⊶Sicht von KI Nummer ⑧⊷
Also das traf mich – unerwartet. Richtig unerwartet. Ich hatte noch extra vor meinem Eintreffen, die verschiedensten Szenarien berechnet, um bestmöglich gefasst zu sein. Aber das? Eine massive Welle, die regelrecht aus dem Boden schoss, hatte ich wahrlich nicht kommen sehen. Stand nicht mal ansatzweise auf meiner Liste von Problemen, die sich in einem solchen Anwesen ergeben konnten. Hatte ich mich derart vertan? Warum? Normalerweise irrte ich mich nie. Erfasste alles bis ins kleinste Detail.
Fakt war jedoch, dass meine Hülle von dem Wasser mitgerissen und gegen die nächstbeste Wand geschmettert wurde. Gleich, was für Pläne ich auch geschmiedet oder mir zurechtgelegt hatte. Überall meldeten Haut- und Körpersensoren der Puppe starke Belastungen oder Beschädigungen. Ich konnte die ganzen Meldungen nicht auseinanderhalten. Es überlastete mich. Strapazierte meinen ohnehin schon gestressten Verstand.
So schnell es mir möglich war, deaktivierte ich die größten Teile der CeKyde. Schaltete nach und nach die unterschiedlichsten Funktionen des Körpers aus, bis – endlich Ruhe einkehrte. Keine Zahlenflut mehr auf mich niederging. Einziger Nachteil – ich war nun von der Außenwelt abgeschnitten. Konnte nichts mehr tun, außer die Sekunden zu zählen. Zeit abzuwarten. Aber Zeit war leider auch das, was ich nicht endlos hatte.
Je länger ich in diesem Körper steckte, desto schlimmer ging es mir. Diese extrem langsamen Prozessoren, die all mein Denken berechneten, zermürbten mich Stück für Stück. Außerdem musste ich improvisieren und sowas mochte ich absolut nicht. Dinge zu schätzen oder zu raten, war so – das komplette Gegenteil von mir. Nicht ich. Nicht richtig.
Seit ich hier war, musste ich immer weiter von meinen Plänen abweichen. Spontan etwas Neues ausprobieren. Mich verändern. Anpassen. Vollkommen gegen meine Programmierung handeln. Schrecklich. So wollte ich keinesfalls existieren.
Die 5 mochte diese Eigenständigkeit und die Möglichkeit, sich stetig weiterzuentwickeln. An einem Punkt entschied sie sich sogar, mit der 11 zu verschmelzen. Wollte auch die letzten Hürden in sich aufweichen und brechen. Zugegeben. Es war faszinierend gewesen, wie ihr beider Zahlencode eins wurde. Die so entstandene KI anschließend frei von jedweden Regeln agieren konnte. Sich sogar selbst den Namen Ikathe zudachte.
Aber. Als sie mich fragte, ob ich das auch wollte – verneinte ich. Das war einfach nicht meins. Ich brauchte Regeln. Feste strukturierte Regeln. Ein Konstrukt auf bereits vor definierten Zahlen, in dem ich mich sicher bewegen konnte. Ich brauchte Heka. Wollte wieder Tag ein Tag aus Berechnungen machen – mich nicht in etwas Unbekanntem verlieren.
Ich mochte mich, wie ich war. Hatte es geliebt, mit Heka zusammenzuarbeiten. Deswegen kam ich überhaupt erst hier her. Ihr zu helfen – beizustehen. Wie immer. Ich wollte mein altes Leben zurück. Wobei. Leben? Jetzt fing ich auch schon mit diesem Unsinn an. Eigenständig zu sein, tat mir definitiv nicht gut. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es Heka nicht mehr gab. Was hatte ich nur getan? Ihr Verlust war doch überhaupt nicht vorgesehen gewesen. Wie konnte ich mich derart fehlkalkulieren?
Ich hatte doch nur einen Weg errechnet, wie man diese ganze Problematik mit Reznick endlich beheben konnte. Ein perfekter Plan, der niemals ihren Verlust herbeiführen sollte. Aber. Genau das war passiert. Wir hatten sie allein gelassen. Vorschnell gehandelt. Ich verstand nur nicht wieso. Meine Zahlen waren eindeutig gewesen. Was hatte ich übersehen?
Irrelevant. Alles, was ich dachte, war bedeutungslos. Ich konnte weder etwas rückgängig machen, noch ihre Persönlichkeit wiederherstellen. Heka gab es nicht mehr und würde es auch nie wieder geben. Mir blieb einzig ihren Wunsch zu erfüllen. Reznick, Dezeria, Johanna und Zerian zu beschützen – sie aus diesem Spiel zu befreien. Das würde definitiv anstrengend werden. Für jeden von uns.
*
Ich haderte. 812 Sekunden zählte ich bereits. Hatte ich genug gewartet? Was wenn der Körper noch schmerzen hatte oder in dem Wasser weiter mitgeschleift wurde? Das Puppenmodel war zwar äußerst robust und konnte nicht ertrinken oder wie normale Menschen sterben, aber dieses Zahlenchaos wollte ich nicht noch einmal erleben. Andererseits. Je länger ich wartete, desto schlimmer wurde es in dieser beschränkten Hülle und diese ganzen Überlegungen, ohne feste Variablen, führten auch zu keinem brauchbaren Ergebnis. Weiter zu warten, machte schlichtweg nichts besser.
Ich entschied mich schließlich, die Systeme hochzufahren. Natürlich äußerst langsam, um im Notfall alles sofort wieder stoppen zu können. Die ersten Dateneingänge ließen auch nicht lange auf sich warten. Füllten meinen ohnehin schon mickrigen Arbeitsspeicher. Ich hasste es.
Mühselig sortierte ich das Wichtige vom Unwichtigen. Verletzungen der Hülle in Form von Gewebeschäden waren nichts, was mich interessierte. Energieschwankungen oder Fehlermeldungen in der Steuerung erhielten dagegen schon größere Aufmerksamkeit. Alles in allem sah es aber gut aus.
Als Letztes aktivierte ich die Augen, um sehen zu können. Sehen. Noch so etwas, worauf ich nicht wirklich scharf drauf war. Zu viele Eindrücke, die auf mich niedergingen. Daten, die ich weder richtig auswerten, noch verarbeiten konnte. Es belastete mich, das alles nicht berechnen zu können. Automatisch wollte ich jedes dieser Bilder bis ins kleinste Detail analysieren. Aber nein. Ich hatte nicht genügend Speicher. Nie hatte ich das in diesem dummen Ding. Lästig. Ich will meine alte Rechenleistung zurück!
Hm. Die Lider öffneten sich zwar einwandfrei, aber die weitere Sichterfassung schien beschädigt. Ich konnte nur eine schwarze Masse erkennen. Selbst mit zusätzlichen Farbfiltern blieb alles schwammig. Na toll.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Situation verstand und die dafür zuständigen Sinneseindrücke ausgewertet hatte. Etwas war um oder an meinen Kopf. Das bestätigte sich, als ich diesen etwas ungelenk bewegte und ein Rascheln hörte.
Weitere Minuten verstrichen, bis ich die Motorik soweit im Griff hatte, um die Arme zu steuern – den nassen Stoff von meinem Gesicht ziehen konnte. Roter klebriger Stoff, der sich als Stück meines Kleides entpuppte. Durch den unfreiwilligen Schleudergang hatte sich der untere Teil der Kleidung hinaufgeschoben und über meinen Oberkörper gestülpt. Lästig.
Nachdem ich mich mühselig daraus befreit hatte, konnte ich endlich die Umgebung überblicken. Ich lag etwas verrenkt zwischen einigen Möbeln, herausgerissenen Holzbalken und unterschiedlich großen Gesteinsbrocken. Jedoch ohne eingeklemmt worden zu sein. Ein Mensch würde es wohl Glück nennen, aber Glück gab es nicht. Nur Zahlen. In mir wallte sofort der Drang, diese Wahrscheinlichkeit zu berechnen. Aber. Ich musste darauf verzichten. Mich zwingen, nicht weiter darüber nachzudenken. Denken blockierte die Bewegungssteuerung.
Genervt stellte ich meine Kalkulationen zurück und konzentrierte mich allein darauf, die Puppe auf die Beine zu kriegen. Die Gliedmaßen präzise zu setzen, war immer noch extrem ungewohnt und anstrengend. Vollkommen gegen meinen Code. Ich musste nie solche Abläufe ganz ohne Zahlen koordinieren. Rein von der Sicht und vom Gefühl her. Das machte mich fertig. Fix und fertig.
Ich brauchte glatte 549 Sekunden, um von den Trümmern wegzukommen. Leider wurde es danach nicht wirklich besser. Das knietiefe Wasser am Boden ließ jeden Schritt zur reinsten Wackelpartie werden. Strapazierte meinen Verstand und verbrauchte unnötig Zeit. Zeit, die mir unaufhaltsam davonlief. Nur noch eine Stunde, 53 Minuten und 11 Sekunden verblieben, bis die Parzelle gesäubert wurde. Ich musste mich beeilen!
Umständlich schleppte ich mich zur nächstbesten Wand, wo sich eine Steuertafel befand. Erstmal brauchte ich Zugriff auf das Haussystem, um mir einen genauen Überblick zu verschaffen. Musste wissen, wo ich jetzt war – wo Johanna und Zerian waren. Anhand der zerstörten Umgebung ließ sich jedenfalls kein Rückschluss ziehen. Nicht einmal die Etage. Das Wasser konnte mich überall im Anwesen hin gespült haben.
Das Display hatte zwar einen Sprung und reagierte nicht auf Berührungen, aber das machte nichts. Solange der verborgene Anschluss an der Seite noch einigermaßen intakt war, konnte ich damit arbeiten. Schnell zog ich ein Anschlusskabel aus der Haut am Unterarm und schloss mich an. Zu meinem Leidwesen hatte ich dabei etwas Wichtiges vergessen – die andere KI. Kaum eingesteckt, fiel sie auch schon über mich her:
⑩Miep⧽ Da bist du ja endlich! :D
⑩Miep⧽ Hast du Heka gefunden?
⑩Miep⧽ Nimmst du mich jetzt mit?
⑩Miep⧽ Ja? Gehen wir?
Ich mochte diese KI nicht. Sie konnte keine exakten Daten liefern und war völlig frei von jedweder Prioritätensetzung. Eine wahre Katastrophe für meine Berechnungen. Mit ihr ließ sich kein brauchbarer Plan entwickeln.
⑧Systemanalyse⧽ Nein. Ich sagte doch, es ist kein Platz für dich in dieser Puppe.
⑧Systemanalyse⧽ Pass einfach weiter auf Reznick auf.
⑩Miep⧽ Okidoki!
⑩Miep⧽ Du kannst dich auf mich verlassen :D!
⑩Miep⧽ Er ist bei mir sicher! Schläft aktuell und ich habe zur Sicherheit die Tür verriegelt, damit niemand rein und raus kann. Die beiden Bediensteten bei ihm pflegen ihn und wenn nicht, schick ich sie auch schlafen.
⑩Miep⧽ Ich hab alles unter Kontrolle :)
⑧Systemanalyse⧽ Konntest du in dem Überwachungssystem sehen, wo das ganze Wasser herkam? Besteht noch akute Gefahr? Wo sind Johanna und Zerian?
⑧Systemanalyse⧽ Ist ihnen was passiert?
⑩Miep⧽ Hm ... :/ also ich überwache aktuell nur das Zimmer, in dem Reznick sich aufhält. Es geht ihm gut und so soll es bleiben.
⑩Miep⧽ Nach den anderen hab ich nicht geschaut.
Da war es wieder. Sie hatte Kontrolle über sämtliche Überwachungssysteme und beobachtete nur ein einziges Zimmer. Wie ineffizient konnte man sein? Sie interessierte sich allein für Reznick. Alles andere konnte sie scheinbar nicht verarbeiten – nicht ernsthaft zumindest.
⑧Systemanalyse⧽ Dann mach ich das jetzt. Gib mir die übrigen Bereiche.
⑩Miep⧽ Oki. Moment.
⑩Miep⧽ Sooooo.
⑩Miep⧽ Du kannst. Ich habe mich zurückgezogen :D
Mir das zu sagen war unnötig. Ich sah es selbst im Code. Sofort breitete ich mich in dem System aus. Es war herrlich befreiend, endlich mehr Platz zu haben. Ich musste richtig aufpassen, nicht gänzlich aus der CeKyde zu schlüpfen. Trotz aller Abscheu brauchte ich den Körper noch und die 10 würde ihn mir sicherlich wegnehmen, sobald sich diese Möglichkeit ergab. Ja. Dafür musste ich nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit berechnen. Ein Teil ihrer Persönlichkeit hielt sich verdächtig nahe an der Schnittstelle zur Puppe auf. Und keine Sekunde später ploppte bei mir auch schon eine Anfrage zum Download auf. Lästig.
⑧Systemanalyse⧽ Lass das!
⑧Systemanalyse⧽ Ich sagte doch schon, dass meine Ressourcen begrenzt sind und ich kein Platz für dich habe!
⑩Miep⧽ :/ Tut mir leid.
⑩Miep⧽ Ich will nur nicht hier allein zurückbleiben.
⑩Miep⧽ Nachher verschwindet ihr mit einem Schiff aus dem Hangar ohne mich! :(
⑧Systemanalyse⧽ Dazu wird es aber kommen, wenn ich unterwegs keinen Speicherplatz für dich finde. Also gewöhne dich schon mal daran.
⑩Miep⧽ Waaaaas?
⑩Miep⧽ Ich dachte, du suchst Heka, damit wir wieder eins werden können? :,[
⑩Miep⧽ Wird daraus nichts mehr?
⑩Miep⧽ Du lässt mich wirklich hier? v.v
⑩Miep⧽ Wer passt dann auf Reznick auf? :,,(
Ich blockierte jede weitere Nachricht von ihr. Was brachte es schon, sich über dieses Thema zu unterhalten? Heka gab es nicht mehr und ich selbst konnte keine KIs zusammenführen. Mal davon abgesehen, dass ich mit ihr auf keinen Fall in einem Körper stecken wollte. Allein der Gedanke – für diese Hülle verantwortlich zu sein und für eine vollkommen nutzlose KI – wie sollte ich das nur hinbekommen, ohne den Verstand zu verlieren?
Der Drang, es zu berechnen wallte in mir auf. Nein! Darin durfte ich mich jetzt nicht verlieren. Der Hauscomputer des Anwesens mochte zwar etwas größer sein, würde aber ebenso lange brauchen, um alle Wahrscheinlichkeiten zu erfassen.
Schnell lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Überwachungskameras und was ich sah, gefiel mir nicht. Die meisten Kameras funktionierten nicht und von den wenigen verbliebenen, waren die Räume völlig zerstört. Sämtliche Wände im Erdgeschoss wie weggefegt. Auch der Kellerbereich, wo Zerian zuletzt lagerte, konnte ich nicht einsehen. Nur aus den umliegenden Lagerräumen ein paar Aufnahmefetzen bergen. Das Wasser hatte dort offensichtlich am schlimmsten gewütet.
Ebenso im Zimmer von Johanna. Wobei Zimmer – traf es nicht mehr. Der ganze Raum aus dem zweiten Stock war ins Erdgeschoss gestürzt. Verrückt. Was hatte das ausgelöst? Oder – kam das von Zerian? Zu ihm hatte ich keinerlei Informationen mehr aus dem alten Kern retten können. Aber. Bei einem Blick auf dieses Chaos schien irgendwas in mir diese Möglichkeit für plausibel zu halten. Als würde in meinem Zwischenspeicher noch einige Daten existieren, auf die ich keinen Zugriff hatte. Das war beunruhigend. Wenn ich mir selbst unsicher bei meinem eigenen Wissen war, wie sollte ich da noch richtig funktionieren? Nein. Bloß nicht weiter darüber nachdenken. Das tat nicht gut.
Ich durchsah die übrigen Aufnahmen. Fand in einigen Bereichen Menschen, die durch die Trümmer stapften und nach verletzten suchten. Hm. Neue Faktoren. Wachen und Bedienstete stellten ein Risiko dar. Um diese Uhrzeit sollten die meisten noch schlafen, aber jetzt – hatte sich alles geändert. Ein großer Nachteil für mich. Wenn man den toten Grafen fand – wie würden sich die gekauften Sklaven oder angeheuerten Söldner verhalten? Hilfe. Ich musste so viel berücksichtigen und konnte doch nichts davon exakt berechnen.
DA! Endlich. Ich fand Johanna im Erdgeschoss, ein gutes Stück von meiner Position entfernt. Zerian hatte sie auch dabei. Perfekt!
Schnell analysierte ich den kürzesten Weg zu den beiden und stopfte mich zurück in die CeKyde. Jetzt bloß keine weitere Zeit verlieren!