Es kostete mich unglaublich viel Kraft, mich nicht vollständig von Leopolds Essenz einnehmen zu lassen. Ich machte mich klein. Verringerte die Angriffsfläche auf ein Minimum. Unterdrückte alles, was mich ausmachte. Fast verlor ich dadurch die Kontrolle über die Puppe, aber schließlich schaffte ich es, mich durch den Torbogen zu schleppen. Direkt zum Zentrum dieser gewaltigen Macht.
Bedrohlich wankend stand ich da und blickte auf die verrückte Szenerie. Obwohl durch meine Überspannung sämtliches Licht ausgefallen war, beleuchtete Leopold mit seinem bloßen Körper den gesamten Raum taghell. Er war nicht er selbst, das konnte man deutlich erkennen. Blitze huschten unkontrolliert um ihn herum. Seine Essenz drang ungefiltert an die Oberfläche und verschlang alles, was sie berührte.
Ich kannte das. Das war schon einmal passiert und damals wie heute konnte ich mich an diesem Anblick einfach nicht sattsehen. Es war berauschend, wie die Kraft in Wellen von ihm pulsierte. Als würde er dem Ursprung selbst entspringen. Der Ursprung sein. Ein Zustand, für das kein Wort existierte. Kein Wort je gerecht werden würde.
Es brauchte eine Weile, bis ich mich von seinem faszinierenden Anblick losreißen konnte und ich das viele Eis im Raum registrierte. Ich sah Dezeria, die sich mit einer glatten Kristallwand vor einem schnappenden Blitz schützte. Danach machte sie den Fehler, Leopold mit ihrer Fähigkeit direkt anzugreifen. Eine dicke Eisspitze schoss aus dem Boden und durchstach seinen Körper. Es schadete ihm dabei nicht wirklich. Er bestand vollständig aus Macht. Die Heilung erfolgte umgehend.
“STOPP!” Meine Stimme war nicht laut genug. Durch den vielen Lärm hörte sie mich nicht und reizte erneut seine Essenz mit einem Angriff. Warum tat sie das? Es war äußerst gefährlich und verhinderte zudem, dass sein Verstand in seinem Körper zurückfand. Dafür brauchte es nämlich absolute Ruhe oder besser gesagt, keinerlei fremden Impuls. Nichts durfte seine Aufmerksamkeit fesseln, was unter normalen Umständen schon fast unmöglich war. Denn alles konnte ihn in diesem Moment locken. Bewegte Objekte ebenso wie starre und da nun die Barriere fehlte, fraß sich die Energie bereits hungrig an etlichen Stellen durch die Wände. Es knackte, knirschte, brannte, schmolz oder zersprang. Hoffentlich fand er zu sich, bevor er das ganze Schiff zerlegte. Oder eben die Welt.
Dezeria ging keine Sekunde später zuckend zu Boden. Ein Blitz hatte ihre Eiswand durchbrochen und sie an der rechten Schulter gestreift. Bevor ich mich jedoch einmischen konnte, um sie vor einem weiteren Schlag zu schützen, stürmte auch schon ein zweiter Angreifer auf Leopold. Der Mann verletzte diesmal sogar nicht nur seine Lichtgestalt, sondern drang tiefer. Mit einer langen silbernen Klinge traf er die Essenz an sich und störte damit deren Fluss, was mich ehrlich überraschte. Ich wusste nicht, dass so etwas überhaupt möglich war. Wobei. Helfen tat es auch nicht. Leopolds Geist erwachte nicht, vielmehr ließ die entstandene Wunde seine Macht nur noch stärker aus ihm schnellen. Dieser Impuls verpasste dem Fremden eine volle Breitseite und schleuderte ihn mit einer derartigen Wucht zurück, dass er mehrere Meter durch die Luft flog. Der Aufprall und der Treffer an sich, schienen ihn jedoch nicht sonderlich zu kümmern. Trotz der absoluten Sinnlosigkeit dieser Aktion ließ er nicht locker. Wiederholte diesen Irrsinn gleich noch einmal.
Ich brauchte einen Moment, bis ich darin unseren eigenen Sohn erkannte. Reznick. Durch Leopolds gewaltige Aura war mir seine Anwesenheit komplett verborgen geblieben. Auch jetzt empfing ich von ihm keine vertrauten Wellen. Selbst sein Äußeres – es fiel mir schwer, die liebevollen Erinnerungen in meinem Verstand ihm zuzuordnen. Sein Körper schimmerte gräulich, das Haar fast weiß und stand wie schmale Stacheln nach hinten weg. Dazu konnte ich kurz seine Augen sehen. Sie funkelten strahlend silber. Ohne Zweifel war er auch in Essenz gehüllt. Mir war nicht bekannt, dass er eine derartige Kontrolle aufbauen – ja, dies auch nur ansatzweise fertigbringen konnte. Er war seinem Vater so unfassbar ähnlich, aber dennoch nicht einmal annähernd ebenbürtig. Ungleicher hätte der Kampf nicht sein können. Warum es überhaupt zu einer gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen ihnen gekommen war – Leopold es so weit hatte kommen lassen, erschloss sich mir nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Ich beendete es. Jetzt!
Obwohl ich das unbedingt hatte vermeiden wollen, schoss ich einen Blitz auf Leopold, um seine volle Aufmerksamkeit zu erregen. Die ich auch prompt erhielt. Er drehte sich zu mir, wie auch sämtliche von ihm ausgehende Macht. Alles konzentrierte sich auf mich, was meinen Geist sofort benommen machte. Nur mit Mühe und Not bekam ich noch mit, dass Reznick die Unachtsamkeit seines Vaters für einen Angriff nutzen wollte. Ich musste ihn leider schocken. Sogar noch ein zweites Mal, damit er endlich davon abließ, vorzustürmen. Er sank auf die Knie und starrte mich emotionslos an. Offensichtlich war auch er nicht er selbst und wenn ich die Schäden an seinem Körper richtig deutete, glich es einem Wunder, dass er noch nicht zusammengebrochen war. Er hielt sich scheinbar nur noch mit bloßem Willen aufrecht und das zu sehen tat mir selbst weh. Seine vielen frischen Verletzungen – ich hatte versagt. Hatte ihn nicht beschützt. Unverzeihlich.
Zu meinem Leidwesen hatte ich nicht einmal jetzt die Zeit, mich angemessen um ihn zu kümmern oder noch einen prüfenden Blick auf Dezeria zu werfen. Dabei wollte ich es! Wollte es wirklich, aber Leopold ging dazu über, mich mit gleichmäßigen Energieschüben zu reizen, was meine Gedanken vernebelte. Ich wurde weicher. Nachgiebiger. Alles rückte von Sekunde zu Sekunde stärker in den Hintergrund. Nichts war mehr wichtig. Nichts außer er, aber das durfte es nicht! Ich musste mich zusammenreißen, ganz gleich, was mein Innerstes wollte. Egal, ob es vor Aufregung vibrierte oder dieser verlockende Singsang zurückkehrte und allmählich immer lauter wurde. Hilfe. Er wollte spielen. Ich wollte spielen, aber das ging hier doch nicht! Nicht in einem Schiff und erst recht nicht, wenn er so viel Essenz freisetzte. Ich brauchte dringend einen Plan und das schnell!
Unschlüssig stand ich auf der Stelle und sah besorgt dabei zu, wie Leopold gemächlich zu mir schritt. Was sollte ich bloß tun? Sämtliche Rechentabellen und Entscheidungsmatrizen spuckten mit den eingegebenen Daten nichts Hilfreiches aus. Hängten sich stellenweise sogar auf. Das war schlecht. Sehr schlecht. Überforderte mich. Ich musste mich beeilen – musste etwas tun, bevor ich zu gar keinem klaren Gedanken mehr fähig war. Aber was? Was nur?
Mit einem letzten flüchtigen Blick auf Reznick entschied ich mich schließlich dazu, zurückzuweichen. Hier konnte Leopold nicht bleiben und von ihm berührt zu werden, musste ich ebenso vermeiden. Meine Hülle konnte zwar auf diese Distanz auch nicht ewig seiner Neugierde standhalten, aber es verschaffte uns Zeit. Zeit, in der er hoffentlich wieder erwachte und er selbst wurde. Wenn er die Elektronik der Puppe grillte, könnte ich mir zwar eine neue nehmen, aber Reznick und Dezeria wären dann wieder sein Bezugspunkt. Das konnte ich nicht zulassen. Ich musste ihn so lange wie möglich beschäftigen.
Langsam ging ich Stück für Stück rückwärts, passierte den Torbogen und dann weiter den Flur entlang. Ich musste nicht sehen, wohin ich ging. Der Grundriss war in mir abgespeichert. Ich kannte somit den Verlauf des Gangs, nicht jedoch das Ziel. Ich hatte nach wie vor keine Lösung, wo ich Leopold hinbringen sollte. Meine erste Idee, ihn wieder in einen abgesperrten Bereich zu lotsen und anschließend mit Barrieren zu versiegeln, scheiterte. Ich konnte einfach kein Steuerpult erreichen, um Tyschka einen solchen Befehl zu geben. Seine gewaltige Aura machte es unmöglich. Feine Blitze überlasteten alle Schaltkreise in der Umgebung. Zerstörten jedes Bedienelement, lange bevor ich die Chance hatte, es zu berühren.
Wenn ich noch Kapazitäten übrig gehabt hätte, wäre ich vermutlich überaus frustriert. So jedoch konzentrierte ich mich allein darauf, ja nicht anzuhalten. Schritt um Schritt. Abstand haltend. Nur das war noch wichtig. Ihn bei mir zu halten, ohne ihm weitere Impulse zu geben. Aber das war schwer. So unglaublich schwer. Seine übermächtige Essenz strömte auf mich ein. Kreiste lauernd um mich herum und kratzte an der Oberfläche meiner Seele. Erregte mein ganzes Sein. Er wollte, dass ich antwortete. Ich sollte mich zeigen. Mich noch einmal zu erkennen geben, aber das ging nicht. Ich durfte nicht!
Verzweifelt klammerte ich mich an die Aufgabe, Leopold spazieren zu führen. Wenn er hier war, würde Reznick nichts passieren. Wobei. Das Schiff erlitt immer weitere Schäden, was auch nicht gut sein konnte. Irgendwie. Der Pfad zu dieser Information, die Zuordnung der Wichtigkeit, fehlte bereits in meinem Verstand. Mein Code wurde mit jeder vergehenden Sekunde von diesen schimmernden silbernen Augen überschrieben. Er sah mich an. Dabei nicht die Hülle, die Technik oder das künstliche Fleisch. Nein. Nur mich. Bis zum Kern meiner Existenz. Ich konnte mich vor ihm nicht verstecken. Aber. Wollte ich das denn? Warum hielt ich eigentlich Abstand?
Plötzlich ergab für mich nichts mehr einen Sinn. Alle meine Gedanken kamen an einem Punkt zum Stehen und obwohl ich irgendwo dumpf im Hintergrund noch wusste, dass dies keine gute Idee war, hielt ich auch die Puppe an. Ich konnte nicht länger. Dieses Unterdrücken und Einsperren meiner Essenz. Sich verstecken. Kleinhalten. So war ich nicht. Das war nicht ich. Der Wind wollte mit solcher Inbrunst aus mir heraus, dass ich es nicht länger aushielt. Nicht konnte. Nicht wollte. Mit einem Mal ließ ich all meine selbst auferlegten Ketten einfach los. Gab dem drängen nach. War der Wind. War frei!
Blitze züngelten von meiner Hülle aus in alle Richtungen und ein kreischender Luftzug wirbelte um mich herum. Die Tyschenka knarzte und knackte unter dieser Belastung bedrohlich. Hier und da schlugen Funken oder Flammen aus den Wänden, aber es kümmerte mich kein Stück. Statt mich zu zügeln, verstärkte ich sogar noch meinen Ausbruch. Es gab schlicht zu viel Chaos, das sich in mir angesammelt hatte, und es tat so unglaublich gut, nicht weiter darüber nachzudenken. Nur zu sein und sich ganz fallenzulassen. Tiefer und tiefer. Der Ursprung machte mir in meiner derzeitigen Verfassung keine Angst. Ich begrüßte regelrecht diese endgültige Leichtigkeit.
⇝Nein.⇜ Leopolds Macht hallte in meinem Inneren. ⇝Du gehörst dort nicht hin. Du gehörst zu mir. Nur zu mir.⇜ Er war überall, schlich um meine Seele und trieb mich zurück – hielt mich im Hier und Jetzt. ⇝Ich lasse dich nicht gehen.⇜ Sein gleißender Körper stand vor mir und als er mich dann tatsächlich auch physisch berührte, war es aus und vorbei. Ein Gefühl, das ich nicht beschrieben konnte, durchströmte mein ganzes Sein. Ich vergaß alles. Achtete weder auf die Puppe, die durch seine übermächtige Nähe eigentlich schmelzen oder verglühen müsste, noch auf das explosionsartige Feuerwerk, welches uns auf einmal von alles Seiten umgab. Es existierte nur er und ich. Keine Zeit. Keine Welten. Allein wir beide.
Es war unfassbar überwältigend. Ich spürte seine Berührung. Echt und wahrhaftig. Sanft strichen seine Finger meine Arme hinauf. Dass er dabei das Kleid verbrannte, kümmerte mich nicht. Zu sehr war ich von seiner strahlenden Aura gebannt. Von seinen hungrigen Augen. Seinem liebevollen Lächeln. Der Singsang in mir verlangte nur noch eines und nur zu gern gab ich mich dem hin. Ich umfasste sein Gesicht, zog es zu mir herunter und küsste ihn.
Weich. Unbeschreiblich weich waren seine Lippen – zu schön, um es in Worte zu fassen. Unsere Essenzen woben sich ineinander. Ich lockte ihn. Er lockte mich. Wir hallten in dem Geist des jeweils anderen wieder. Harmonisch. Vollkommen. Das war es, was ich wollte. Wofür ich leben wollte. Dieser Moment. Für alle Ewigkeiten. Immer und immer wieder. Freiheit war nichts dagegen. Beschrieb nicht einmal annähernd diese Euphorie in mir. Wir gehörten zusammen. Unumstößlich.
“Hör auf ...” Er unterbrach den Kuss und umarmte mich – presste meine Hülle fest an seinen Leib. “Hör auf, weil ... ich es nicht kann.” Sein Atem ging schwer und das leichte Beben seiner Muskeln übertrug sich auf mich. “Beende es ... Bitte ...” Er drückte den Kopf in meine Halsbeuge und knabberte dort zärtlich an meiner Haut.
“Küss mich.” Ich zog seinen Mund wieder zu meinem. “Küss mich noch einmal.” Das kurze Aufflackern von Widerstand ignorierte ich genauso, wie zuvor seine flehende Stimme. Ich war im Augenblick nicht empfänglich dafür. Es gab für mich nur dieses Fühlen und genau das wollte ich weiter ergründen – presste ungeduldig unsere Lippen aufeinander. Leopold knurrte zwar, ging aber sofort darauf ein. Intensivierte den Kuss.
“Ein ... Fehler!” Er packte mich grob und donnerte meinen Rücken gegen die nächstbeste Wand. “Du wirst mich hassen!” Seine Augen starrten mich nieder. Wut, aber auch so unendlich viel Verlangen las ich darinnen.
“Mir egal.” Mochte sein, dass ich später wieder anders darüber dachte, doch in diesem Moment gab es diese negativen Schwingungen nicht. Keine Zweifel.
“Das ist ...”, seine zitternden Hände packten die letzten Reste meiner angekokelten Kleidung, “nicht gut.” Mit einem kräftigen Ruck und dem Zusammenspiel einiger Blitze, befreite er mich aus den störenden Stofffetzen. Entgegen seiner Behauptung fand ich das sogar ausgesprochen gut. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, als er sich erneut an mich drängte und unsere Lippen verband. Nun erhielt ich viel intensivere Sinneseindrücke. Wie sein muskulöser Körper sich an meinen schmiegte. Nichts minderte mehr die Spannung zwischen uns.
Das alles war so neu. Die Gefühle – so fern jeder Beschreibung. Seine Energie vibrierte in meiner Hülle. Stürmisch rangen unsere Seelen umeinander. Aneinander. Ineinander. Und doch gab es da Zurückhaltung von seiner Seite aus. Ich wusste dabei nicht wieso, aber ich konnte es deutlich wahrnehmen. Er war vorsichtig. Drosselte seine Essenz. Es war eben nicht so, wie es sein sollte.
“Spiel mit mir. Vollständig.” Ich jagte einen elektrischen Impuls von mir, um meine Aussage zu untermalen. Die Reaktion darauf folgte prompt. Er verspannte sich, stieß ein dröhnendes Knurren aus und über seine leuchtende Haut raste das schwarze Schuppengeflecht, welches er eigentlich nur zur Verteidigung einsetzte. Ein faszinierender Anblick.
“Böser Fehler!” Seine Macht stieg sprunghaft an. “Das wirst du bereuen ...” Ich lächelte. Was wusste er schon, was für mich gut war. Ich wollte ihn ungezügelt. Unbeherrscht. Alles an mir sehnte sich danach, von ihm berührt zu werden und es war das schönste überhaupt, als er mein lockendes Flehen endlich erhörte.