Verdammt! So ging es nicht weiter. Nur die Ruhe! Ich darf das alles nicht so an mich heranlassen. Reines Gift für Geist und Seele. Ja. Zurück zu dem, was wahr – was richtig und wichtig ist. Sie ist nicht echt. Ich bin es ebenso wenig. Nichts ist es. Ich kann mich nicht verlieben. Mein Herz kann gar nicht lieben!
Frustriert seufzte ich. Mit einem kräftigen Ruck löste ich mich schließlich vom Waschbecken. Gleichgültig klopfte ich das restliche Eis von meinen Händen. Die Finger fühlten sich etwas taub an, sonst jedoch war mir nichts passiert. Leider. Ich seufzte erneut – rieb mir erschöpft über die Stirn. Es wäre auch zu leicht gewesen, wenn sie mich hätte töten können – viel zu leicht. Schmerzhaft biss ich die Zähne zusammen. Ich hatte es so satt, Teil irgendwelcher Pläne zu sein. Teil dieses Spiels. Teil dieser Welt.
O Mann. Meine Psyche hatte heute echt gelitten. Ich verhielt mich ja schon so verrückt wie mein Bruder. Stopp! Nur die Ruhe. Alles ist okay – alles ist so wie sonst auch. Ich atmete einmal tief, tief durch. Muss meine Mitte finden. Muss der perfekte Sohn sein. Ja. Dann ist auch wieder alles in Ordnung.
Ich stöhnte. Nein, gar nichts ist hier in Ordnung! Mein Herz schlug viel zu schnell. Aufgeregt. Kräftig. Das tat es sonst nie. Mir ist gleichzeitig heiß und kalt. In mir – dieser Sturm, er wollte nicht vergehen. Wollte mich von innen heraus zerstören. Er wollte – zu dir, Dezeria. Langsam schweiften meine Augen über deinen Körper bis hinauf in dein trauriges Gesicht. Ja. Das ist alles deine Schuld! Normalerweise bin ich mit mir vollkommen im Reinen. Sinnierte in meiner wunderbaren Gleichgültigkeit. Ich wollte nie etwas und fühlte auch nie etwas! Und das war perfekt – das ist meine Art von Freiheit. Aber jetzt? Du hast sie mir genommen! Warum? Ich will das doch nicht. Es tut weh, etwas zu fühlen. Es macht mich angreifbar. Du machst mich verletzlich. Weißt du denn nicht, was das in diesem Haus bedeutet? Was Vater mit dir und mir anstellen wird, wenn er diese Schwäche sieht?
“Bitte, mach das es aufhört. Bitte ...” Ich sah sie an, bemüht emotionslos, aber selbst meine Stimme klang seltsam beschlagen. Schwach. Brüchig. Nicht nach mir eben. “Ich ... will dich anfassen und dann doch wieder nicht. Verrückt, oder? Ich sollte gar nicht hier sein ...” Ich lächelte freudlos. “Ich muss gehen, aber ... ich kann es einfach nicht.” Das ist so untypisch für mich. Vaters Aussage war dich betreffend eindeutig. Ich sollte nur in seinem Beisein, dich besuchen. Und ich gehorche bedingungslos. Immer halt. Ich tue nur das, was er mir befiehlt – bin ein durch und durch perfekter Sohn. Warum also, machst du mir das kaputt? Warum weckst du in mir diese komischen Sehnsüchte? Gefühle? Den Wunsch, dich zu umarmen? Verdammt, NEIN! Ich will das nicht!
“Dennoch ...”, sprach ich leise und schritt dicht vor Dezerias schwebenden Körper. “Es ist nicht deine Schuld.” Ja, wenn dann ist es ganz allein meine. Vater mahnte noch, ich soll die Arbeit den Bots überlassen. Sie sollten dich holen und nicht ich. Aber. Ich wollte nicht hören. Wollte selbst sehen, warum mein Bruder dir nicht widerstehen konnte. Das habe ich jetzt davon. Ich habe eigenmächtig gehandelt und das ist nun die Strafe dafür. Nun bin ich ebenso verflucht.
Langsam hob ich eine Hand. Fuhr mit den Fingerspitzen zärtlich ihren Kiefer entlang. “Ich habe noch nie eine solch schöne und grausame Strafe zugleich bekommen”, flüsterte ich und sah verträumt in diese unbeschreiblichen weißen Augen. “Gleich, wo ich dich das erste Mal berührte, war es um mich geschehen. Ich will ... Ich will dich beschützen ... aber, das ist dumm. Das ist nicht echt. Das ist ... ein Spiel.” Ja. Eindeutig. Da ich keinen Stromstoß für meine Worte bekam, konnte dies nur eins bedeuten. Vater beobachtete uns tatsächlich.
“Stimmt's, Vater?”, sprach ich schließlich wütend und streckte darauf eine Hand zur Seite. Die Steuerkonsole erhob sich und mit nur einer Eingabe deaktivierte ich das Hologramm. Die weiß gekachelten Wände verschwanden – erlaubten die Sicht auf den prunkvollen Festsaal. Mein Blick durchkämmte sofort die Reihen, aber – ich fand niemanden. Seltsam. Wieso saß er nicht triumphierend auf einer der Sitzgelegenheiten?
“Er ... ist noch nicht erwacht?”, fragte ich mehr zu mir selbst und scrolle zeitgleich durch das Überwachungssystem. Die darauf folgende Anzeige des leuchtenden Bedienfeldes erleichterte mich ungemein. Vater schlief tatsächlich noch. Seine regenerative Stase war noch nicht vorüber. Das ist meine Chance! Zeit zu verschwinden!
“Leb wohl”, sagte ich und strich noch einmal unendlich langsam über Dezerias Wange. Ich wollte mir so viel von ihr wie möglich einprägen, um dieses bedürftige Etwas in mir endlich zum Schweigen zubringen. Aber. Ihre Augen. Sie bannten mich so unglaublich stark an diesen Ort – an ihre Seite. Ich konnte mich nicht bewegen. Egal, wie sehr ich es auch versuchte.
“Hör auf mich so anzusehen! Und hör auf, mich zu verzaubern, du Hexe! Ich will nichts fühlen und mich auch nicht in dich verlieben, hörst du? Hör auf zu weinen und so traurig auszusehen. Das ist nicht echt! Du bist nicht echt! Du bist Teil des Spiels und mehr auch nicht!”, knurrte ich wütend, nur um sie gleich darauf voller Hingabe zu umarmen. Fest presste ich meinen Brustkorb gegen ihren. Meine Hände tanzten liebkosend ihre Wirbelsäule entlang. Tief atmete ich ihren unvergleichbaren Duft nach einer kalten Winternacht ein. Hilfe. Aus dieser Anziehung kam ich nicht mehr raus. Ich bin verloren.
“Warum ... tust du mir das an?”, flüsterte ich an ihr Ohr und streichelte dabei ihre langen seidigen Haare. “Du musst doch wissen, dass unsere Zuneigung nur ein dummer Zwang ist. Egal, was du für mich oder meinen Bruder empfindest, es ist nichts als eine Täuschung. Ich weiß es. Du weißt es, warum also hörst du nicht auf?” Ich strich mit meiner Nasenspitze an ihrer Wange entlang und sah ihr anschließend direkt in die Augen. In diese hypnotisierenden weißen Augen.
“Du hast doch das ganze Eiselement in dir. Du kannst es richtig kontrollieren, dann musst du auch unsere Gefühle abschalten können. Also tu es! Mach, dass ich wieder normal werde. Ich selbst kann es nicht. Ich bin nur ein halbes Element.” Ihr Blick sprach Bände. Fragen über Fragen. Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. Aber. Wieso?
Ihr Mund bewegte sich, jedoch kam kein Ton heraus – oh. Stimmt. Da war ja was. Ich ließ sie los. Unsicher schwankte mein Blick zurück zur Steuerkonsole. Ich will nicht, dass sie etwas sagt, aber – ich tat es. Gab ihr mit nur einem Knopfdruck ihre Stimme zurück.
“... nicht wie. Ich ... Oh. Ich kann wieder sprechen ... D-danke. Bitte, ich weiß nicht wie ... ich will nicht Eis sein! Ich will nicht hier sein! Ich bin überfordert ... So lass mich doch gehen und–” Ich lähmte sie wieder. Hielt es einfach nicht länger aus. Jedes weinerliche flehende Wort schnitt mir brutal ins Herz. Tötete mich Stück für Stück. Der Wunsch, sie zu befreien, kämpfte so übermächtig in mir. Und doch. Es geht nicht.
“Ich kann nicht.” Ja verdammt! Wieso verstehst du es denn nicht? “Ich kann dich nicht befreien! Ich kann es NICHT!” Wie sie mich ansah. Mit Tränen in den Augen und so zornig – verletzlich. Hilflos fühlend umfasste ich ihr Gesicht. Legte erschöpft meine Stirn an ihre. “Ich kann es nicht ... kann es nicht ... kann es nicht ... Du bist hier, so wie es Vater will. Ich muss gehorchen.”
Nach einem Moment der Stille blickte ich kraftlos auf. “Ich bin so müde ... muss gehen. Bitte, lass mich gehen. Ich muss hier weg, bevor er kommt. Bitte”, flehte ich und sah, wie sie die Lider senkte. Dicke Tränen flossen hinab. Sie litt genauso wie ich. Diese Anziehung der Elemente – so ein schrecklicher Fluch. Vater wird mich für seine Forschung zerlegen, wenn er das sieht. Uns beide. Ich will das nicht!
Mit dem letzten Fitzelchen meines Verstandes riss ich mich schließlich von ihr los. Biss mir dermaßen kräftig in den Handballen, dass mir vor Schmerz selbst die Tränen kamen. Scheiße! Wie das brannte, aber es half ungemein. Lenkte ab. Aber. Kaum öffnete sie die Augen, war es erneut um mich geschehen.
“NEIN!”, schrie ich und umfasste grob ihre Oberarme. “Verstehst du nicht? Wenn ich hierbleibe, wird es für uns nur schlimmer!” Ich atmete schwer. Starrte sie an. Nahm die vielen Einzelheiten ihres Gesichts in mich auf. Unwillkürlich wurde mein Griff sanft. Verdammt, so funktionierte das doch nie! Warum zur Hölle bestrafte mich den Tyschka nicht? Was mache ich denn jetzt nur? Frustriert stöhnte ich und fuhr mir nervös durch die Haare. Vater erwachte sicherlich jeden Moment. Ich muss gehen, verdammt noch mal! Los geh schon! Nutzlose Beine! Los, bewegt euch!
Nichts passierte. Toll. Wirklich toll. “Und nun?”, fragte ich ratlos und senkte meinen Blick. Überlegte. Was soll ich Vater nur sagen, wenn er mich hier sieht? Belügen? Hm. Habe ich ihn überhaupt jemals angelogen? Kann ich das? Und wenn ja, was würde er glauben? Dass ich nach ihr sehen wollte? Nein. Dass ich mir Sorgen machte? Verdammt, nein! Dass ich – mein rastloser Blick blieb an einer stumpfen gelben Klinge hängen, die unter Dezerias Fußspitzen lag.
Stimmt. Ich erinnere mich. Das Laysieren wollte ich vorhin schon selbst machen. Denn allein bei dem Gedanken – jemand anderes berührte ihre schneeweiße Haut – hatte mein Innerstes verrückt gespielt. Richtig getobt. Selbst wenn es nur die Maugeri gewesen wäre.
Grübelnd bückte ich mich und hob das Messer auf. Hielt es anschließend dicht vor Dezerias Gesicht, damit sie es sehen konnte. “Vater will, dass du vorbereitet wirst. Dass deine Haut keinen Makel aufweist. Ich ... werde es machen, denn sonst macht es ein anderer, verstehst du?” Ihre großen leuchtenden Augen blickten mich panisch an. “Ach, du weißt nicht, was das ist. Entschuldige. Damit entfernt man die überflüssigen Härchen am Körper. Sie werden verdampft und danach auch nie wieder nachwachsen.” Sie schluckte. “Keine Angst, es tut nicht weh, versprochen.” Dass man damit auch die Haut vom Fleisch entfernen konnte, musste sie ja nicht unbedingt wissen. Vater hätte es ihr aber sicherlich gesagt, nur um ihr noch mehr Angst zu machen. Mir erschien das jedoch vollkommen befremdlich.
“Siehst du?” Federleicht streichelte ich mit dem Laysierer über ihre rechte Wange. “Es passiert dir nichts.” Ich fuhr weiter um ihre bebenden Lippen, die Nase und über die Stirn. Man sah keine wirkliche Veränderung. Ihre Haare waren so fein und weiß, wie ihre Haut an sich.
“Nicht erschrecken. Ich drehe dich mal eben.” Kaum ausgesprochen tippte ich in der Steuerkonsole herum und änderte die Zahlen, welche sie millimetergenau in der Luft hielten. Ihr Körper bewegte sich kurz darauf vollkommen automatisch. Wechselte von der senkrechten Position in eine waagerechte. Ich stellte alles so ein, dass sie mit dem Rücken nach oben und genau in Hüfthöhe vor mir schwebte.
Dieser Anblick – wunderschön. Es beruhigte mich ungemein, ihr nicht länger in die Augen sehen zu müssen. Der Sturm in mir legte sich spürbar. Mein Herzschlag wurde langsamer. Herrlich. So befreiend. Fast schon mechanisch machte ich die Arbeit. Ich strich ihre lange seidige Mähne beiseite und entfernte anschließend den Flaum im Nacken. Es folgte der Bereich bei den Schultern, den Armen und der gesamte Rücken. Der wohlgeformte Po und die Beine zuletzt. Jeden Hügel – jede noch so kleine Vertiefung zeichnete ich nach. Konzentriert. Schweigsam. In vollkommener Ruhe.
Als ich fertig war, änderte ich die Zahlen erneut und drehte sie nach oben. Ihr panischer Blick durchbohrte mich sofort. Jagte meinen Puls umgehend in die Höhe. Ihr Gesicht war von Tränen übersät. Aber. So sollte sie nicht aussehen. Nein! Es entfesselte erneut den Sturm – dieses Bedürfnis, sie vor allem, was sie so schrecklich fühlen ließ, beschützen zu wollen. Aber. Es ging doch nicht. Denn ich bin dafür verantwortlich. Es ist meine Schuld. Meine. Ganz allein. Hilfe, diese Erkenntnis zerstörte mich regelrecht. Ein dunkler Strudel verschlang meinen Verstand. Stück für Stück. Mein Schädel pochte und rauschte schmerzlich.
Plötzlich verschwand das ohrenbetäubende Geräusch und ich hörte – ein Schluchzen. Noch eines. Schweres Husten folgte. Ich blinzelte mehrmals. Und realisierte dann erst, dass Dezeria – was? Zu ersticken drohte? HÖLLE NEIN! Panik durchschlug mich wie ein gleißender Blitz. Geschockt ließ ich den Laysierer fallen und wischte ich ihr schnell die Tränenflüssigkeit von Nase und Mund.
“Hör auf! Atme! Nicht sterben!”, rief ich völlig kopflos und haderte noch einen Augenblick, bevor sich dann endlich mein Gehirn einschaltete. Ich gab Tyschka über das Eingabefeld den Befehl, Dezerias Atemwege zu überprüfen, sowie gleich frei zu machen. Keine Sekunde später hörte sie dann auch schon auf zu husten. Auf dem Display erschien die simple Diagnose: Verschlucken. Gefolgt von: Überschüssige Flüssigkeit erfolgreich verdampft. Ich keuchte indes vor Aufregung und konnte nicht glauben, wie panisch ich nur allein auf solche Kleinigkeit reagiert hatte.
“Das ... das ist nicht gut ...” Mir schwindelte. Hilflos starrte ich auf meine zitternden Hände. Ruhig. Bleib ruhig verdammt! Aber es ging nicht. “Bitte ... mach das es aufhört”, flüsterte ich und beugte mich über ihren Körper. Mein Kopf bettete ich in die Mulde an ihrem Hals und dann – umarmte ich sie. Fest. So fest, wie es mir möglich war, ohne sie dabei zu verletzen. Das grausame Gefühl, sie zu verlieren, war immer noch sehr präsent in meinem Innern. Geradezu unerträglich. Als hätte man versucht, etwas aus mir herauszureißen.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich davor erholte. Ihr beständiger Herzschlag und die gleichmäßige Atmung zu hören half dabei ungemein. Dennoch. Ich wollte sie nicht loslassen. Ich musste sie hier–
“Was machst du hier, Hendrickson?” Schlagartig versteifte ich. Mein Puls raste. “Ich entsinne mich nicht daran, dein Hiersein gestattet zu haben.” Ich schluckte. Krampfhaft löste ich mich von Dezeria und sah auf. Vater stand da und musterte mich missbilligend. O Scheiße!