur Seite, woraufhin genau unter seiner Handfläche eine kleine weiße Säule aus dem Boden sprießte. Rea-Technik. Kein Zweifel. Aber was bezweckte diese? Mit meiner verschwommenen Sicht erkannte ich nicht viel. Er tippte wohl auf der flachen Spitze irgendetwas ein.
“So, jetzt lass mich mal sehen”, sprach er einen Moment später und überwand den restlichen Abstand zu mir – hockte sich hin. Vorsichtig berührten seine Fingerspitzen mein Gesicht. “Hm ... deine Nase ist noch ganz. Sieht nicht so schlimm aus, wie ich dachte ... Gut. Vater wäre nicht erfreut, wenn dein Gesicht Schaden nimmt ...”, flüsterte er fast schon gedankenversunken und wog dabei meinen Kopf langsam hin und her. Ich versteifte augenblicklich. “Vater? Ist dein Vater hier?”, fragte ich besorgt und erinnerte mich schlagartig wieder daran, wie dieser Verrückte mich gewürgt hatte. Wobei. War der nicht gestorben?
Reznick runzelte die Stirn und ließ mich los. Er schien wohl zu überlegen, was er mir antworten sollte, aber sein Schweigen war mir Antwort genug. Der Schmerz in meinem Kopf ließ nach und meinem Verstand fielen nun einige seltsame Dinge auf. Kleinigkeiten, auf die ich zuvor nicht wirklich geachtet hatte. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten und akkurat nach hinten gekämmt – der komische Zopf fehlte ganz. Und er wirkte unglaublich distanziert. In seinem Zuhause war er noch ganz anders gewesen. Besitzergreifend – hungrig. Auch jetzt hatte sein Blick nichts davon. Vielmehr hatte er sich wieder gefangen und sein Ausdruck wurde kühl. Das machte mich nervös. Wo war sein unverschämtes Lächeln hin?
“Reznick? Was ist los? Sind wir in Gefahr? Dein Vater ist gestorben ... glaube ich. Oder lebt er doch noch? Da war so viel Blut ... Was ist überhaupt alles passiert und wo bin ich hier? U-und konntest du Zerian retten? Wo ist er? Geht’s ihm gut?” “Du solltest diese fremdartigen Namen hier nicht länger benutzen, wenn du deine Zunge behalten willst.” Ich erschauderte – schluckte an dem riesigen Kloß in meinem Hals. “W-wieso sagst du sowas? Du ... bist nicht Reznick, nicht wahr?” Das ergab für mich zwar überhaupt keinen Sinn, aber die Frage lag mir dermaßen penetrant auf der Zunge, dass ich es einfach aussprechen musste. Doch anstatt mir zu antworten, erhob er sich und starrte emotionslos auf mich herab. Mein Unwohlsein wuchs sekündlich. Wieso sagte er denn nichts? Warum verneinte er meine Frage nicht? Warum lachte er nicht über solch eine verrückte Vermutung oder versuchte mir nicht wenigstens ein bisschen die Angst zu nehmen?
“Bitte ... ich will dir doch vertrauen”, flüsterte ich schließlich wehmütig, als er meinem Blick auswich und sich herumdrehte. “Und genau das ist es, was ich ... zerstören soll”, erwiderte er und sackte danach stöhnend auf die Knie – hielt sich den Kopf. Auch wenn mich seine Worte beunruhigten, so konnte ich doch nicht anders. Ich streckte mich das Stück zu ihm und berührte leicht seinen Rücken. “Was ist? Hast du Schmerzen?” Ob der unheimliche Raum ihn auch verletzte so wie mich zuvor?
“Lass das. Es ist unangebracht”, murrte er und stand ruckartig wieder auf. Penibel hielt er den Abstand zwischen uns. “Ich bin nicht Alexander, denn den hast du mit deinem Eis längst getötet. Erinnerst du dich nicht mehr daran? Du warst auf seinem Schiff. Du hast es zerstört. Mein Bruder befand sich in einem Nebenzimmer und Vater, nun, der stirb nicht so leicht ...” Geschockt starrte ich auf seinen Hinterkopf. Alexander – so hatte doch auch sein Vater Reznick genannt, oder? “Mit Alexander meinst du wirklich Reznick? Und ... du bist dann sein Zwilling?” Wackelig stand ich auf. Schritt um ihn herum und sah in sein Gesicht. Pure Missbilligung fand ich darinnen.
“Hör auf zu fragen! Und du sollst diesen Namen nicht benutzen, hörst du schwer?”, sprach er gereizt und rieb sich die Schläfe. “Aber ... ich –” “Nichts, aber! Du hast Alexander getötet und Punkt. Akzeptiere das. Hör endlich auf, mich was zu fragen. Das nervt.” Mit großen Augen sah ich ihn an. Seine Worte und das ablehnende Verhalten schmerzten. “Ich ... ich habe ihn”, verzweifelt krallte ich mich in sein prunkvolles rotes Jackett, “... getötet? Nein. Das ... glaube ich dir nicht ...” Es konnte – nein – durfte einfach nicht wahr sein. Nein. Bei den Göttern, NEIN!
“Es ist mir egal ...”, sagte er leise, griff nach meinen Armen und zog diesen von sich. Stieß mich zurück. Es fühlte sich an, wie ein Schlag in den Magen. Mir wurde unglaublich schlecht. Was hatte ich nur angerichtet? Das Eis hatte Zerian doch nur zu meinem Schutz gemacht – und er? “Ist Zerian ... auch tot? Sind-sind beide ... wegen mir gestorben?”, sprach ich mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen. Der Gedanke schmerzte unglaublich. Mein Herz blutete.
Der falsche Reznick stöhnte und rieb sich abermals die Stirn. “Hör auf zu weinen, damit wirst du hier keinen beeindrucken. Ich soll dir außerdem sagen, dass du in die Sammlung meines Vaters aufgenommen wirst. Du bist zwar nicht besonders hübsch und zu üppig, aber sei's drum. Er hat beschlossen, dass du Teil seines Spiels wirst. Zudem bekommst du wegen des Angriffs auf ihn noch eine Strafe. Hier wird von dir nichts mit Eis kaputt gemacht, hast du verstanden?”
Ich hörte ihm zu, aber was er genau sagte, drang nicht in meinen Verstand. Ich stand nur da – sah ihn an. Warum konnte er denn nicht mein Reznick sein und mich retten? Wieso hatte ich nur alles falsch gemacht? Alle waren wegen mir gestorben. Ich hatte das doch nie gewollt. Mein Leben war wahrlich verflucht. Ja. Meine Gedanken drehten sich in einem nicht enden wollenden dunklen Strudel. Angst. Zweifel. Selbsthass. Mehr und mehr vergiftete meine Seele. Es war alles nur noch hoffnungslos.
Eine leichte Berührung an meiner Wange holte mich zurück. “Bist du schon kaputt?”, fragte er und sah mich forschend an. Sanft strichen seine Finger über mein Gesicht und schoben schließlich einige Haarsträhnen zurück. “Warum ... tust du das?”, fragte ich schniefend, denn es steckte so viel Zärtlichkeit darinnen, dass ich kurz glaubte, er wäre doch Reznick. Sein weicher und liebevoller Blick ließ mich ebenso hoffen – hoffen, dass er das alles nur zum Schein gesagt hatte. Aber. Ich irrte. Er blinzelte ein paarmal, zog seine Hände sofort zurück und dann kehrte die Kälte erneut in seine Augen.
“Frag nicht so dumm! Du weißt ganz genau warum, elende Hexe!”, knurrte er nun sichtlich wütend, was mich verwirrte. Ich wollte gerade fragen, was er meinte, aber da erklang schon eine kindliche Stimme: “Verzeiht, Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan, dass ich Euch störe, aber ich bringe für die Dame Speis und Trank.” Das Mädchen von vorhin war zurück und trug ein kleines Tablett in den Händen. Ich erspähte eine durchsichtige Karaffe gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit, ein schmales Glas daneben und irgendetwas, das verdächtig nach einem belegten Brötchen aussah. Aber nach Essen war mir keineswegs. Es fühlte sich so an, als hätte ich einen riesigen Stein im Magen.
“Ich will nichts ...”, sagte ich und wischte die neu aufkommenden Tränen fort. Ich fühlte mich seltsam taub. Alles kam mir so unwirklich vor. Meine Familie, der Mondgott und Reznick waren gestorben – und ich? Ich lebte nun vermutlich ein Leben als jemandes Sklave weiter. Warum? Warum konnte es nicht wieder so sein wie früher?