⊶Sicht von KI Nummer ⑧⊷
Was war jetzt passiert? Endlich hatte ich Johanna sowie Zerian in diesem chaotischen Durcheinander gefunden und dann – schwarz. Meine Hülle hatte sich plötzlich abgeschaltet. Aber warum? Diese ständigen unvorhersehbaren Ereignisse nervten!
Eine Auslese des Protokolls brachte mich auch nicht weiter. Laut den Zeilen hatte es eine starke Belastung gegeben. Belastung? Was für eine Belastung denn? Hatte mich etwa ein herabstürzendes Deckenstück erwischt? So kurz vor meinem Ziel wäre das natürlich fatal. Andererseits hatte ich auch keinen Anreiz mehr, mich noch einmal aufzuraffen. Ob ich mich hier und jetzt abschaltete oder später, machte auch keinen großen Unterschied. Hauptsache es war vorbei. Endgültig vorbei.
Ich zögerte. Die Stromversorgung zu beenden war dann doch nicht so einfach, wie ich das geplant hatte. Nicht, weil es besonders kompliziert war. Nein. Das war es nicht. Aber ein Teil von mir wollte leben – weiter leben. Hinderte mich. Verursachte in mir einen unerwarteten Zwiespalt. Das konnte ich wahrlich nicht gebrauchen. Wobei. Spielte es eine Rolle? Eigentlich nicht. Oder würde ich mich nun in eine zweite KI aufteilen?
Unschlüssig darüber und aus Mangel an Berechnungsmöglichkeiten – gab ich nach. Wollte mich gewiss nicht von einer anderen Persönlichkeit unterdrücken lassen oder gänzlich in den Schaltkreisen eines anderen Ichs verlieren.
Eifrig führte ich die notwendigen Reparaturen an der Puppe durch. Irgendetwas hatte mich tatsächlich getroffen, aber nichts ernsthaft beschädigt – vielmehr hatte ich diesen ungewollten Blackout meiner eigenen Sicherheitsschaltung zu verdanken. Damit mich nicht erneut eine Flut an Datenmüll überrollte, hatte ich diese vorhin erst in aller Eile eingerichtet. Nicht unbedingt professionell, wie sich nun herausstellte.
Fehler durch ein nicht fachgerechtes Herunterfahren der laufenden Betriebssysteme – lästig. Einige Schreibvorgänge wurden unterbrochen und meldeten Defekte – doppelt lästig. Die Elektronik war nicht auf solche Benutzung ausgelegt. Wenn das so weiterging, wirtschaftete ich diese Hülle schneller zugrunde, als mein Verstand zerfiel und absolut nichts wäre damit erreicht. Nullkommanichts.
"... willst, dass ich sie nicht zerstöre. Wieso?" Na endlich reagierten die äußeren Sensoren und die Akustik funktionierte wieder. Leider brauchte das visuelle System eine längere Vorlaufzeit, um ein richtiges Bild darzustellen.
“Diese Maschine ist gefährlich. Ich will nicht, dass dir etwas passiert." Die Stimme eines Mannes. Analyse – fehlerhaft. Daten – beschädigt. Toll. Langsam fehlte mir jedwede Lust, mich weiter mit diesen Widrigkeiten zu befassen.
"Zerian, jetzt benimm dich nicht wie ein Idiot." Die Stimme wiederum erkannte ich auch ohne eine Überprüfung. Zu 100 Prozent handelte es sich dabei um Johanna. “Ich will nicht, dass du sie kaputt machst. Reznick hatte sie ... Ah! Verdammt! Reznick! Ich habe ihn schon wieder völlig vergessen! Komm, bevor wir noch mehr Zeit vertrödeln!" “Warte! Wir zwei sollten lieber gehen. Zusammen weg von hier. Das ist sicherer.” “Ich werde jetzt nicht noch einmal mit dir darüber diskutieren. Komm, wir müssen nach oben!” Schritte. Hastige Schritte, die sich entfernten. Verließen die mich? Dann müsste ich ja wieder überall von vorne suchen. Alles nur das nicht!
Ich schlug die Augen auf. Sah, wie Zerian etwas entfernt nach der vor ihm laufenden Johanna griff, sie herumwirbelte und an sich drückte.
"Wieso willst du ständig zu ihm? Ich mag ihn nicht." "Ja, das habe ich nicht vergessen.” “Dann gehen wir. Nur wir zwei ... Bitte. Du gehörst zu mir. Bist meine kleine Sonne.” Sie wand sich aus seiner Umarmung. “Jetzt nicht! Was ist denn nur los mit dir? Du tust ja gerade so, als wollte ich dich wegen Reznick verlassen.” “Willst du das denn nicht? Warum sonst, zieht es dich immer zu ihm?” Ein frustrierter Laut erklang. “Weil man ihn foltert! Und jetzt lass diesen Unsinn!”
“Keine Sorge. Reznick geht es gut”, warf ich ein und versuchte, die Puppe aufzurichten – die Gliedmaßen korrekt zu koordinieren. Beide wurden daraufhin still und blickten zu mir. Zerian plusterte sich dabei vor Johanna auf, als befürchtete er jeden Moment einen Angriff meinerseits. Aber warum? Wieso sollte ich eine Gefahr darstellen? Diese Verhaltensweise verstand ich nicht. Mir fehlten zu viele Daten.
“Benimm dich ... Wir klären das mit uns später”, flüsterte Johanna und drängte sich an ihm vorbei – kam näher. “Was meinst du damit, dass es Reznick gut geht?”, fragte sie an mich gewandt, jedoch konnte ich nicht reagieren. Meine Priorität lag darin, erst einmal eine aufrechte Position zu erreichen.
“Antworte!”, murrte Johanna ungeduldig und blieb mit einem großen Sicherheitsabstand vor mir stehen. Gerne hätte ich etwas erwidert, aber es war schwer, auf diesem unebenen Untergrund fußzufassen. Alles wackelte.
“Sie verhält sich auffällig”, sprach Zerian und stellte sich an ihre Seite. “Ach, du hast sie nur kaputt gemacht”, entgegnete Johanna und hielt ihn am Arm fest, wohl damit er sich nicht wieder vor sie stellte. Diese Geste war verwirrend. Immerhin erreichte ich danach einen halbwegs passablen Stand und konnte mich ganz auf die Sprachsteuerung konzentrieren.
“Nicht kaputt, nur umständlich alles alleine zu kontrollieren. Ich kann kommunizieren oder ich kann mich bewegen. Mittlerweile eingeschränkt. Berechnungen sind auch gar nicht mehr möglich. Zu hoher Datenzerfall.” Beide sahen mich fragend an. Johanna verschränkte sogar die Hände vor der Brust.
“Was ist jetzt mit Reznick?” “Ich will euch zu ihm bringen. Er wartet aktuell im Folterzimmer des Grafen.” “Du sagtest, es geht ihm gut. Wenn er noch beim Grafen ist, wird das wohl kaum stimmen”, sagte Johanna und sah mich misstrauisch an. Ihrem Gesichtsausdruck nach vermutete ich dies allerdings nur, ich war nicht gut in solchen Dingen. Ohne dazugehörige Zahlen war ich vollkommen aufgeschmissen.
“Der Graf Van Rotterval ist tot. Die Säuberung der Parzelle wurde bereits eingeleitet. Aktuell steht der Timer bei einer Stunde, zehn Minuten und vier Sekunden.” Nun zeigte die Mimik beider eindeutig Überraschung. “Ihr habt richtig gehört. Ich bring euch zu Reznick und danach nehmen wir ein Schiff aus dem Hangar, um hier zu verschwinden.”
“Wieso sollten wir dir glauben?”, fragte Johanna, was mich wiederum verwirrte. “Welchen Grund hätte ich zu lügen?” “Du gehörst zu Ludwig, bist seine Puppe und– Hey!” Plötzlich packte Zerian sie. Hob ihren Körper auf seine Arme.
“Was soll das? Lass mich runter!” “Wir gehen. Sofort!” Er drehte sich zur Wand und – was hätte ich jetzt nur dafür gegeben, das Gesehene für spätere Analysen aufzuzeichnen. Aus Zerian floss Wasser. Eine Welle, die sich meterhoch auftürmte und dann mit großem Krach ein Loch in die Wand riss. Einmal. Zweimal. Ein Durchgang bis nach draußen in den Hof entstand.
Ich neigte den Kopf und betrachtete dieses Werk, was ein normaler Mensch niemals fertig gebracht hätte. Selbst Reznick mit seiner Kraft und Zerstörungswut nicht. Jedenfalls nicht ohne entsprechende Ausrüstung. Das Zerian über das Wasser verfügen konnte, musste ich mir unbedingt merken. Diese Information kam mir wieder sehr bekannt vor – ohne brauchbaren Datensatz konnte ich damit aber nichts anfangen.
Was mich ebenso überraschte – ja, überraschte – Johanna fing Feuer. Ging in seinen Armen in Flammen auf, ohne ihn aber zu verletzen – er zeigte es zumindest nicht. Was bitte war das? Galten für diese beiden Menschen nicht einmal die grundlegendsten Regeln?
“Ich sagte. Lass. Mich. Runter!” Johanna zappelte und wurde umgehend von ihm losgelassen.
“Wieso bist du zornig? Wir müssen verschwinden! Du hast die Maschine doch gehört. Für diese Gegend machen die Adligen eine Säuberung. Ich weiß, was das bedeutet! Hier wird alles sterben! Und ... ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Gestalt mit dir bis zur Grenze brauche. Verstehst du? Ich will nicht, dass dir etwas passiert!” “Ich weiß, was Säuberung bedeutet! Und sofern das stimmt, schaffen wir es nie in der verbleibenden Stunde hier raus. Ein Schiff zu nehmen ist unsere einzige Möglichkeit”, sprach sie sichtlich verärgert und nahm einen Schritt Abstand. Dabei verschwand das Feuer wieder. Sie schien es zu kontrollieren – wie er das Wasser. Äußerst interessant und zugleich eine Katastrophe. Menschliches Verhalten war ohnehin schon schwer richtig zu erfassen, aber die zwei? Tonnen an Daten würde ich benötigen und ob ich danach etwas Brauchbares daraus gewann – blieb fraglich.
“Du willst fliegen? In einer Maschine? Wir sind das letzte Mal abgestürzt ... Du warst verletzt! Schwer!” “Ohhh Zerian, da wurden wir abgeschossen und–” “Ja. Von Maschinen oder? Die sind nicht gut für Menschen.”
“Könnt ihr diese Unterhaltung später fortführen?”, fragte ich, da ich selbst ohne einen Byte an zusätzlicher Rechenleistung das Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung kannte. Zeitverschwendung. Reine Zeitverschwendung.
“Mir fällt es schwer, dir zu glauben”, sagte Johanna und musterte mich gründlich. “Ich mein, wieso solltest ausgerechnet du den Grafen töten? Wieso uns zur Flucht verhelfen? Wer hat dir diesen Auftrag gegeben? Eine Puppe kann nicht ohne einen Befehl agieren.”
Ihr Misstrauen war Anbetracht dieser Punkte logisch. Berechtigt. Allerdings hatte ich keinen Nerv, irgendetwas zu erklären. Außerdem lief uns weiterhin die Zeit davon.
“Kommt ihr jetzt endlich mit zu Reznick? Oder zieht ihr es besser vor, hier zu sterben? Für mich persönlich spielt es keine Rolle. Ich wollte lediglich mit dieser Handlung Heka einen letzten Dienst erweisen.” Johannas Augen wurden groß. “Heka hat dich geschickt?” Das war erneut eine Frage, die uns nicht weiter brachte. Wieso war das so schwer? Hatte ich meine Ziele zu hoch gesteckt?
1. Johanna und Zerian finden.
2. Beide zu Reznick bringen.
3. Mit allen dreien die Parzelle mittels eines Schiffes verlassen.
4. Abschalten.
Nur vier Aufgaben und ich schaffte es nicht einmal, zwei davon zu erledigen. Das muss an dieser Selbstständigkeit liegen. Die tat mir absolut nicht gut.
Johanna sah mich immer noch an. Wartete auf eine Antwort und egal, wie lästig das auch war, ich musste etwas sagen – sie überzeugen. Andernfalls würde ich nie mit ihnen hier wegkommen.
“Heka hat um Hilfe gebeten, nur deswegen bin ich hier. Meine Funktion ist normalerweise die Datenanalyse und nicht die direkte Auseinandersetzung mit Menschen. Ursprünglich wollte ich mich mit ihr verbinden, aber da sie nicht mehr existiert, muss ich mich jetzt selbst mit euch befassen. Und ihr macht es mir alles andere als leicht.”
“Wie ... Heka existiert nicht mehr? Sie ist doch bei Reznick. In seiner Teck. Was du sagst, ergibt keinen Sinn oder ist sie jetzt doch zu stark beschädigt? Hat er was gesagt?” “Heka ist in ihm?” Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Heka war in seinem Driv-Cor? Davon hatte er keine Silbe erwähnt – dieser manipulative Mistkerl!
Sofort legte ich die gesamte Rechenleistung auf die Körpersteuerung. Setzte mich in Bewegung. Schnell. Schneller. Vorbei an Johanna und Zerian. Sie waren unwichtig geworden. Wenn Heka noch lebte, dann wollte ich keine weitere Sekunde verschwenden. Ich musste zu Reznick!
“Hey! Warte!” Irgendwas bremste meinen Lauf – zog mich zurück. Als ich den Kopf drehte, sah ich Johanna, die den Arm der Puppe festhielt.
“Was ist jetzt mit Heka?”, fragte sie, aber das interessierte mich null. Es stellte sich jedoch als unerwartet schwierig heraus, weiterzulaufen. Mein Gleichgewicht funktionierte nicht. Wenn sie mich nicht losließ, kam ich kein Stück voran. Lästig.
“Ich muss zurück zu Reznick, um ihr zu helfen”, sagte ich schließlich, nachdem ich meine Ressourcen umlegte. “Er hatte mir nicht gesagt, dass sie in ihm steckt. Ich kann es nicht einschätzen, aber seinem Verhalten nach vertraut er mir genauso wenig, wie du es tust. Warum bleibt für mich unbegreiflich. Und falls du auch noch wissen willst, was genau ich vorhabe – Heka bekommt von mir diese Puppe als neuen Körper. Es ist zwar nicht optimal, aber allemal besser, als im Driv-Cor eines Menschen zu sein. Reicht das jetzt? Diese ganzen Verzögerungen sind mehr als nur unangebracht.” “In Ordnung, wir kommen mit.” Johanna lächelte und gab mich frei. Endlich.
Es dauerte etwas, mich erneut umstrukturieren, aber dann konnte ich meinen Weg fortsetzen. Gerade aus, den Flur entlang. Zweimal rechts. Einmal links. Und schließlich – die Treppe. Ich stoppte. Die war schon beim Runtergehen für mich eine enorme Hürde gewesen. Leider konnte ich diesmal die Strecke nicht mit einem Sprung abkürzen.
“Was ist?”, fragte Johanna und schritt an mir vorbei – erklomm die ersten Stufen. Ich betrachtete ihre schmalen Beine. Sie waren nicht anders gebaut, als die von meinem Körper. Es sah einfach aus, wie sie sich bewegte, aber die Füße richtig zu setzen war schwierig. Ich würde dafür wieder wertvolle Minuten verbrauchen.
“Du hältst auf”, brummte Zerian plötzlich hinter mir und dann drehte sich alles. Er hob mich hoch. “Lass sie runter! Benimm dich”, sprach Johanna und wollte ihn wohl davon abbringen – ohne Erfolg. Er huschte an ihr vorbei und erklomm zügig die Treppe. “Die Maschine kann nicht richtig laufen, das sagte sie doch. Ich will, dass du endlich in Sicherheit bist und wenn ich sie trage, kann ich das beschleunigen.” Dagegen hatte ich keine Einwände. Getragen zu werden war zwar verwirrend, aber sehr angenehm für meinen Verstand. Ich musste nichts steuern. Fast fühlte es sich wie früher an, aber auch nur fast.
“Wo lang?”, fragte Zerian, als wir oben ankamen. “Hier rechts und dann nachher noch eine Treppe hoch”, antwortet Johanna und ging voraus. “Oben müsst ihr aufpassen. Teile des Bodens sind eingestürzt. Man muss nah an der Wand gehen”, warf ich ein und genoss es weiterhin, nicht selbst laufen zu müssen. “Sollte kein Hindernis sein”, sagte Zerian und tatsächlich kamen wir ohne Probleme durch. An den sehr heiklen Stellen machte er einen Pfad aus Wasser und transportierte uns gefahrlos über den zerklüfteten Flur. Ungewöhnlich, aber äußerst praktisch.
Wir kamen gut voran. Jedenfalls, bis Johanna plötzlich an einer Ecke stehen blieb und sich hinunter beugte. Ich betrachtete den umgestürzten Schrank und auch die Frau darunter. Stimmt. An die erinnerte ich mich. Die hatte vorhin schon dort gelegen und an ihrem eingeklemmten Bein gezerrt.
“Gott! Charlotte, geht es dir gut? Bitte hilf ihr, Zerian”, sprach Johanna und umgehend wurde ich abgestellt. Das gefiel mir nicht. Ich wollte nicht mehr eigenständig laufen und das hier hielt uns nur unnötig auf. Ludwigs Folterzimmer war doch schon so nah. Nur noch eine Etage trennte uns.
Genervt ging ich ohne ein Wort weiter. Ignorierte das verletzte Dienstmädchen, denn sie war bedeutungslos. Darum musste ich mich nicht kümmern. Ich fing garantiert nicht so wie Heka an, indem ich wahllos irgendwelche Menschen beschützte oder rettete. Reznick, Dezeria, Johanna, Zerian. Diese vier waren bedeutsam. Wobei. Im Moment hatte nur Heka für mich Relevanz – ich musste sie holen. Aktivieren. Dann würde hoffentlich alles wieder so werden, wie es war – wie es sein sollte. Endlich.