•‡Dezerias Sicht‡•
Gedankenversunken betrachtete ich das Eis, welches schon eine Weile langsam von meinem Körper floss. Sämtliche Möbel, Gegenstände und Wände des Zimmers hatten bereits einen feinen weißen Kristallüberzug, wodurch es hier drinnen wie in einer unwirklichen Winterlandschaft aussah.
Ich seufzte schwer und versuchte erneut, die Kontrolle darüber zu bekommen, aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Das Eis reagierte anders als zu Anfang nicht nur auf bewusste Entscheidungen, sondern auch auf meine Gefühle und die waren im Moment alles andere als klar. Nachdem mich die unsichtbaren Wände in diesen Raum geschoben hatten, war ich in einem ständigen Emotionswechsel gefangen.
Ich war wütend auf das Monster, wegen dem das hier alles passierte, aber auch auf Elian. Ob er uns nun absichtlich in eine Falle geführt hatte oder unbewusst, spielte dabei keine Rolle. Es ärgerte mich schlicht, dass er trotz dieser ganzen Schrecklichkeiten nicht fliehen wollte und darauf beharrte, dass alles in Ordnung war. Aber wie konnte es das? Wie konnte er selbst nach dieser brutalen Behandlung und seinen Verletzungen noch in diesem Rea etwas Gutes und Beschützendes sehen? Das konnte ich einfach nicht begreifen.
Dann galt natürlich noch Hendrick eine große Menge meiner Wut, die sich aber auch genauso schnell wieder verflüchtigte und in Mitleid wechselte. Als er in meinen Armen erwachte, hatte er schließlich nichts gewusst. Weder über mich, noch irgendetwas über sich selbst. Es machte mich unglaublich traurig, wie dieser Mann Stück für Stück zerstört wurde. Wenn ich dabei noch an Reznick dachte – seine schrecklichen Narben und an das, was er gesagt hatte – das Grauen dahinter ließ sich nicht einmal annähernd erahnen. Wie konnte der eigene Vater seinen Kindern das bloß antun? Die Familie war doch dafür da, aufeinander Acht zu geben. Ein liebevolles Miteinander. Eine unverzichtbare Stütze und wichtiger Wegweiser im Leben. So wie es auch bei mir gewesen war.
Unweigerlich zog sich mein Herz zusammen. Die Erinnerungen an meine wundervollen Eltern schmerzte. Mehr noch, als plötzlich auf dem schneeweißen Boden vor mir zwei Eisfiguren wuchsen, die genauso wie die beiden aussahen. Sie lächelten mit an, was meine Tränen nur so kullern ließ. Der Anblick war zu viel. Schluchzend stand ich von dem halbgefrorenen Sofa auf und kehrte den Skulpturen den Rücken zu.
Nach einigen tiefen Atemzügen verdrängte Enttäuschung die Trauer, was es an sich nicht viel besser machte. Ich war enttäuscht von mir selbst, denn obwohl meine Eltern alles getan hatten, um mir ein schönes Leben zu ermöglichen, so war von der unabhängigen und starken Frau, die ich einst unbedingt sein wollte, nichts übrig. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben und ich war nur immer schon zu verblendet, um das zu erkennen.
Unschlüssig starrte ich vor mich hin. Ich wusste schlicht und ergreifend nichts mit mir anzufangen. Ich war zu schwach, um eine Lösung aus diesem Horror zu finden. Selbst die Kraft eines Gottes reichte nicht aus, mich zu befreien und selbst dann – ja, was dann? Mir fiel nichts ein. Aber das musste es doch! Andernfalls akzeptierte ich mein weiteres Leben als Sklavin dieses Monsters, was ich unter keinen Umständen sein wollte!
Und so startete das Gefühlschaos von neuem. Wut löste die Enttäuschung ab, wodurch es bedrohlich um mich herum knackte. Kurz darauf schossen drei dicke Eisspitzen vor mir aus dem frostigen Boden und krachten lautstark gegen die Decke, die davon allerdings unberührt blieb. Der Raum wurde immer noch von diesen unsichtbaren Wänden geschützt. Besonders bei der Tür hatte ich lange versucht, diese aufzubrechen, aber wie alles, was ich tat, blieb auch das erfolglos.
Ich seufzte erneut und zwang mich zur Ruhe, um hoffentlich das Eis wieder etwas zu bändigen. Es half schließlich nichts, wenn ich weiter alles verwüstete. Das unverschämt teure aussehende Himmelbett hatte ich in meinem ersten Wutanfall schon in ein riesiges zerklüftetes Kristallgebilde verwandelt und der von etlichen Speisen gedeckte Tisch, war zu einem einzigen Eisklumpen verkommen. Wenn man die Umstände meines Hierseins einmal wegließ, war es ein wirklich schönes Gästezimmer gewesen und mir war auch bewusst, dass ich es bei diesem Monster bedeutend schlimmer hätte treffen können. Angekettet in einem Kerkerloch zum Beispiel.
Ich erschauderte und wischte mir schnell mehrfach übers Gesicht, um die letzten Tränen zu vertreiben. Es half ja alles nichts und ich wollte nicht darüber nachdenken, wie sauer er über diese Zerstörung sein würde oder wie er mich deswegen zu bestrafen gedachte. Aber was blieb mir stattdessen? Mich fügen? Auf Reznick hoffen? Wenn er überhaupt lebte, so wie es dieses Monster angedeutet hatte. Und dann blieb noch die Frage, wann er kommen würde oder ob er mich tatsächlich retten wollte. Vielleicht hatte er wie Hendrick längst sein Wissen verloren und war irgendwo eingesperrt.
“Bei den Monden ...” Ich raufte mir die Haare und zwang mich, nicht erneut loszuheulen. Ich hatte diese Gefühlswechsel so satt, ebenso meine schwäche. Was brachte es mir schon, sich über diese Was-Wäre-Wenn den Kopf zu zerbrechen und mich deswegen emotional fertigzumachen? Alles, was dieses Monster tat, ergab keinen Sinn und solange noch ein Fünkchen Hoffnung auf Rettung bestand, würde ich daran glauben – würde ich auf Reznick vertrauen.
“Ich werde durchhalten und warten ...” Oder sollte es mir selbst möglich sein, erneut einen Fluchtversuch wagen. Vielleicht konnte ja auch ich ihn retten. Genau. Es würde sich zeigen, was zuerst eintraf. Sich diese Ziele zu setzen, war auf jeden Fall ein besserer Lebensinhalt, als weinend und hilflos in einer Ecke zu kauern. Ich musste stark sein. Für mich. Für meine Eltern. Für Reznick.
Mit geballten Fäusten blickte ich an mir herab. Noch immer trug ich das Bettlaken, was mir plötzlich unglaublich armselig erschien. Ich hatte bislang nichts in diesem Zimmer angerührt, weil mir das wie Aufgeben oder Gehorchen vorgekommen wäre. Nun aber empfand ich dieses Verhalten als dumm. Ich hatte schließlich nichts davon, halbnackt rumzulaufen oder mich weiter auszuhungern. Ich erreichte damit allein, dass es mir schlecht ging. Mein Schädel pochte bereits fürchterlich und auch meine Kehle sowie der Mund fühlten sich staubtrocken an. Durch das viele Weinen brannten zudem meine Augen wie die Hölle und auch der restliche Körper machte irgendwie den Eindruck, als stimmte etwas nicht. Ich spürte überall dumpfe Glieder- und Muskelschmerzen, sowie eine bleierne Erschöpfung.
Ich betrachtete nachdenklich meine nackten Füße, die auf blankem Eis standen. Früher war ich häufig krank gewesen. Bestimmt hatte es mich jetzt auch erwischt, denn nur weil ich die Kälte nicht spürte, war ich von den negativen Gegebenheiten nicht gefreit, oder? Konnte ich durch diese Götterfähigkeit überhaupt noch eine Erkältung bekommen? Oder allgemein krank werden?
Ich schüttelte kurz den Kopf. Hier weiter dumm rumzustehen würde mir garantiert keine Antworten liefern oder anderweitig helfen. Schnell schritt ich zum großen Wandschrank rechts von mir und zerrte mit Gewalt an den edlen Metallgriffen. Erst nach einigen Anläufen gelang es mir, die zugefrorenen Holztüren aufzubekommen. Zum Vorschein kam eine Reihe unfassbar teuer aussehende blau-weiße Kleider. Was mir ehrlich die Sprache verschlug. Jedes davon war wunderschön.
Auch in den anderen Fächern befanden sich ähnlich hochwertige Anziehsachen. Leichtes graziles Schuhwerk bis hin zu dicken Fellstiefeln, feinmaschige Strumpfhosen, unterschiedlich aufreizende Bustiers und dann auch noch jede Menge normaler Unterwäsche. Ich traute mich zunächst gar nicht, etwas davon anzufassen, schnappte mir aber dann doch probeweise ein weißes Höschen und hielt es mir vor die Hüfte. Erschreckenderweise schien es genau meine Größe zu haben.
“Ist das alles für mich?” Musternd schweifte mein Blick zurück zu den anderen Sachen. Warum sollte das Monster so viele edle Kleidungsstücke extra für mich anfertigen? Wieder etwas, dass ich an diesem Mann nicht nachvollziehen konnte. Er tat mir weh, spielte mit meinen Ängsten und unternahm alles nur Erdenkliche, damit ich ihn hasste, aber dazwischen gab es immer einen kurzen Moment, der nicht dazu passte. Als bestünde er aus zwei verschiedenen Persönlichkeiten. Oder war das bei den Rea üblich? Lichius war ja ebenfalls unglaublich seltsam gewesen.
“Hm ...” Meine Überlegungen verliefen im Sande und da ich ohnehin etwas zum Anziehen brauchte, überwand ich schließlich meine Zurückhaltung. Ich wählte von allem das am wenigsten Prunkvollste aus und ging in das angrenzende Badezimmer. Dort herrschte zum Glück noch keine großflächige Winterlandschaft. Lediglich der Weg zur Toilette und das Waschbecken wiesen eine kleine Frostspur von meinen vorherigen Besuch auf.
Frustriert atmete ich einmal tief ein und konzentrierte mich darauf, es nicht schlimmer zu machen. Dass das wild wachsende Eis mir die Freiheit nahm, mich ordentlich erleichtern zu können, fehlte gerade noch. Auch war das Wasser aus dem Hahn nun meine letzte verbliebene Möglichkeit, etwas zu trinken. Diese nutzte ich auch sofort, um meinen Durst zu löschen und mich grob im Gesicht zu waschen. Anschließend suchte ich in den Schubläden nach einem Haarband, um meine lange Mähne zu bändigen. Gleich im ersten Fach fand ich ein seidig blaues und flocht es ohne viel liebe in meine Haare. Mit einem Seufzen öffnete ich als Nächstes die Knoten von dem Bettlaken, ließ es achtlos zu Boden fallen und reinigte auch den Rest meines Körpers. Gründlich.
Ich ging dabei bemüht emotionslos vor, auch wenn es mir bei dem Bereich zwischen meinen Beinen äußerst schwerfiel. Die Erinnerung, warum ich dort unten oder generell auf der Haut keine Härchen hatte, drängte sich sehr lebhaft an die Oberfläche. Ebenso beim Blick auf den rötlichen ausgefransten Fleck zwischen meinen Brüsten. Er war zwar mittlerweile schon ein gutes Stück verblasst, aber der Horror dahinter würde mir noch ewig erhalten bleiben. Das Gefühl, wie man innerlich und äußerlich einfriert – wie etwas aus einem herausgezogen wurde, war einfach zu schrecklich gewesen. Und auch danach hatte das Monster alles versucht, um die Situation noch schlimmer zu machen. Wer inszenierte schon eine Vergewaltigung, nur um etwas auszuprobieren?
Ich erschauderte und schnappte mir schnell ein Handtuch, um mich abzutrocknen. Leider erheiterte mich das darauffolgende Ankleiden auch nicht wirklich. Vielmehr wuchs mit jedem Stück mein Unbehagen, denn es passte alles nicht nur, sondern eben auf den Millimeter genau. Als wäre mir der Stoff direkt auf die Haut geschneidert worden. Bestimmt hatte das Monster meine Maße genommen, als ich ohnmächtig gewesen war oder mit dieser unheimlichen Rea-Technik, die mich hilflos in der Luft hatte schweben lassen, und an diese Situationen wollte ich auch nicht zurückdenken.
“Bei den Monden ...” Das Eis wuchs schon wieder, ohne dass ich es gezielt steuerte. In Windeseile überzogen die Kristalle laut knackend die rechte Seite des Waschbeckens und die Hälfte des darüber befindlichen Spiegels. “Nein, nein, nein! Aus jetzt!” Wütend versuchte ich, mit den Händen das Ausbreiten zu verhindern, aber es schien dadurch nur noch schneller zu werden. “Gott, was mache ich bloß falsch?”
“Das ist schwer zu sagen”, sprach ein Mann plötzlich hinter mir, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. “Dir fehlt Erfahrung im Umgang mit dieser Fähigkeit oder du bist zu unausgeglichen.” Ich versteifte. Diese Stimme. ER war das! “Es könnte ebenso daran liegen, dass ich dir zu viel oder zu wenig Essenz genommen habe. Oder an der Art deiner Beseelung an sich. Zudem konnte meine Analyse deine Klatur bislang nicht bestimmen, was bedeutet, dass du entweder einen völlig fremden Typus hast oder schlicht zu instabil bist ...” Ich hörte Schritte. Das Monster kam näher, was mein Herz zum Rasen brachte und im Nu überzog das Eis nicht nur alles um mich herum, sondern auch meinen Körper. Wie Fesseln schlang sich das Gebilde um meine Hände und fixierte sie am Spiegel, während meine Beine zeitgleich am Boden festfrierten. O Gott, warum passierte das nur?!
“Ursachen gibt es also viele, Henriette.” Er berührte unerwartet sanft meinen Nacken und legte dann etwas Hartes um meinen Hals, das mit einem Klicken einrastete. “Ich werde deine Kraft jetzt bannen. Schließ die Augen und denk an nichts.” Ich schluckte schwer und tat nach kurzem Zögern, was er wollte. Was hatte ich schon für eine Wahl? Ich brachte vor Angst kein Wort heraus und bewegen konnte ich mich auch nicht.
“Gut. Das wird zusätzlich helfen.” Ich hörte, wie er sich von mir entfernte. “Ich erwarte dich draußen.” Draußen? Verwirrt über diese Aussage öffnete ich die Lider und drehte ruckartig den Kopf. Tatsächlich. Er verließ das Bad und schloss sogar die Tür hinter sich. Verrückt. Warum war er nicht wütend gewesen und hatte mich bestraft?
“Wobei ...” Hatte er doch, oder? Ich tastete zittrig nach dem Ding an meinem Hals. Von der Beschaffenheit her fühlte es sich wie einer dieser Kristallreife an, die er mir schon einmal umgemacht hatte. Allerdings besaß dieses zusätzlich noch eine Metallhülle und ein Schloss. “Hm?” Ich hob die Hände vors Gesicht, betrachtete diese und blickte anschließend ebenso verwundert an mir herab. Erst jetzt realisierte ich, dass mich das Eis ja gar nicht mehr festhielt und sich auch sonst überall im Raum auflöste. Er hatte mir also nur geholfen? Konnte das sein? Oder bezweckte er etwas anderes damit?
Unschlüssig starrte ich auf die Tür. Ich wollte nicht zu ihm gehen, andererseits konnte ich mich auch nicht ewig hier im Badezimmer verkriechen. Es gab keinen anderen Ausgang und er würde mich ohnehin irgendwann holen kommen. Es brachte mir schlicht und ergreifend nichts, es hinauszuzögern.
“Ich schaff das!” Entschlossen ballte ich die Fäuste, atmete mehrfach tief durch und schritt langsam vorwärts. “Nur durchhalten ...“ Etwas steif umfasste ich den Türgriff und betete innerlich, dass es nicht so schlimm werden würde. Vielleicht war er ja gegangen und hatte mir noch eine Schonfrist gegeben. O ja, bitte lass es so sein!
Leider verflüchtigte sich meine Hoffnung, als ich das Holz einen Spalt öffnete und den Rea mitten im Raum erblickte. Alles in mir schrie sofort, sich im Bad zu verschanzen, und fast hätte ich diesem Impuls auch nachgegeben, aber dann – irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Mal davon abgesehen, dass er mit dieser blau-weißen Sternenrobe und den großen Sicheln auf den Schultern, wie ein wahrhaftiger Mondgott aussah, strahlte sein Gesicht pure Erschöpfung aus. Sein Blick wirkte leer und tiefe Augenringe sowie Falten waren zu erkennen. Er schien mich zudem nicht einmal richtig anzusehen, oder?
Vorsichtig bewegte ich mich aus der Tür und ging ein Stück zur Seite. Seine Augen ruhten dabei unverändert starr auf genau die Stelle, wo ich zuvor gestanden hatte. Unheimlich. War er das vielleicht gar nicht, sondern bloß eine Statue? Mit Rea-Technik wäre es bestimmt möglich. Dass er atmete oder anderweitig einen Muskel rührte, erkannte ich jedenfalls nicht. Aber wozu? Was bezweckte er damit? Wollte er mir Angst machen? Und warum trug er überhaupt solch ein Gewand?
“Gut.” Ich zuckte zusammen, als er sich plötzlich doch bewegte und zu mir sah. “Mein Bleasta wirkt also noch bei dir. Wobei unklar ist, wie lange oder ob es deinen Zustand wirklich verbessert.” Er griff in eine Innentasche der Robe und hielt anschließend einen goldenen Schlüssel in die Luft. “Solltest du dich unwohl fühlen, dann nimm es ab. Selbiges, wenn du dich dazu im Stande fühlst, das Eis kontrollieren zu können. Mein Eingreifen sollten wir ab jetzt so gering wie möglich halten.”
“Unwohl?” Ich runzelte die Stirn. War das ein Scherz? In seiner Nähe fühlte ich mich immerhin ununterbrochen unwohl! “Und eingreifen? Ich verstehe absolut nicht, was Ihr meint.” Er seufzte.
“Der Schlüssel gehört zu deinem Halsreif.” Er streckte den Arm noch ein Stück weiter vor. “Du kannst ihn haben. Frei zu deiner eigenen Verfügung. Nimm das Bleasta ab, oder auch nicht. Deine Entscheidung.” Verwirrt blickte ich erst auf den Schlüssel, dann auf ihn.
“Ihr lasst mir die Wahl? Warum?” Ich traute ihm nicht. Allein wie er da stand und von mir verlangte, näherzukommen war mehr als nur verdächtig.
“Dein Zögern nervt ...” Er warf mir den Schlüssel mit einer lockeren Handbewegung vor die Füße. “Wenn ich dich nicht so wie du bist brauchen würde, hätte ich dich längst in eine Stasekapsel gesperrt und deinen Verstand nach meinem Willen geformt.”
“Gott, warum macht Ihr das eigentlich immer?”
“Könntest du dich auch etwas genauer ausdrücken?”
“Diese unterschiedlichen Aussagen! Erst tut Ihr auf nett und gleich darauf folgt eine Drohung ... Warum? Warum wollt Ihr so unbedingt von mir gehasst werden? Was kommt jetzt als Nächstes? Tut Ihr mir wieder weh? Oder macht Euch über mich lustig? Habt Ihr Euch deswegen wie ein Mondgott verkleidet? Wollt Ihr damit den Glauben meiner Mutter ins Lächerliche ziehen?” Er hob eine Augenbraue.
“Hätte ich dir Schokoladenpralinen mitbringen sollen?”
“Wie ... Schokolade?” Ich war ehrlich verwirrt.
“Außerdem, wer Fellstiefel zu einem Ballkleid trägt, sollte wohl kaum andere in ihrem Kleidungsstil kritisieren.” Mein Mund stand offen. War das ein Scherz? Offensichtlich nicht, denn sein Gesichtsausdruck zeigte keinen Hauch von Belustigung. Vielmehr wirkte er so, als hätte ich statt seiner gerade etwas völlig Abwegiges gesagt.
Die seltsame Stille zwischen uns wurde von lautem Knacken unterbrochen und keine Sekunde später bewegte sich das eingefrorene Himmelbett. Es brach aus der Eissäule und landete mit einem Rums auf dem Boden. Auch an anderen Stellen schmolz das Eis gut sichtbar und rutschte oder tropfte herunter.
“Deine Fähigkeit ist ziemlich lästig. Es wäre schön, wenn du dein nächstes Zimmer nicht ebenfalls ruinieren würdest.” Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb an den Skulpturen meiner Eltern haften. “Und davon solltest du auch dringend Abstand nehmen. Vergangenem nachzutrauern, ist verschwendete Zeit.” Er sah wieder zu mir. “Es bringt einem im Leben nicht voran und ist besonders bei Elementaren kritisch.” Ich ballte die Fäuste.
“Was wisst Ihr schon von Trauer? Hat auch nur ein Wort, das Ihr von Euch gebt, irgendeinen Sinn?”
“Natürlich.” Er rollte genervt mit den Augen. “Jedes.”
“Ich verstehe Euch einfach nicht! Warum seid Ihr hier? Was wollt Ihr von mir?”
“Das sagte ich doch bereits. Dich erziehen.”
“Mich erziehen ... Noch einmal? Wie das bei Eurem Sohn? Das war so krank! Ich werde da ganz bestimmt nicht mitmachen.” Nicht einmal zum Schein. “Ich werde Euch niemals helfen, andere zu belügen, zu manipulieren oder zu verletzen! Wie könnt Ihr nur mit Eurem eigenen Kind ein derartiges Spiel spielen?”
“Kein Spiel. Nicht jetzt.” Ihm entwich ein schweres Seufzen. “Aber gut, genug der oberflächlichen Konversation. Mich langweilt das. Ich mag die Systeme der Rea zwar verabscheuen, aber dort versteht mich wenigstens jeder. Man versteht oder gehorcht, immer. Wenn ich dort jemandem etwas anbiete, wird es mit Freude angenommen und sich bedankt.”
“Gott, es geht Euch darum?” Ich bückte mich, nahm den Schlüssel und sah ihn wütend an. “Zufrieden? Ich hab ihn aufgehoben und danke.” Sofern das überhaupt der passende war, aber das bezweifelte ich. Selbst als es Hendrick so schlecht erging, hatte er sich geweigert, mir dieses Kristallzeug abzunehmen. Dass die Fesseln dann doch abgegangen waren, hatte ich zwar erst ihm zugeschrieben, aber mittlerweile wusste ich es besser. Wenn ich wollte, konnte ich mich davon selbst befreien. Allein weil ich nicht wieder einfrieren wollte, behielt ich es vorerst um.
“Schön. Aber um den Schlüssel ging es mir nicht, sondern um deinen Zweck. Deinen Nutzen. Es steht ein Treffen mit meinem Sohn, Alexander, an und du wirst daran teilnehmen. Ob dies jedoch gefesselt, bewusstlos oder zivilisiert geschehen wird, liegt ganz bei dir.” Meine Augen wurden groß. Er meinte Reznick! Aber konnte das stimmen? Würde er mich tatsächlich zu ihm bringen? Wobei. Ich ahnte Schlimmes.
“Wird es genauso ablaufen wie bei Hendrick?” Denn wozu sonst würde er mich brauchen? Irgendwie formte sich in meinem Kopf eine schaurige Vorstellung nach der anderen. “Werdet Ihr ihn verletzen?” Oder vielleicht war er es auch schon. “Soll ich seine Wunden versorgen? Hat er auch Fieber wegen ...” Ich schluckte. Was wenn er bereits dieses Rea-Ding auf seiner Stirn hatte und mich gar nicht mehr erkannte? “Was, wenn –”
“Unterlass das.” Er machte eine abfällige Geste. “Du kannst deine Fragen später stellen. Von mir aus auch Bedingungen. Zum Beispiel, was du an Einrichtung haben willst oder Kleidung, Essen – mir gleich. Sag das, was du sagen musst, aber erst, wenn ich dir unterbreitet habe, was ich will. Wir haben nicht allzu viel Zeit, dich so zu erziehen, wie ich dich brauche. Demnach ist für unser beider Wohl nun erforderlich, dass du verstehst. Wirklich verstehst und dich nicht wie alle anderen an ein falsches Weltbild oder Wissen klammerst.” Er rieb sich mit einem Seufzen die Stirn. “Ich wünschte, mir würde das erspart bleiben. Ich fange einfach noch einmal bei Null an. Unabhängig, ob ich es dir bereits gesagt hatte. Euer eins hört ja ohnehin nie richtig zu.” Ich stand einfach nur da und sah ihn verwirrt an. Was kam jetzt? Wenn er einen nicht bedrohte, wirkte er schon fast menschlich. Aber auch nur fast. Seine herablassende Art behielt er gekonnt bei, obwohl er mit jeder Minute erschöpfter aussah.
“Meine Söhne, Alexander und Hendrickson, brauchen eine Aufgabe. Wie jeder Elementar. Ohne sterben sie unweigerlich. Und ob ich diese Aufgabe durch gezielte Manipulation ihrer Erinnerung oder schlicht durch Gewalt erreiche, ist dabei unerheblich. Mir ist jedes Mittel recht, solange ich ihnen dadurch ein Lebensziel geben kann. Was uns zu folgendem Problem führt. Dir.” Er schloss kurz die Augen. “Du hast bereits leichtfertig das Leben von Hendrickson gefährdet und wärst du nicht so verdammt wichtig, hätte ich dir dafür längst die Haut abgezogen.” Ich schluckte. Allein wie er es betonte, ließ kein Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
“Aktuell geht es ihm zwar gut, aber nun muss ich ihn rund um die Uhr persönlich überwachen, falls er einen Anfall bekommt und sich selbst schadet. Danke dafür.”
“Ich wollte ihm nur helfen! Er hatte Fieber und –”
“Schweig!” Sein Blick verfinsterte sich. “Ich rede und du hörst zu! Es ist unerheblich, was du denkst und was du glaubst zu wissen oder für das Richtige hältst. Du weißt nichts über die Welt und um die Besonderheiten von Elementaren. Du weißt ja nicht einmal über dich Bescheid ... Ich schweife ab. Das mit Hendrickson soll sich jedenfalls nicht bei Alexander wiederholen, verstehst du? Mein Alexander ist deutlich instabiler und es kommt erschwerend hinzu, dass man ihn nicht belügen kann. Du hast ja bei Hendrickson am eigenen Leibe gespürt, wie gewaltig sein Wind sein kann ... Wie glaubst du, sieht das dann erst bei Alexander aus? Auf mich zu hören dient also auch deiner eigenen Sicherheit.” Meine Stirn legte sich in tiefe Falten. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Wenn sein Vater aus den Händen Metall sowie Kristalle bilden und sein Bruder die Luft befehligen konnte – was konnte Reznick dann? Eine Mischung daraus? Oder vielleicht etwas ganz anderes? Und hatte er es unter Kontrolle oder war es so wie bei mir?
“Ich sehe, du verstehst. Sehr gut. Kommen wir nun also zur Aufgabe. Alexander wird fortan hier auf dem Schiff leben und mir bei der Forschung rund um die Elementare helfen. Er wird dich und deine Fähigkeiten untersuchen. Ihr werden so gesehen zusammenarbeiten.”
“Wie bitte?” Mir drehte sich sofort der Magen um. Dann kam ich vermutlich wieder in dieses unheimliche Zimmer, wo ich mich nicht bewegen konnte und wie durch Zauberei in der Luft hing. Nackt. Mit seinem Bruder war das schon schlimm gewesen, aber dann noch mit Reznick? Nein. Das wollte ich keinesfalls. Auch weil mein Eis im Moment unberechenbar war. Was, wenn ich ihn mit dem Eis aus Versehen verletzte?
Andererseits sah ich darinnen auch eine gute Chance zur Flucht. Wenn sein Vater uns alleine ließ, konnten wir reden und zusammen eine Flucht planen – worin Reznick sicher hundert Mal besser drin war als ich. Allein schon deswegen, weil er Ahnung von dieser ganzen Rea-Technik hatte und sich bestimmt nicht von etwas zu Essen davon abbringen ließ.
“Warum ausgerechnet jetzt?”, flüsterte das Monster, schloss die Augen und griff sich seufzend an die Stirn. Ich rechnete fest damit, dass er mich wegen meiner Frage bestrafen oder sich zumindest aufregen würde, aber nichts dergleichen passierte. Er blieb einfach regungslos in dieser Haltung stehen.
Verunsichert öffnete ich den Mund, schloss ihn aber gleich darauf wieder. Ihn zu fragen, was genau er meinte, wäre mit Sicherheit keine gute Idee. Mir blieb demnach nur zu warten, bis er erneut aus dieser Starre erwachte. Warum auch immer er überhaupt in eine solche verfiel. Natürlich wirkte es jedenfalls nicht. Hatte es vielleicht etwas mit seinem erschöpften Gesichtsausdruck zu tun? War er krank oder wollte er mich damit nur testen?
Das Schweigen hielt an und da ich mich sonst nichts zu machen traute, betrachtete ich den Schlüssel in meiner Hand. Er sah sehr wertig aus und auch etwas zu groß für das Schloss am Halsreif. Ich bezweifelte, dass er passen würde, verstaute ihn aber dann doch in meinen Ausschnitt. Das Kleid besaß keine Taschen und in dem Bustier konnte ich das kleine Metallstück sicher aufbewahren.
“Planänderung.” Der Rea bewegte sich schlagartig und kam schnell zu mir. Jeder Schritt auf dem nassen Teppich erzeugte dabei ein schmatzendes Geräusch. “Wir gehen. Jetzt!”
“Gehen? Wohin?” Verwirrt und besorgt blickte ich ihn an.
“Zu meinem Sohn, Alexander.” Er packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. “Um unser beider Willen, hoffe ich, dass du ihn vor dem Lösen abhalten kannst.”
“Vor dem Lösen? Was bedeutet das? Ist er verletzt? Was habt Ihr mit ihm gemacht?” Mit eisernem Griff schleifte er mich aus dem Zimmer, mitten in den Flur. Mein Herz raste von all den möglichen Schrecken, die mich jetzt erwarten würden. “Oh, bitte! Sagt mir doch, was los ist ... Was ist mit Reznick?”
“Das sagte ich bereits.” Ruckartig blieb er stehen. “Ich brauche dich, um sein Leben zu retten und jetzt, hör auf zu zappeln. Tyschka? Lege als Ziel meinen Kernkörper fest.”
⫷Befehl bestätigt.⫸ Ich zuckte zusammen und suchte nach dem Ursprung dieser weiblichen Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam, fand aber niemanden.
“Mit wem redet ... Ahhh!” Auf einmal hob sich unter uns eine rechteckige Kachel aus dem Boden und setzte sich in Bewegung. Sie sauste mit uns vorwärts den Gang entlang. Vor Schreck klammerte ich mich an die Robe des Monsters, um nicht runterzufallen. Solch ein Fortbewegungsmittel hatte ich wahrlich noch nie gesehen. Wir schwebten über dem Boden!
“Wie ...” Ich brauchte einige Atemzüge, um mich an diese verrückte Rea-Technik zu gewöhnen. “Wie kann ich Reznick helfen? Für was braucht Ihr mich?” Er war immerhin ein mächtiger Rea mit allerhand Wunder. Was konnte ich, dass er nicht vermochte? Brachte er mich jetzt wirklich zu Reznick? Oder doch nur in einen Folterraum?
“Er löst sich in diesem Moment, sprich, Alexander hat seinen Lebenswillen verloren ...” Er seufzte. “Mein Sohn stirbt und du wirst das ändern, weil du mit großer Wahrscheinlichkeit sein Bindungsstück bist. Du hältst ihn in dieser Welt auf natürliche Weise, während ich das nur mit Lügen und Gewalt kann. Aber. Meine Variante hat nun mal eine Grenze. Ein Elementar kann auf Dauer nur mit seinem Partner überleben, sonst vergeht er. Löst sich in sein Element. Du wirst auch irgendwann ganz zu Eis werden, wenn du dich nicht verbindest.”
“Das ist verrückt. Wie soll ich das ... glauben? Was? Bei den Monden, da steht Ihr noch einmal!” Meine Augen wurden groß, als die Platte in eine riesige Halle flog und dort gleich noch ein Rea stand. Eine perfekte Kopie von dem Monster neben mir. Wie konnte das sein? Wie war das möglich? “Wie ... Gott! Ist das ... Ist das da Reznick am Boden?” Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er war es! Ich erkannte die Narben auf seinem Oberkörper und auch die Haarlänge passte – kein Zweifel. Kurz wallte Erleichterung in mir, die aber dann blankem Entsetzen wich. Wieso lag er mit geschlossenen Augen halbnackt am Boden? Warum war auf und vor ihm so viel Blut?
Ich hastete zu ihm – wollte ich jedenfalls, aber sein Vater hielt mich nach wie vor am rechten Arm fest. Es war unmöglich, von ihm loszukommen. “Du bleibst bei mir”, flüsterte er dann auch noch kühl, aber ich verstand nicht wieso. Er hatte mich doch hergebracht, damit ich helfen sollte. Ich blieb hier jetzt ganz bestimmt nicht dumm stehen und sah untätig zu!
Verärgert öffnete ich den Mund, um zu fragen, was dieses Spiel sollte, brachte aber kein Ton heraus. Es verschlug mir buchstäblich die Sprache, als Reznick die Augen öffnete und mich mit einem Blick bedachte, der schmerzhafter nicht hätte sein können. Es zerriss mir das Herz. Er sah genauso verloren aus, wie ich mich in der letzten Zeit unentwegt gefühlt hatte. Verloren und gebrochen. Was hatte sein Vater ihm nur Grausames angetan?
“Mal sehen, wie weit ich gehen muss”, erhob plötzlich das Monster das Wort, welches genau vor Reznick hockte. “Es liegt ganz bei dir, Alexander.” Mich überkam sofort ein ungutes Gefühl, mehr noch, als sich dieser dann aufrichtete und zu mir blickte. Seine silbernen Augen leuchteten unheimlich und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Kühl. Berechnend. Ich wusste, was das bedeutete – was jetzt folgen würde und trotzdem traf mich der Schmerz kein bisschen minder. Sein anderes Ich verdrehte und quetschte mir das Handgelenk dermaßen brutal, dass ich nichts anderes konnte außer zu schreien.
Nach dem ersten Schock dachte ich sofort an mein Eis – wollte den Schlüssel hervorholen, verlor diesen Gedanken aber schnell wieder. Seine Kraft nahm unaufhörlich zu, wodurch sich meine Finger reflexartig in seinen Arm krallten, um ihn davon abzuhalten. Es half leider herzlich wenig. Auch dass ich mich krümmte und der Drehbewegung folgte, brachte keine Erleichterung. Sein Griff blieb eisern, als wollte er mir nicht nur das Gelenk, sondern gleich noch die umliegenden Knochen brechen. All meine Versuche, ihn davon abzuhalten, kümmerten ihn nicht. Er ließ nicht locker.
“B-BITTEEE! LASST L-OS!” Ich heulte. Schluchzte.
“Du sollst nicht mich anflehen. Um mich geht es hierbei nicht”, sprach er ruhig und leise, während er mit der anderen Hand meine Haare packte. Er dirigierte mein Gesicht in Richtung von Reznick und seinem anderen Ich. Dann verstärkte sich der Schmerz erneut und zwang mich restlos in die Knie. “Ruf ihn. Bitte meinen Sohn um Hilfe.” Seine Worte hatten für mich keinerlei Sinn. Es existierte nur noch Qual sowie das Knirschen und Knacken meiner Knochen.
Einen Moment später passierte dann auch genau das, was unweigerlich passieren musste. Irgendetwas brach und jagte eine Art Kältewelle durch meinen Körper. Der Schmerz wurde auf einmal seltsam dumpf. Mir wurde übel. Ich hatte das Gefühl, gleich die Besinnung zu verlieren. Allein dass ich Reznick im Blick hatte, hielt mich im Hier und Jetzt. Ich sah ihn zwar nur verschwommen, aber das reichte völlig, um seinen schockierten Ausdruck zu erkennen. Aschfahl mit weit aufgerissenen Augen lag er nach wie vor am Boden und schien nicht fassen zu können, was sein Vater mir antat.
“Er reagiert immer noch nicht, Henriette”, sprach das Monster gleichgültig, ließ mein taubes Handgelenk los und umfasste stattdessen meinen Oberarm. “Das bedaure ich. Das bedaure ich wirklich ... für dich.”
“Ist sie dir egal, Alexander?”, fügte der andere hinzu und schritt gemächlich zu mir. Sofort flutete neue Panik meinen erschöpften Verstand. Ich wollte zurückweichen, was natürlich nicht funktionierte.
“Ohh, b-bittee ...”, wimmerte und schniefte ich vollkommen fertig. Ich wollte weg – wollte nur noch aus diesem schrecklichen Alptraum erwachen.
“Nein.” Er schnappte meinen linken Oberarm und stellte sich anschließend hinter mich. “Du sollst nicht mich anflehen, schon vergessen?” Beide zerrten meinen Körper ein Stück aufrecht. “Und nun, sei nützlich.” Was dann folgte, war nichts im Vergleich zu meinem Handgelenk. Ich kam nicht einmal zum Schreien, da etwas meinen Rücken durchstach und sich die Lunge in Windeseile mit Blut füllte. Ich hustete. Rang verzweifelt nach Atem. Ein zweiter glühender Schmerz folgte. Dann ein dritter. Tiefer als zuvor, bis es mich schließlich komplett durchbohrte. Aus meinem Brustkorb ragte etwas, das wie eine riesige Glasnadel oder ein sehr schmaler Kristall aussah. Ich konnte es nicht genau erkennen. Da war so viel Blut. Das Kleid färbte sich binnen Sekunden tiefrot.
“R-ick ...” Meine Stimme war kaum noch vorhanden. Kraftlos hing ich zwischen den beiden Monstern. Alles in mir brannte fürchterlich. Ich bekam keine Luft und wurde zunehmend müder.
“VERDAMMT! HÖR AUF! DU BRINGST SIE NOCH UM!” Reznicks Worte fegten wie ein Peitschenschlag durch die Halle, was seinen Vater aber nicht daran hinderte, erneut auf mich einzustechen.
“Noch lebt sie.” Wieder ein Stich, aber dieses Mal zog er die Waffe nicht aus mir heraus, sondern ließ sie stecken. “Die Betonung liegt auf noch. Willst du sie nicht retten?”
“Ich will, dass du sie LOSLÄSST!” Reznick klang unglaublich wütend und versuchte, aufzustehen. Es gelang ihm jedoch nicht. Er schien keine wirkliche Kontrolle über seinen Körper zu haben. Zitterte.
“Dann beweg deinen faulen Arsch, anstatt hier rumzubrüllen.” Reznick erwiderte darauf ein unmenschliches Knurren, während mich eine eigenartige Schwere erfüllte. Eisige Kälte kroch in jeden Winkel meines Seins. Stück für Stück verschwanden die Schmerzen, was eine unglaubliche Erleichterung in mir auslöste. Erleichterung und Verwirrung. Warum tat mir plötzlich nichts mehr weh? Auch konnte ich wieder normal atmen, obwohl ich ganz deutlich diesen komischen Stab aus meiner Brust ragen sah. Ebenso das Blut, welches unentwegt hinabfloss.
“Was ist jetzt? Steh auf und hol sie dir.” Plötzlich wurde die Waffe ruckartig aus meinem Fleisch gezogen und beide Monster ließen mich im selben Moment los.
“Ahh!” Reflexartig versuchte ich, den Sturz mit den Händen abzufangen, rutschte allerdings auf meiner eigenen Blutlache aus und landete der länge nach unsanft auf den Kacheln.
“Lass uns ein Spiel spielen. Du hast eine Minute. Wenn du sie bis dahin nicht erreichst, quäle ich sie weiter. Deine Zeit läuft ... ab jetzt.” Ich richtete mich auf, wischte das Blut aus meinem Gesicht und sah erschöpft zu Reznick, der vor Wut kochte.
“Ein beschissenes SPIEL?!” Seine Augen wechselten zwischen seinem Vater und mir hin und her. “Ich ... ICH KANN NICHT! Es geht NICHT! Was hast du mit mir gemacht, du WIDERLICHER ARSCH?!”
“Ich? Deine mangelnde Konzentration ist jetzt also meine Schuld? Wie amüsant. Dir verbleiben ... 30 Sekunden.” Meine Stirn legte sich in tiefe Falten. Ich wollte etwas dazu sagen, aber es kam kein Ton aus meinem Mund, geschweige denn, dass ich ihn überhaupt öffnen konnte. Auch war es mir nicht möglich, selbst zu Reznick zu gehen. Ich konnte mich genauso wenig von der Stelle rühren, wie er. Und dann wurde es mir klar. Natürlich hatte sein Vater etwas gemacht!
Prüfend blickte ich auf jene Stellen, wo zuvor die Waffe rausgeschaut hatte. Wenn man mal das ganze Blut und die Löcher im Kleid ignorierte, war nichts passiert. Es gab keine Wunden. Auch mein Handgelenk war vollständig geheilt. Ein Schauer überkam mich, denn es ließ nur einen Schluss zu. Das Monster hatte mir wieder sein Blut verabreicht – hatte mir zwar Schmerzen zugefügt, aber eben auch alles ungeschehen gemacht und ein Teil davon war noch immer in mir. Reznick hatte vermutlich vor meinem Eintreffen Ähnliches ertragen müssen.
“Hmm ... Wird wohl nichts, wie?”, sprach sein Vater hörbar frustriert, was mich wiederum wütend machte. Wozu dieses ganze Theater? Warum fügte er uns beiden Leid zu? Das half doch niemandem! Wenn er Reznicks Körper so wie meinen kontrollieren konnte, was brachte es dann, von ihm zu verlangen aufzustehen?
“NEIN, VERDAMMT! Was hast du mir verabreicht?!” Reznick wand sich regelrecht am Boden, ohne wirklich voranzukommen. Es tat weh, das mit anzusehen und nichts tun zu können. Wobei – doch! Der Schlüssel! So unmöglich es mir erschien, aufzustehen, meine Arme konnte ich benutzen. Solange ich mich nicht vorwärtsbewegen wollte, reagierte mein Körper ganz normal. Unheimlich.
Schnell fischte ich den Schlüssel aus meinem Dekolletee und hantierte damit am Schloss des Halsreifs herum. Es überraschte mich zwar nicht wirklich, dass er nicht passte, aber dann doch schon irgendwie. Konnte dieser Mann nicht ein einziges Mal die Wahrheit sagen?
Zornig drehte ich herum und war kurz verwundert, dort jetzt nur noch ein Monster stehen zu sehen, bewarf diesen dann aber doch ohne weiter darüber nachzudenken mit dem Schlüssel. Das alles hier ergab ohnehin keinen Sinn und wenn ich schon nicht sprechen konnte, dann wollte ich wenigstens auf diesem Wege meinen Unmut zeigen. Es interessierte ihn jedoch herzlich wenig. Seine alleinige Aufmerksamkeit galt Reznick.
“Du enttäuschst mich, mein Sohn.”
“Halt die Fresse! Ich bring dich um!” Ein wildes Knurren folgte.
“Ja, Wut ist gut, aber es reicht wohl noch nicht ...” Sein Blick schweifte kurz zu mir. “Muss ich sie erst vor deinen Augen schänden? Würde dich das mehr antreiben? Soll ich sie sexuell foltern?” Ungläubig starrte ich ihn an. Es war verrückt, aber ausgerechnet vor dieser Äußerung hatte ich keinerlei Angst. Das würde er nicht tun. Hatte er ja bereits versucht – vorgetäuscht, als wir alleine waren und sich dann über meine Panik amüsiert. Er machte das also alles tatsächlich nur, um Reznick zu reizen.
“ICH HACK DICH IN STÜCKE!” Und es klappte gut. Als ich mich wieder nach vorne drehte, wankte er zwar stark, schaffte es aber dann doch endlich, aufzustehen. Ich schluckte. Noch etwas anderes passierte. Seine Haut verfärbte sich dunkel. Besonders seine Arme bekamen einen intensiven grauen Ton. Zudem wurden seine Finger – länger und schmolzen zusammen? Bei den Monden!
Ich hielt den Atem an und sah mit großen Augen dabei zu, wie Reznick aus seinen Händen zwei lange Schwerter formte. Er hatte also kein Wind, wie sein Bruder, sondern kam nach seinem Vater und konnte Metall bilden. Was mich sehr beunruhigte. Sein Blick hatte auf einmal nichts Menschliches mehr. Die Augen funkelten silber und pure Mordlust stand ihm ins Gesicht geschrieben.
“Interessant.” Das Monster stellte sich an meine Seite und berührte mich sanft an der Schulter. “Aber das genügt.” Reznick reagierte nicht auf seine Worte. Mechanisch bewegte er sich vorwärts und ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob er nur seinen Vater angreifen würde. Erkannte er mich in diesem Zustand überhaupt? Er sah nämlich so aus, als wollte er alles und jeden umbringen.
“Ich sagte, es reicht. Ein Kampf ist unnötig.” Reznick hielt eine Armlänge vor uns an, aber offensichtlich nicht freiwillig. So wie seine Muskeln bebten, zwang sein Vater ihn dazu. “Sehr schön. Deiner Partnerin geht es gut, siehst du?” Er umfasste meinen Oberarm und zog mich auf die Füße. “Solange du gehorchst, wird das auch so bleiben. Und jetzt ...” Er drehte herum, natürlich ohne mich dabei loszulassen, und schritt mit mir in jene Richtung, aus der wir gekommen waren. “Gehen wir ein Stück zur Entspannung und essen anschließend. Ein gemütliches Beisammensein so gesehen, klingt doch toll, nicht wahr?” Reznick knurrte hinter uns wie ein tollwütiges Tier und ich konnte nicht anders, als seinen Vater verständnislos anzustarren. Meinte er das ernst? Nach dieser brutalen und abartigen Inszenierung wollte er mit uns Zeit verbringen? Uns nun ein heiles Familienleben vorspielen?
Unsere Blicke trafen sich und sein sonst so kühler Ausdruck verschwand. Er lächelte mich an. Auch ein weiteres tiefes Knurren von Reznick änderte nichts daran. Er war zufrieden. Zufrieden, dass er von seinem Sohn gehasst wurde. Wie konnte ihn das nur glücklich machen? Und was viel wichtiger war, wie lange würde dieses kranke Spiel jetzt noch weiterlaufen?