Ich kam nicht wirklich dazu, mich im Haus meines Freundes umzusehen. Eine Schale mit grünen und gelben Äpfeln, welche auf dem Küchentisch stand, ließ mich alles vergessen. Essen. Ich musste essen! Ein regelrechter Fressrausch überkam mich ... Gott! Ich war am Verhungern! Ich aß alle fünf Äpfel im Ganzen, öffnete danach noch die Bodenklappe zu seinem Vorratsraum und bediente mich auch dort blindlings. Ich futterte alles, was ich ergreifen konnte. Erst ein unerträgliches Völlegefühl holte mich wieder aus diesem Wahn.
“Oh”, entwich es mir überrascht, als ich die ganzen angebissenen Lebensmittel um mich herum auf dem Boden liegen sah ... was war nur in mich gefahren?! Wie eine Verrückte hatte ich hier nackt auf dem staubigen Holzboden gesessen und alles wahllos in mich hineingestopft. Meine Mutter hätte mir die Ohren langgezogen! Vater wohl auch. Bei den Monden! Es war mir mit einem Mal so schrecklich peinlich, Hannes’ ganzen Vorrat an getrocknetem Fleisch und Käse derart verschwenderisch gegess– nein gefressen zu haben. Was stimmte nur nicht mit mir? Ich hielt mir den Kopf und zitterte unwillkürlich. Ich war fertig ...
Ich wusste nicht, wie lange ich dort in diesem Unterkeller hockte und mich selbst bemitleidete, aber meinen schmerzenden Beinen nach, wohl eine ganze Weile. Ich gab mir schließlich eine Ohrfeige – was echt weh tat! Aber es half. Ich schaffte es, aufzustehen. Ja ... Ich ... Ich wollte doch Normalität? Ich war nicht verrückt ... Nein. Ich atmete tief, tief ein. Ja, ich brauchte dringend etwas zum Anziehen. Nicht dass Hannes mich so vorfinden würde ... Das fehlte mir noch!
Mit wankendem Gleichgewicht, kribbelnden Füßen und immensen Bauchschmerzen kämpfte ich mich die kleine Treppe hoch. Ich ging erst in sein Gästezimmer – meinem alten Zimmer und suchte in den Schränken sowie den Schubladen nach meinen Sachen. Ich hatte bei meiner Abreise vor zwei ... oder mittlerweile drei? Ich hatte gar kein Zeitgefühl mehr ... Jedenfalls konnte ich vor ein paar Tagen bei meiner Abreise nicht alles mitnehmen und hoffte, dass Hannes nichts weggeworfen hatte.
Gott! Ja! Unterwäsche ... ENDLICH! Ich kramte einen weißen Slip und einen BH heraus ... unweigerlich wurde ich rot, weil ich diese Sachen zurückgelassen hatte. Irgendwann hätte Hannes dies weggeräumt. Er hätte meine Unterwäsche angefasst ... Ich schüttelte schnell den Kopf und nahm mir noch ein braunes Alltagskleid heraus. Ich legte die Sachen aufs Bett, zögerte aber, mich sofort anzuziehen. Im Wandspiegel sah ich mein Spiegelbild und erschrak. In meinen Haaren hingen Blätter und Stücke von irgendwelchem Geäst, dies war aber nicht, was mich innehalten ließ. Ich sah schlagartig eine nackte Frau, welche man schminkte und in ein Brautkleid steckte – eine Puppe, die teilnahmslos sich anfassen ließ ... ich sah mich. Gott, ich hatte den Grafen geheiratet und er hatte auch mit mir ... sofort wurde mir schlecht! Ich rannte ins Badezimmer und würgte über der Toilette.
Nachdem mich gefühlt sämtliches Essen wieder verlassen hatte, ging es mir besser. Na ja, nicht wirklich. Ich fühlte mich beschämt und einfach nur noch schmutzig. Ja, durch und durch. Mein Blick schweifte über den holzbetriebenen Glühofen, ja, ein Bad mit warmem Wasser ... aber nein. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Hannes würde noch bis 16 Uhr arbeiten, bis dahin sollte ich das Haus wieder verlassen haben. Ja, wie konnte ich nur so dumm sein, ihn um Hilfe zu bitten? Ihn solcher Gefahr auszusetzen? Gott, wieso war ich nur so dumm?
Ich war doch überhaupt erst hier weggegangen, weil ihn Männer verprügelt hatten. Ja! Männer des Grafen hatten ihm sogar mit dem Tode gedroht, wenn er mich nicht auf die Straße setzte. Ich ging also freiwillig. Verließ mit einer Tasche Rotterval, um in die nächste Stadt zu gelangen. Ja ... unterwegs schnappten sie mich dann. Ich war wirklich dumm. Ich hatte dies tatsächlich alles vergessen in meiner ganzen Panik und Verzweiflung ... Ich musste also schnell wieder hier verschwinden, um ihm nicht noch mehr Ärger zu bereiten oder Schlimmeres! Aber, wohin? Zu Fuß noch mal bis zur Grenze laufen? Nein. Ausgeschlossen. Ja, ein Pferd! Ich würde mir einfach ein Pferd besorgen und so abhauen ... nur weg von hier. Weit weg. Schon wenn ich nur an den Grafen dachte oder an diesen verrückten Haus- und Hofmeister ... oder den Zopftypen ... Hilfe, mir wurde schon wieder schlecht.
Ich konnte nicht anders, als mich kurzerhand zu dem in der Ecke stehenden Waschbottich zu bewegen. Ich wusch mich mit kaltem Wasser, welches sich aber sehr angenehm anfühlte. Vermutlich bildete ich es mir aber auch nur ein, da der Ekel von den Berührungen, den Blicken auf meinen Körper, die Peitschenhiebe ... dem Sex, alles andere überlagerte. Ja, ich versuchte krampfhaft, die vergangenen Tage von mir abzuwaschen – versuchte es, zu verdrängen. Sorgfältig scheuerte ich mit Seife über meine Haut und meinem Intimbereich, doch egal wie gründlich ich dabei vorging, ich fühlte mich trotzdem schmutzig. Bevor mir letztlich die Tränen kommen konnten, goss ich einen Eimer über meinen Kopf. Ein Zweiter folgte. Tropfnass stand ich da ... atmete zittrig ein und aus. Dieses bedrückende Gefühl blieb und würde es wohl immer. Ich hasste mein Leben ...
“Dezeria?”, sprach eine verwirrt klingende Stimme und ließ mich erschrocken zusammenfahren. “Hannes?!”, keuchte ich und blickte zur Tür. Er stand da ... wirklich ... O Gott! Schnell drehte ich mich herum und griff nach einem Handtuch. War ich so in Gedanken gewesen, dass ich mich jetzt stundenlang gewaschen hatte? Gott! Er hat mich nackt gesehen! Scham ließ sofort mein Herz beschleunigen und sicherlich meinen Kopf knallrot wie eine Tomate werden.
Ein flüchtiger Blick zu ihm verriet mir, dass er noch immer im Türrahmen stand und ... “Bei den Monden! Hannes, was ist mit dir passiert?!”, sprach ich erschüttert, als mir die Verletzung an seinem Kopf auffiel. Unter seinen wilden schulterlangen braunen Haaren konnte ich eine Augenklappe sowie lauter Blutergüsse erkennen. “Du bist es wirklich, Dezeria ...”, sprach er, musterte intensiv meinen Leib und dann wurde er wütend. “Wieso bist du hier? Verdammt, was machst du hier, Dezeria?! Du bist vor zwei Tagen einfach verschwunden und es hieß, du hast gestern noch schnell den Grafen geheiratet!” Ich schluckte schwer, zog den Stoff gründlicher über meine Nacktheit und wandte schließlich meinen Blick ab. “I-ich hab ihn doch nicht freiwillig geheiratet. Er-er hat mich gezwungen!”, schniefte ich und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen.
Es war kurz still zwischen uns, ehe er dann wieder das Wort erhob: “Gezwungen? Ja klar. Außerdem erklärt das nicht, warum du nun hier bist. Hier, in meinem Badezimmer, Dezeria. Hat der Graf etwa kein Wasser, sodass du dich nun hier waschen musst?” Verwirrt über seine spöttischen Worte sah ich ihn an. Er meinte es ernst. Sein Gesichtsausdruck brachte mir nur Verachtung entgegen ... Warum? “Nun? Was ist jetzt? Willst du etwa mein Haus? Als neue Gräfin kannst du ja tun und lassen was du willst, aber für so dreist hätte ich dich nicht gehalten.” Jetzt machte er mich allerdings wütend! “Du Arsch!”, knurrte ich also und ging an ihm vorbei Richtung Gästezimmer. Ich wollte mich nur noch anziehen und hier schleunigst verschwinden!
“Was? Bist du dir zu fein, mir eine Antwort zu geben?”, hörte ich ihn hinter mir, als ich in den Raum ging. “Halt den Mund! Was weißt du schon!”, schrie ich mit wegbrechender Stimme und wollte die Tür schließen, was er aber verhinderte. “Nimm deinen verdammten Fuß da weg!” “Noch ist das hier mein Haus!” “Ich will dein blödes Haus gar nicht! Ich bin nur hier wegen meinen Sachen! Ich will mich nur anziehen und dann weg aus dieser Stadt! WEG! Hörst du?!” “Warte!”, stieß er nun die Tür ruppig auf und sah mich kreidebleich an. “Bist ... bist du ihm etwa weggelaufen?” “Ich bin ihm entkommen, ja”, antwortete ich verwirrt, aber immer noch zornig. “Scheiße!”, fluchte er und so schnell konnte ich gar nicht reagieren, wie er sich nun herum drehte. Er lief den Flur entlang ... O nein! Was, wenn er jetzt dem Grafen Bescheid sagte, dass ich hier war?! Gott! Ich hätte nie herkommen dürfen!
“Hannes! Warte!”, rief ich also und rannte ihm hinterher. Gerade, als ich das Zimmer verließ, kam er aber schon zurück. Wütend. “Han–” Mehr schaffte ich nicht, da er mir eine Hand auf dem Mund presste und mich gegen den Türrahmen donnerte. “Kein Wort!”, sprach er eindringlich und starrte mich finster an. Verunsichert und ängstlich nickte ich schließlich. Gott ... Was sollte das plötzlich? “Du bleibst genau hier stehen und verhältst dich ruhig!”, ermahnte er mich und nahm dabei die Hand runter. Ich nickte erneut, wodurch er sich herum drehte und zur Haustür eilte. Ich schluckte, er wollte also doch den Grafen holen? Aber entgegen meiner Erwartung drehte er nur den Schlüssel, um die Türe zu verriegeln. Danach streifte er durchs Haus und vergewisserte sich, ob die Fenster verschlossen oder die Vorhänge zugezogen waren. Ich sah es zwar nicht bei der Küche und dem Wohnzimmer, aber ich hörte es überdeutlich.
Ich ging derweil ins Zimmer zurück und trocknete mich ab. Als ich mir gerade die Unterwäsche anzog, kam Hannes herein. “Ich sagte doch, bleib da stehen!”, schimpfte er und zog auch hier an beiden Fenstern den Stoff zurecht. Ich hingegen sog scharf die Luft ein und kämpfte mich vor lauter Peinlichkeit schnell in mein Kleid. Gott ... als ich fertig war, stand er einfach nur da und starrte mich an ... wo waren bitte seine Manieren hin? “Musste das sein?”, knurrte ich also, denn solch Unverschämtheit war ich von ihm nicht gewohnt.
“Hat dich wer gesehen?”, fragte er dagegen. “Hm? Nur du”, knirschte ich zurück. “Ach! Ich mein, wer weiß, dass du hier bist? Du bist wohl zur Küche rein – hat das jemand gesehen?” “Ich glaube nicht”, antwortete ich verunsichert. “Verdammt! Dezeria, ich mein es ernst!”, schimpfte er und packte mich grob an den Armen. “Ich weiß es doch nicht! Lass los, du tust mir weh ...” “Gut so! Weißt du, dass mich der Sektorand den einen Abend besucht hat? Scheiße, Dezeria! Er hat mich verprügeln lassen”, sprach er aufgebracht, ließ mich los und zog sein Hemd aus der Hose. Ich hielt fassungslos die Hände vor meinen offenen Mund, als ich die ganzen tiefblauen und roten Prellungen an seinem Oberkörper sah. “Gott ... das hat dir wirklich Hellkus angetan?” “Nein, seine Männer. Er hat mir lediglich das Auge ausgestochen, weil er mir nicht glaubte, dass ich nicht weiß, wo du bist!”
Ich sank vor ihm auf die Knie. Bei der Vorstellung, der beste Freund meines Vaters könnte so etwas grausames tun, überlief es mich heiß und kalt. “Nein ... das ... das wollte ich doch nicht“, brachte ich weinerlich heraus. “Warum bist du dann weggelaufen?”, sprach er dagegen monoton und hockte sich vor mir. “Ich ... ich kann nicht beim Grafen bleiben. Er ist ein Monster! Alle dort! Sie töteten meine Eltern ... das Feuer war kein Unfall.” “Ja. Das dachte ich mir schon, aber das meinte ich nicht. Warum bist du von mir fort?” “Sie haben dich meinetwegen ... verprügelt”, flüsterte ich, während mir die Tränen liefen. Bei den Monden ... sie hatten ihn auch geschlagen, weil ich nicht hier war. Ganz gleich, was ich also tat ... es war immer das Falsche ...
“Du hast mir nicht einmal einen Brief dagelassen. Ich hatte mir große Sorgen gemacht”, sprach er und legte eine Hand an meine Wange. Verunsichert suchte ich seinen Blick, wusste aber nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ja, ich hatte es vergessen ... Warum? Ich wusste es selbst nicht, ich war in aller Frühe aufgebrochen – war vollkommen in Gedanken gewesen ... es war zu viel für mich ... auch das hier.
“Komm, du solltest nicht auf dem kalten Boden sitzen”, sprach er nun deutlich freundlicher und half mir auf. Meine Beine wollten aber nicht wirklich. Ich wankte und wäre wohl wieder zu Boden gegangen, wenn er mich nicht umarmt hätte. Nun überkam mich alles ... Schmerz, Trauer, Wut, Verzweiflung ... Ich heulte bitterlich in seinen Armen, wie ich es wohl zuletzt als kleines Mädchen getan hatte.
“Shhh, ist ja gut”, hörte ich es knapp zwischen all meinen Schluchzern, während seine Hände über meinen Rücken, sowie meinem tropfnassen Haar strichen. Das half aber wenig. Es brachte lediglich nur weitere fürchterliche Tränenwellen hervor. Er ließ es deswegen auch und drückte mich stattdessen ganz fest an sich, ja, das half etwas.
Plötzlich stießen meine Beine gegen etwas und dann landete ich auch schon rücklings mit ihm auf dem Bett. Ich hatte so aufgelöst gar nicht mitbekommen, dass wir uns bewegt hatten. Was ich aber definitiv auch durch meinen aufgewühlten Zustand mitbekam, waren seine Berührungen danach, welche nicht länger nur trösten wollten. Seine eine Hand umfasste meinen Nacken, während die andere zu meinen Brüsten wanderte.
Warum ... Hannes, warum? Du hattest mich, nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen. Ich lebte bei dir knapp eine Woche und du warst in dieser Zeit für mich da. Hattest mich getröstet, aber nie berührt – nicht so. Du warst doch schon immer mein Freund gewesen, Hannes. Seit wir klein waren – du warst wie ein Bruder für mich.
Verwirrt von all dem sah ich ihn durch meinen Tränenschleier wie betäubt an und dann ... küsste er mich.
[Auch hier wieder ein großes Dankeschön an Darklover für die Rechtschreibhilfe :>]