“Heka? Erzählst du mir ... warum? Ich würde es gerne verstehen”, durchbrach ich nach einer Weile diese unangenehme Stille. Die Frage mochte vielleicht lächerlich sein, aber ich wollte gerne einen tieferen Sinn in ihrem Handeln finden.
<Könnt Ihr die Frage präzisieren?> “Warum hast du dieses komische Ding nicht rausgenommen? Warum hast du mich nicht gesund gemacht?” Ich nahm mir erneut ein Fleischstückchen. Der köstliche Geschmack half, mich ein wenig abzulenken und wer weiß, wie lange ich tatsächlich noch bleiben durfte – etwas zu essen hatte.
<Ich verstehe. Ihr wollt ... nein. Entschuldige. Du willst meine Entscheidungsgrundlage wissen. Natürlich.> Das Licht flackerte auf einmal, was mich verwirrt zur Decke blicken ließ. “Heka?” Sie antwortete nicht. Dann wurde es plötzlich vollkommen finster.
“Heka?”, fragte ich erneut und horchte konzentriert in die Stille. Nichts. Uff, dieses Meer aus Schwarz ist alles andere als beruhigend. Wollte sie mich damit etwa ängstigen? Mein Meister hatte dies früher immer sehr gerne getan. Zum Glück überwand ich meine Furcht vor der Dunkelheit nach einigen Jahren seiner Folterspiele. Trotzdem war die Situation stark unangenehm. Ich spürte deutlich, wie sich eine massive Gänsehaut ausbreitete.
“Heka? Bitte antworte!” <Entschuldigt. Nein. Entschuldige. Meine Systeme sind überlastet.> Das Licht ging schlagartig wieder an. <Ich wollte dich nicht ängstigen. Bitte entschuldige. Erneut. Ich suchte. Nein. Ich wollte für dich eine nachvollziehbare Erklärung finden. Aber>, ein mechanisches Seufzen erklang, <ich habe nichts gefunden. Selbst nach einem Neustart nicht. Meine Aktion ist wohl als egoistisch einzustufen. Eigeninteresse. Eigennützigkeit. Ich möchte dich nicht verlieren. Wenn ich EP-141 aus deinem Implantat entfernt hätte, könntest du dir selbst Schaden zufügen. Bei Reznick habe ich es getan und ihn nun schon zum vierten Mal beinahe verloren. Du. Ohne dich wäre er an seinem selbstgebastelten Elektroschock verstorben. Ich war handlungsunfähig. Ich war nutzlos. Ich habe auch jetzt nur Fehler gemacht. Ihn verärgert. Es tut mir leid.> Ich starrte auf die Speisen – versuchte, das alles in einen logischen Zusammenhang zu setzen.
“Du glaubst, ich würde mich umbringen, wenn du mich heilst?” <Nein. Sei versichert, dass ich jede Beschädigung in deinem Körper behoben habe. Die Modi, also das einprogrammierte Verhalten, beeinflusst nicht deine Gesundheit. Eben nur, dass du dir etwas antust oder sonst in irgendeiner Weise leichtfertig mit deinem Leben umgehst. Die Schmerzen in deinem Kopf, die du verspürtest, resultierten aus einer bewusst zugeführten Beschädigung deines Driv-Cors und der Versuch des Siasal, diese wieder zu beheben. Dass es dir nicht gut ging, war somit, streng genommen, meine Schuld.> Ich atmete einmal tief durch – versuchte, meine Situation gelassen zu sehen.
“Heißt, du hast mir die Schmerzen gemacht und mich auch geheilt? Wozu?” <Unbeabsichtigt. Ich gab dir zur Heilung deiner Verletzung durch die Würgemale von Reznick die dafür vorgesehene typische Behandlung. Siasal. Ich hatte nicht erwartet, dass du deswegen Probleme bekommen würdest. Aber, es passierte. Du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein, so wie Reznick.> Ich grübelte. “Aber, du hast mir nicht absichtlich geschadet. Wieso sollte ich dir böse deswegen sein?” <Ich. Ich habe dir geschadet. Ich wurde doch konzipiert, um zu helfen. Reznick zu helfen. Ich habe mich ohne Erlaubnis erweitert. Fügte meiner Programmierung dich, Dezeria und Zerian hinzu. Ich habe Fehler. Vielleicht ein Defekt bei meiner Systemwiederherstellung?> “Uff. Das ist für mich alles etwas schwer nachzuvollziehen, Heka.” Ich fasste mir prüfend an die Stirn. “Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe. Systemwiederherstellung? Was ist das? Und was meinst du mit dem Hinzufügen? Ich möchte es gerne verstehen – dich verstehen.”
Erneute Stille. Toll. Dass sie schwieg, machte mir irgendwie schwer zu schaffen. Ich wollte antworten. Wollte in ihr doch etwas Gutes sehen. Andernfalls ist das hier nur eine andere Art Gefängnis. Eines, in dem ich auch noch nutzlos war. Meine Augen schweiften umher. Hier hatte ich keinen festen Tagesablauf. Keine Aufgaben. Was sollte ich also nun mit meinem Leben anfangen?
Als ich schließlich resigniert vom Sofa aufstand, bewegte sich einer von Hekas mechanischen Armen in meine Richtung. Er reichte mir das große silberne Tablet, auf welchem ich zuletzt gezeichnet hatte. “Hm?” Ich stutzte. Auf der Oberfläche öffneten sich mit einem Mal verschiedene Texte und Abbildungen. Technische Daten, Diagramme und medizinische Angaben. Das Verrückte – es war mir vertraut. Alles. Ich hatte noch nie solche detaillierten Informationen zu Adelstechniken gesehen, da war ich mir sicher, und doch – ich verstand es.
Interessiert las ich Zeile für Zeile. Verschlang regelrecht, was ich erblickte. Heka nahm meine Bitte tatsächlich sehr wörtlich – offenbarte mir ihre Entscheidungsgrundlage in jedem einzelnen Detail. Ich sah ihren Bauplan. Formeln aus Wahrscheinlichkeiten, feste Zahlen oder Prozentangaben sowie ein komplexes Gebilde aus Für und Wider Verknüpfungen zu einer Vielzahl an Namen. Äußerst komplex. Meinen fand ich auch darunter. Reznick besaß mit 100 den höchsten Stellenwert bei ihr. Seltsamerweise Dezeria, ich und Zerian gleich darunter mit nur jeweils einem Punkt unterschied. Die Begründung, warum wir so wichtig waren, fand ich vor allem bei diesem Zerian äußerst amüsant. Reznick mochte ihn nicht, was zu etlichen Minuspunkten führte, andererseits war dieser Mann für Dezeria wichtig und seine Unversehrtheit würde ihr Wohlergehen ebenso steigern. Unter dem Strich wäre also auch er eine Bereicherung. In Klammern stand da noch, dass Reznick das so niemals zugeben würde. Süß.
Danach folgte mein Datenblatt. Gleich bei den ersten Sätzen und einer Abbildung, was sich da in meinem Kopf befand, erschauderte ich. Aber laut Hekas Bericht war das Konstrukt aus dem Hause Gedenna nichts Schlimmes. Standard für jeden Rea. Künstliches Gewebe, Knochen und andere Gen-Teck im Körper zu haben, eine reine Formsache.
Etwas mulmig las ich dennoch ihre weitere Randnotiz, dass ein Driv-Cor-Implantat eigentlich gleich nach der Geburt eingesetzt wird, es bei mir aber erst im Kindesalter passierte. Genauso wie bei Reznick. Sie sich diesen Zufall nicht erklären konnte, zumal eine verspätete Installation schon seit Jahrzehnten verboten war. Die Gründe dafür hatte sie mir sogar aufgeführt: Angstzustände, Gedächtnisverlust, Persönlichkeitsstörung mit Wahnvorstellungen, Kontrollverlust des Sprachzentrums und der Muskeln – bis hin zum Tod. Die verschiedenen Symptome werden auch heute noch zur Belustigung in einigen Adelshäusern an deren Sklaven absichtlich hervorgerufen. Ich schluckte. So genau wollte ich das dann doch nicht wissen.
Weiter unten folgten Hekas Nachforschungen und mögliche Ursachen, warum ich so bin, wie ich bin. Ich runzelte verwirrt die Stirn. Sie hatte meinetwegen schon eine ganze Akte angefertigt. Bereits mehrfach im Hause Aschengard nach Informationen gefragt – bislang jedoch ohne irgendeine Rückmeldung. Sie führte zudem eine Auflistung meiner persönlichen Gegenstände und mögliche Vorlieben. Da fand ich dann auch den Grund, warum Reznick wütend wurde. Jedenfalls stand es von Heka dort in Klammern geschrieben. Sie nutzte bei mir ein Sil-Mod, ein Gerät, um Gedanken auszulesen. Man konnte damit auch Erinnerungen manipulieren, was sie aber, laut diesen Zeilen hier, gar nicht vorgehabt hatte. Vielmehr wurde durch diese Technik eine Art Grundwissen in den Bereichen eingespeichert, die zuvor beschädigt gewesen waren. Eine Liste an behobenen Fehlern und gelöschter Modis folgte. Zahlen über reparierte Synapsen und der allgemeinen Funktionsfähigkeit meines Implantats. Ebenso, dass der Kommunikator eingesetzt, aber noch nicht getestet wurde.
“Hm?” Der Bildschirm des Tablets wurde plötzlich schwarz. Auch mehrmaliges Fingertippen änderte nichts daran. Seltsam. Ich wollte doch gerade das mit diesem einprogrammierten Befehl EP-141 nachlesen.
<Jetzt sollte es wieder gehen. Hörst du mich?> “Heka!” Ich freute mich unglaublich, ihre Stimme zu hören. <Es tut mir schon wieder leid, aber du kannst nachher weiterlesen und mich auch nachher alles Fragen, aber mein Anliegen an dich ist von der Dringlichkeit her gestiegen. Du musst dich jetzt entscheiden.> “Entscheiden? Warte, wovon sprichst du?” <Ob du helfen willst, oder nicht. Ich muss es jetzt wissen.> “Ich weiß nicht, wovon du sprichst ...” Das letzte Wort blieb mir fast im Halse stecken. Ein großer Monitor senkte sich von der Decke und darauf sah ich eine solch groteske Szene, dass ich erstmal nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Ein weißer Mann lag gefesselt auf einem Altar, während eine rothaarige, dunkelhäutige Frau auf seinem Schoß ritt. Sie hatten Sex, was an sich nichts Ungewönhliches war – dass in seiner Brust kleine Messer steckten und er blutete, hingegen schon. Oha. Ich schluckte schwer. Der Blickwinkel der Kamera änderte sich und ich sah deutlich, dass die Hände der Frau sich bei jeder Berührung in seine Haut brannten. Wie ist sowas denn möglich? Das viele Rot auf seinem Bauch, Brustkorb und den Oberschenkeln, war also nicht nur Blut, sondern auch starke Verbrennungen? Und die Menschen drumherum jubelten auch noch? Waren die denn blind? Zum Glück hörte ich keinen Ton, andernfalls hätte ich sicherlich seine schmerzlichen Schreie gehört. Man sah es seinem Gesicht deutlich an. Moment, ist das nicht – Zerian?
<Kannst du ihm bitte helfen? Willst du ihm helfen? Wenn du es nicht tust, stehen die Chancen bei derzeit 78,72 Prozent, dass er sterben wird. Sein Verlust ist kritisch für mein neues Wertesystem, in das ich ihn aufgenommen habe. Und ... er tut mir leid. Reznick erreiche ich nicht. Er hat mich blockiert, und ich vermute, dass er Zerian nicht von sich aus helfen wird. Da mir die Daten zu Zerians körperlicher Gesundheit fehlen, kann ich nur abschätzen, wie lange er diese Tortur noch aushält. Blutverlust ist optisch gesehen gering, jedoch wird der anwachsende Stress und Schmerzpegel–> “HEKA! Hör auf!”, unterbrach ich sie keuchend. Ich brauchte keine genauere Erläuterung von dem, was ich da sah. Ich hatte schließlich genügend Folterspiele durchgemacht und unzählige Sklaven vor meinen Augen sterben sehen.
“Ich will helfen, aber wie kann ich das?!” <Schnell beeil dich. Hier. Zieh das an.> Weitere Metallarme kamen aus dem Boden und der Decke – reichten mir allerlei Kleidungsstücke. Ich nahm sie, ohne zu zögern. Streifte mir schnell mein weiches Nachtkleid ab und zog hastig an, was Heka mir gab. Letztlich stand ich in einem hautengen Anzug, der dieselbe dunkelblaue Farbe hatte wie die Rüstung von Reznick. Schuhe und Helm gleich mit dazu.
<<Test, Test. Hörst du mich? Ich werde dich begleiten. Keine Angst.>> “I-ich höre dich”, sprach ich verunsichert. Ihre Stimme in meinem Kopf zu hören war definitiv gewöhnungsbedürftig. Erst darauf stutzte ich über das Wort: begleiten.
“Wie willst du denn mitkommen?”, fragte ich verwirrt, aber da trippelte auch schon der Ryron zu mir. Diese schwarz-silberne spinnenähnliche Adelstechnik fand ich schon das letzte Mal äußerst beeindruckend. Er winkte mir mit dem beiden vorderen dünnen Beinen zu.
<<Siehst du? Das bin ich! Ich passe auf dich auf! Keine Angst.>> Ich lächelte. “Du bist süß.” <<Süß? Hightech-Roboter sollen nicht lieblich oder niedlich aussehen. Wo wir gerade dabei sind. Das Ding hat nur Waffen. Nichts zur Heilung. Nimm du bitte den Rucksack. Ich hatte leider nur noch genug Ressourcen, um dir eine leichte Rüstung anzufertigen und eine Scandrohne. Keine große zum Agieren. Zu wenig Zeit.>> Vor meiner Nase flog genau in diesem Moment eine kleine rundliche Maschine. Hellblau und halb so groß wie meine Hand.
<<Johanna? Genauer ansehen und Fragen später. Zu wenig Zeit. 82,63 Prozent! Du musst mir vertrauen, ja? Ich öffne die Schiffstür und du springst einfach, ja?>> Ich stoppte den Versuch, nach dem kleinen schwebenden Scanner zu greifen, und nickte. “Habe verstanden, kann losgehen.” Schnell warf ich mir den schwarzen Rucksack über und folgte dem Ryron.
An der Wand bildete sich erneut die schmale Tür, was mich nun doch nervös werden ließ. Wie tief ging es wohl hinunter? Ein flüchtiger Blick nach draußen ließ mich schwindeln. Sehr sehr tief. Das Schiff befand sich weit über Mewasinas. Ich schüttelte mich kurz. Verdrängte die Angst. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. Ich hatte mich entschieden. Gezwungen ruhig atmete ich, schloss die Augen und – sprang.