╬Reznicks Sicht╬
Mein Vater schritt auf uns zu, musterte Dezeria und doch – sie war nicht sein Ziel. Er verbarg es gut, aber ich sah es. Die Wahrheit. Seine Beobachtung galt nicht ihr. Nein. Alles, was ihn ausmachte, war voll und ganz auf mich konzentriert. Man konnte es ganz gut daran erkennen, dass seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde zu unseren Händen ruckten, als ich nach ihr griff. Er analysierte jede meiner Bewegungen. Unter normalen Umständen hätte ich mir vermutlich über den Grund den Kopf zerbrochen, aber im Moment spielten so viele Dinge keine Rolle. Dezeria war wichtig. Sie war mein Mittelpunkt und galt es vor ihm zu beschützen. Aber. Dafür brauchte ich mehr Informationen. Gerade jetzt, wo es mir so unfassbar leicht fiel, jeden Aspekt zu erfassen. Mein Verstand klar war.
“Warum?” Meine Stimme klang kratzig. Heiser.
“Kannst du deine Frage näher definieren?” Sein Blick ging zu mir. Neugierde stand ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben.
“Warum kümmert dich das?” Sprechen fiel mir unglaublich schwer. “Warum brauchst du für alle Rea ein Gegenmittel?” Langsam atmete ich ein und aus. “Für mich und dich ist das nachvollziehbar, aber ... die anderen?” Er wollte Millionen von Leuten behandeln, was eine unglaubliche Belastung für Dezeria darstellen würde. Zudem mussten wir eine endlos lange Zeit deswegen bei ihm bleiben. Das konnte ich nicht akzeptieren.
“Damit das Gleichgewicht wieder stimmt. Ganz wie vom Ursprung gewollt.” Er blieb einen Meter vor uns stehen und tat wieder so, als wäre ihm Dezeria wichtig. Starrte sie berechnend an, was ihre Angst steigen ließ. “Durch das Auwolast ist es nicht möglich, sich auf natürliche Art und Weise zu vermehren. Reas können voneinander nicht schwanger werden. Die gefressenen Essenzen können nicht vergehen. Nie etwas Neues werden.“ Mit einem breiten Grinsen drehte er sich ein Stück zur Seite und ging vor uns auf und ab. “Natürlich hat unser Volk durch das Auwolast viele Vorteile erfahren. Ein langes Leben. Verbundenheit. Gesundheit. Schönheit.” Jeden Schritt in unsere Richtung setzte er äußerst bedacht. Er hielt konstant eine Entfernung und gab mir damit deutlich zu verstehen, dass er sie sah. Diese hauchdünnen Metallfäden, die ich wie einen Kokon um uns gesponnen hatte und mich unheimlich viel Kraft kosteten. “Aber eben auch einen Stillstand erreicht, den niemand erkennen will. So wie es jetzt ist, wird das Verschlingen niemals enden. Die Rea könnten mit anderen Rassen niemals friedlich zusammenleben. Was schwach ist, endet als Sklave. Was Macht besitzt, wird Nahrung.” Er sprach die ganze Zeit über die Wahrheit. Natürlich. Aber ich zweifelte. Er kannte mich gut. Für ihn war es bestimmt ein Leichtes, eine Lüge derart zu verbiegen. Alles, was ich bisher erfahren hatte und in Relation zu Dezeria und mir selbst setzte – es hätte andere Wege gegeben. Tausend andere Möglichkeiten, es besser zu machen. Völlig ohne Spiele. Ohne Leid.
“Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Auch das war auffällig oder zielte er darauf ab, dass ich unachtsam war? Heka hatte selbst gesagt, dass er immer mit mir redete und dann ein neues Spiel startete. Wie oft waren wir wohl genau an diesem Punkt angelangt? Hatte ich irgendwann eingelenkt und mich gebeugt? War ich so schwach gewesen, dass ich seine Argumente irgendwann sinnvoll gefunden hatte?
“Hm?” Er hielt inne und legte den Kopf schief. “Was an meiner Antwort war für dich ungenügend?”
“Warum ...” Holprig ging mein Atem. Das Metall vibrierte durch die lange Nutzung in mir. Mein Körper verlangte eine Pause. “Warum willst ausgerechnet du den Reas helfen? Was hast du davon?” Ich konnte mir schlicht nicht vorstellen, dass er irgendetwas uneigennützig tat.
“Ist das nicht selbsterklärend? Ich bin davon ausgegangen, dass meine Liebste dir davon erzählt hat. Was sie will. Was sie sich wünscht. Mit einem perfekten Lusius wäre es möglich. Kein Verschlingen, keine Instabilität mehr. Wir wären alle frei. Auf die eine oder andere Weise.” Ich runzelte die Stirn.
“Warte ... du redest von Heka?” Das hatte sie doch genau so formuliert.
“Ja.” Er verzog das Gesicht. “Auch wenn ich diesen ordinären Namen nicht leiden kann, den du ihr gegeben hast. Er ist ihrer nicht würdig.”
“Das ... ist verrückt. Alles, was du tust, machst du ihretwegen?” Plötzlich ergab alles für mich einen Sinn.
“Na-tür-lich.” Seine Stimmlage und der Ausdruck in seinen Augen machte deutlich, dass er mich für begriffsstutzig hielt. Aber wie konnte ich nicht darüber verwundert sein? Mit einem Mal war nicht ich der Grund für diesen ganzen Irrsinn.
“Es geht dir eigentlich nicht um die Rea. Nicht um Dezeria. Es ging auch bei den Spielen nie um mich.” Was im Umkehrschluss bedeutete, dass es nicht enden würde. Nicht auf die Weise, wie er uns das weismachen wollte. Nichts von all dem würde passieren. Er musste diesen Kreislauf aufrechterhalten. “Du hast mich gemacht, damit sie dich nicht verlässt. Ich bin dein Druckmittel.” Warum auch immer ich Heka so wichtig war. Wobei. Johanna hatte sie ja ebenso unbedingt retten wollen. “Vielleicht bist du sogar selbst verantwortlich für dieses Auwolast und all die dazugehörigen Probleme.” Er brach in Gelächter aus, aber ich fand es überhaupt nicht abwegig. Würde auf jeden Fall zu ihm passen. Er hatte eine ganze Welt gesponnen, um sie gefangen zu halten und mit ihr spielen zu können. Mit uns allen.
“Reznick?” Dezeria berührte auf einmal mein Gesicht. “Du blutest aus der Nase.” Sie tupfte mit einem Stück Stoff ihres Kleides an mir herum. ”Bist du verletzt? Tut dir was weh?”
“Nein. Alles gut.” Ich schob sie wieder hinter mich. Dort war sie sicher. Solange ich lebte, würde mein Vater nicht an mir vorbeikommen.
“Das ... war herrlich.” Das herzhafte Lachen meines Vaters endete. “Erfrischend amüsant.” Er schritt grinsend bis zur unsichtbaren Grenze meiner Verteidigung. ”Dich absichtlich gemacht? Als Druckmittel geplant? Nein. Ganz und gar nicht. Das würde voraussetzen, dass ich gewusst hätte, dass du aus uns entstehen würdest. Aber nein. Das hatte mich ehrlich überrascht, wie es zuvor auf dieser Welt noch nie etwas vermochte. Und das Auwolast ist bedeutend älter, als ich es bin. Oder hat meine Liebste dir das anders erzählt? Denkt sie, dass es meine Schuld ist? Es ist lange vor meiner Zeit entwickelt worden. Nichts daran hab ich zu verantworten.” Irgendwie fühlte ich mich seltsam. Hatte ich das richtig verstanden?
“Aus euch beiden?” Machte es sie damit nicht zu meiner Mutter? Nein. Unmöglich.
“Natürlich.” Seine Gesichtszüge wurden ausdruckslos, während er eine Hand ausstreckte und einen der Fäden berührte. Bevor er jedoch seine Haut daran aufschnitt, fiel mein Schutz in sich zusammen. Ich konnte die Konzentration nicht länger halten. Zu sehr wühlte mich das mit Heka auf.
“Das kann nicht sein. Sie sagte selbst, meine Mutter war nie ... lebendig.” Verdammt! Hatte sie mich etwa ausgerechnet bei diesem Thema belogen? Wie konnte sie es wagen?! Nein. Halt. Ich urteilte vorschnell. Es war einfach nicht wahr. Eine Lüge. Er belog mich. Ja. Es konnte nicht anders sein.
“Meine Liebste hat ein paar Identitätsschwierigkeiten.” Er seufzte, senkte die Hand und sah mich prüfend an. “Sie ist schon lange instabil und hält sich selbst für –”
“Sag es! Sag mir, ob es stimmt!” Mit einem Schlag war all der Hass zurück, von dem ich mich zuvor befreit hatte. Stärker. Heißer. Quälender. “Sag, dass du mich in einem verschissenen Labor erschaffen hast!” Ich starrte ihn wütend an und wandelte meine Arme in lange Klingen, die sich bis zum Boden erstreckten.
“Du verlierst die Kontrolle.” Dass mein Vater davon völlig unbeeindruckt blieb, regte mich zusätzlich auf.
“Sag es, du widerlicher Arsch!”
“Achte auf deine Ausdrucksweise.” Er schritt auf mich zu. Ignorierte komplett meine Worte.
“DU sollst mir die verdammte WAHRHEIT sagen!” Mein Innerstes explodierte regelrecht. Es reichte. Wozu bemühte ich mich noch, mit ihm zu reden? Das brachte ohnehin nicht das Geringste. Nur sein Tod würde das!
Der entsetzliche Schmerz in mir verlangte nach einem Ventil, und ohne großartig darüber nachzudenken, holte ich aus. Mein Vater war schließlich nah genug, damit ich ihn in Stücke schneiden konnte. Aber es ging nicht. Blitzartig breitete sich wieder dieser Druck in mir aus und stoppte meine Bewegungen.
“Hör auf, mich zu BLOCKIEREN!” Gedanklich hatte ich ihn längst in tausend Teile zerhackt.
“Interessant.” Provozierend stellte er sich vor mich. “Ich frage mich, ob du das Gebilde bewusst oder unterbewusst steuerst.” Ich knurrte.
“ANTWORTE ENDLICH!”
“Zuerst du.” Mein Oberkörper drehte sich plötzlich, sodass ich Dezeria hinter mir sehen konnte. Meine Augen wurden groß. Sie steckte in eine Art Käfig, deren Gitterstäbe aus meinem Rücken kamen. Sofort zog ich sämtliches Metall zurück in meinen Körper. Sie rührte sich dennoch nicht. Ob vor Schreck oder dem Eis, welches sie an etlichen Stellen überzogen hatte, wusste ich nicht. Sie hatte Angst, nur das erkannte ich. Schon wieder Angst vor mir.
“Tut mir leid ...” Ich atmete schwer. War fassungslos. “Habe ich dich verletzt?” Die Streben waren stumpf gewesen. Es diente also allein – was? Hatte ich sie beschützen wollen oder hatte das mein Vater gemacht, ohne, dass ich es mitbekommen hatte?
“Mir ist nichts passiert.” Sie schüttelte sachte den Kopf. “Ich habe mich nur erschrocken ...” Auf einmal bewegte ich mich auf sie zu. Mein Vater lenkte mich – zwang mich, hinter sie zu gehen und mit einer Hand ihren Bauch sowie die Arme zu umfassen, damit sie nicht wegkonnte. Die zweite legte sich über ihre Augen.
“Reznick? Was ... tust du?” Das fragte ich mich auch, aber ich konnte nicht sprechen. Mir blieb allein zuzusehen, wie mein Vater zu uns kam und eine Hand um ihren Hals legte. Sie zuckte zusammen und versuchte, sich zu befreien. Vergeblich.
“Bitte ... lass mich los.” Ihr Flehen brachte nichts. Auch ihr Eis half wenig. Es wuchs zwar über meine Haut, aber nur bis zu jenem Moment, wo sich die Finger meines Vaters verflüssigten und ihr einen neuen Halsreif verpassten. Ich konnte es nicht fassen, dass ich ihm dabei assistierte. Und schlimmer noch – ich übergab ihm das Wichtigste in meinem Leben. Einfach so. Ohne zu zögern, ließ ich zu, dass er sie mir wegnahm und hochhob.
“Was habt Ihr vor? Lasst mich runter ...” Ihre Stimme bebte, ebenso wie mein ganzes Sein. Es brüllte. Tobte.
“Ist nicht für lange”, erwiderte er emotionslos und trug sie weg von mir, während ich nur dumm dastehen konnte. Wahnsinnig vor Hass und Panik. “Ich will nur etwas mit meinem Sohn ausprobieren und dein Eis wäre dabei äußerst hinderlich.” Ein paar Meter entfernt ließ er sie wieder runter. “Sei so gut und bleib hier.” Was wie eine Bitte klang, war nichts weiter als eine belanglose Floskel, da er im selben Atemzug eins ihrer Handgelenke umfasste und auch dort einen sonderlichen Kristall wachsen ließ. Aber kein normaler Reif, wie der um ihren Hals. Nein. Er formte eine Art Stab mit Öse, den er tief in den Boden rammte – sie daran befestigte.
“Was soll das?”, schimpfte Dezeria sogleich. “Was habt Ihr mit ihm vor, dass Ihr mich hier festmachen müsst? Werdet Ihr ihm etwas antun?” Ihr Blick wechselte besorgt zwischen uns hin und her.
“Wird sich zeigen.” Dass mein Vater anschließend zu mir kam, brachte mir umgehend Erleichterung. Das war viel besser, als wenn er bei ihr stand. Viel, viel besser.
“Also dann, Alexander.” Er positionierte sich genau so vor mir, dass ich noch die Möglichkeit hatte, Dezeria zu sehen. Das half. Beruhigte meine kreischende Seele. Ich wüsste nicht, was passiert wäre, hätte er sie ganz aus dem Raum geschafft. Ihr Anblick war alles, was mich im Moment interessierte. “Überzieh deinen Körper noch einmal mit deiner Fähigkeit.” Was er dagegen sagte, konnte mir egaler nicht sein. Ich blendete ihn vollkommen aus. Er war reines Gift für meinen Körper und Geist. Ich wollte so nicht mehr leben. Nicht wenn es da Dezeria gab, die mein gesamtes Empfinden in etwas unbeschreiblich Schönes verwandelte.
Leider war mein Vater jedoch äußerst hartnäckig darin, mir auf den Keks zu gehen. “Du ignorierst mich? Nicht sehr nett.” Ein Schritt von ihm genügte, um Dezeria zu verbergen und all meine Aufmerksamkeit zu erlangen. “Na los, ich warte.” Heißbrennende Wut raste durch meine Adern.
“Da kannst du lange warten! Ich mach für dich doch keine Kunststücke!” Ich versuchte es ohnehin die ganze Zeit, aber nichts funktionierte. Zu viele Dinge rauschten mir durch den Kopf. Dass es vorhin auf einmal geklappt hatte, war pures Glück gewesen. “Wieso kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen und dich verpissen?!”
“Aber, aber ...” Er zwang mich auf die Knie, was meinen Hass weiter befeuerte. Ich musste mich derart tief verneigen, dass meine Nase gegen die kühlen Bodenplatten drückte. Von ihm gelenkt zu werden war unglaublich demütigend. “Es liegt auch in deinem Interesse, meinem Befehl nachzukommen. Oder sag bloß, du willst auf ewig schwach und beeinflussbar bleiben? Erbärmlich. Jeder aus der Führungsriege könnte dich lenken. Und glaube mir, Oliver wird viel Freude daran haben, dich zu brechen. Er wird dich alles tun lassen, was er will, und du wirst lediglich dabei zu sehen können. Stumm und hilflos. Du wirst rund um die Uhr sein Spielzeug sein, ist es das, was du willst?”
“Wo ist der Unterschied zu DIR?!” Ein tiefes Knurren hallte in meiner Brust, während sich meine Hände in groteske Klauen verwandelten und in den Untergrund bohrten. “Lass mich frei, dann bring ich dich um, du blöder WICHSER!”
“Bedauerlich.” Der Druck in meinem Inneren raubte mir umgehend den Atem. Ich drohte zu ersticken. “So viel potential.” Er brachte mich dazu, zu ihm aufzusehen. “Und wenn ich wieder deine Partnerin bestrafe? Bist du dann lernwilliger?” Vollkommen ausdruckslos machte er einen Schritt zur Seite. Dezerias Anblick verpasste mir sofort einen intensiven Schauer. Ich wollte zu ihr. Ihr helfen. Sie war zwar bemüht, sich von dem Kristallzeugs zu befreien, schaffte es aber nicht. Ihr Handgelenk war bereits stark gerötet, so sehr zerrte sie daran.
“Nun?” Ein bedrohliches Knistern entstand. Mein Vater hob eine Hand und ließ darum einen weißen Blitz schlängeln. Was konnte dieses Monster eigentlich nicht? “Wie viel Leid muss sie deinetwegen erfahren?” Meine Augen wurden groß, als er sich zu ihr drehte. Er wollte Dezeria damit Schmerzen bereiten. Nein. Alles nur das nicht!
Die pure Vorstellung davon ließ mein Herz stillstehen. Die Zeit verlangsamte sich und noch bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, sprang ich auf. Beide Arme wandelten sich fließend mit der Bewegung in silberne Klingen. Ich zielte auf keine besondere Stelle. Ein Schlag sollte lediglich seinen Brustkorb und der andere in den Bauchraum gehen. Er sollte sterben, damit er sie nie wieder verletzen konnte.
“Gut.” Es gelang mir jedoch nicht, seinen Körper zu durchstoßen. “Aber könnte besser sein.” Seine Haut hatte sich schwarz gefärbt und wie, als würden meine Waffen lediglich stumpfe Stöcke sein, konnte er mit seinen Händen die Hiebe abfangen. “Dein Metall ist viel zu weich, um wirklichen Schaden anzurichten.” Er demonstrierte es mir, in dem er die Spitzen von sich weg bog. Das kümmerte mich allerdings wenig. Ich zog das Metall zurück, formte erneut scharfe Spitzen und stieß zu. Irgendeine Schwachstelle musste er haben und ich würde nicht aufhören, bis ich sie gefunden hatte.
“Auf was bist du konzentriert? Sie zu beschützen oder eher mich zu töten?” Er nahm das alles nicht ernst, aber das spielte für mich keine Rolle. Da ich nicht durch seine Haut kam, war mein nächstes Ziel seine Augen. Ich legte in diesen Angriff viel Kraft, aber meine Geschwindigkeit reicht nicht aus. Er war schneller und lenkte die Klingen um. Leicht fiel es ihm jedoch nicht. Die Wucht meines Angriffs ließ ihn wanken und da er mir mit dieser Bewegung zum ersten Mal eröffnete, dass er nicht unbesiegbar war, probierte ich es gleich noch einmal. Schneller. Stärker.
Mein Herz schlug schwer, mein Atem ging stoßweise. Es war unglaublich anstrengend, auf diesem Niveau zu kämpfen, aber ich ließ nicht zu, dass die Erschöpfung mich übermannte. Ich durfte mir keine Schwäche erlauben. Nicht jetzt, wo ich meinen Vater soweit hin und her getrieben hatte, dass ich genau zwischen ihm und Dezeria stand. Da wo ich hingehörte. Das gab mir einen Höhenflug. Solange ich diese Position hielt, würde er sie nicht bekommen. Ihr nichts antun können.
“Deine Erschöpfung blendest du gänzlich aus, stimmt’s? Ich frage mich, ob du deine Partnerin überhaupt noch wahrnimmst oder auch das nicht bis zu dir durchdringt.” Die Frage war dumm. Natürlich hörte ich sie hinter mir. Seit mein Vater selbst zum Angriff übergegangen war und breite schwarze Klingen aus seinen Armen geformt hatte, rief Dezeria ununterbrochen. Sie schimpfte und flehte abwechselnd. Wollte, dass wir aufhörten. Sie hatte Angst um mich, aber das war nicht wichtig. Es zählte allein, dass es ihr gut ging und dafür musste ich mich nicht zu ihr umdrehen. Ich spürte, dass sie wohlauf war.
“RAHHR!” Mein Vater war unkonzentriert. Meine Grenzen auszutesten und gleichzeitig Dezeria zu beobachten ließ ihn selbst unachtsam werden. Es gelang mir tatsächlich, ihm das rechte Auge zu nehmen. Zwar schnitt ich nicht sehr tief in das weiche Gewebe, aber es reichte, um meinen Verdacht zu bestätigen. Die schwarze Haut war unverwundbar, jedoch konnte man ihn dort verletzen. “Ich hasse Schmerzen.” Er grinste spöttisch, während er eine seiner Klingen zurückwandelte und über die Wunde wischte. “Und nun? Bist du zufrieden oder ... enttäuscht?” Er nahm die Hand runter und offenbarte, dass die Verletzung verheilt war. Was mich nicht sonderlich überraschte. Unbeeindruckt davon ging ich sofort wieder in den Angriff über. Mochte sein, dass ihn ein derart kleiner Treffer nicht schadete, aber darum ging es nicht. Es war ein Zugang in seinen Körper und es würde sich noch zeigen, ob er einen Stich tief in seinen Schädel auch so leicht wegstecken konnte.
“Wird dir das nicht langweilig? Versuch doch lieber mal, deine Essenz besser zu nutzen.” Mit Leichtigkeit zerschlug er meinen Angriff. Seine Klinge traf auf meine und spaltete diese, als bestünde sie lediglich aus weicher Butter. Es tat nicht direkt weh, fühlte sich aber dennoch unangenehm und befremdlich an. Ebenso das Neubilden. Er spielte nur mit mir. Wenn er wirklich wollen würde, hätte er mich längst umbringen können. Ich musste besser aufpassen – mich mehr anstrengen.
“Du bist im Übrigen so zur Welt gekommen, wie es Kinder bei allen Sklaven tun.” Meine Bewegung kam ins Stocken und führte dazu, dass ich nicht wie beabsichtigt erneut sein Auge traf, sondern ins Nichts schlug.
“W-was?”
“Du bist in dem Körper gewachsen, den meine Liebste damals bewohnte. Ein Puppenmodell, das heute nicht mehr hergestellt wird. Ein Vorläufer der CeKyde.” Ich sah ihn verständnislos an. Wie hatte eine verdammte Puppe schwanger werden können?
“Das ist absurd!” Mir vollkommen gleich, ob er die Wahrheit sagte. Ich konnte und wollte das nicht akzeptieren!
“Ich weiß.” Er lächelte und musterte mich gründlich. “Als ihr Bauch mit einem Mal immer dicker wurde, hatte ich erst gedacht, sie wäre kaputt.”
“Hör auf, von IHR zu reden!” Das war unerträglich. Schmerzte tief in mir. An Heka zu denken tat mir absolut nicht gut und machte mich rasend. Blind vor Wut stürmte ich vor, nur um im nächsten Augenblick vor meinem Vater auf die Knie zu fallen. Vollkommen von seiner Kontrolle übernommen.
“Bis ich verstand, dass Leben in ihr heranreift und was das bedeutete ...” Mir schwindelte. Blut tropfte vor mir auf den Boden. “Das hatte mein Umdenken erst in die Wege geleitet. Ab diesem Zeitpunkt habe ich jedes Wissen um die Herstellung der Rea, den Sklaven und den Elementaren gesammelt. Habe die Manipulation erkannt. Die Degeneration und die Unterdrückung unseres Volkes ...” Er laberte und laberte, während ich um jeden Atemzug rang und glaubte, jeden Moment die Besinnung zu verlieren. Ich war völlig fertig, aber noch konnte ich es mir nicht erlauben, mich auszuruhen.
“Halt deine verschissene KLAPPE! Ich will das verdammt noch mal nicht HÖREN!” Ich hatte das Gefühl, als würden meine Knochen brechen und die Muskeln reißen, so sehr versuchte ich, aufzustehen – gegen diesen widerlichen Druck anzukämpfen. Ich musste. So durfte es nicht enden!
“Du hast große Fortschritte gemacht. Ehrlich.” Mein Vater hockte sich vor mich und umfasste mein Kinn. Sah mir direkt in die Augen. “Und auch deine erste Ebenenbindung an Henriette sieht schon sehr gut aus, aber ich bin noch nicht zufrieden. Deine Wut macht dich schwach. Du lässt dich zu leicht ablenken und wirst dadurch anfällig für das Auwolast.” Er ließ mich los und streichelte verstörend sanft meine Wange, bevor er sich wieder aufrichtete. “Wenn du keine Tests an deiner Partnerin willst – von meinem Plan mit dem Lusius nichts hältst und dieses Schiff verlassen willst, wie wäre es dann mit einem anderen Vorschlag, hm? Vielleicht ist das ja motivierend genug, damit du dich besser auf deine Fähigkeiten konzentrierst.”
“Was willst du?” Ich war müde. So unendlich müde. Diese ganze Situation war pures Gift für meinen Körper und meine Seele. “Ich mache alles, was du willst, wenn du Dezeria nur unversehrt lässt!” Meine Freiheit würde ich, ohne zu zögern, für sie aufgeben. Das stand für mich außer Frage, auch wenn sie hinter mir lautstark dagegen protestierte. “Besylin, Oswelat, Yngewa ... was du willst. Jedes Spiel, dass mich nicht umbringt.”
“Nein.” Er schüttelte den Kopf und ließ mich aufstehen. “Ich sagte doch, keine Spiele. Meine Liebste und du bekommen neue Aufgaben. Beziehungsweise wird das nach deiner vollständigen Bindung ohnehin egal werden. Du darfst auch jetzt mit Henriette gehen, sofern du mir beweisen kannst, dass du zu jeder Zeit dem Blut trotzen kannst.” Die tonnenschwere Last verschwand plötzlich. Ich konnte mich wieder frei bewegen. “Dann zeig doch mal, wie lernfähig du bist. Oder brauchst du einen weiteren Anreiz?” Um seine Hand bildete sich erneut ein weißer Blitz. Ich schluckte. Sofort verdrängte die Sorge um Dezeria den ganzen Hass in meinem Verstand. Da gab es nur noch den Gedanken, ihn aufzuhalten. Anzugreifen. All meiner Erschöpfung und Schmerzen zum Trotz.
*
Der Geschmack meines eigenen Blutes lag mir auf der Zunge. Mein Körper schien nur noch aus reinster Qual zu bestehen. Ich wurde mit jedem Schritt langsamer. Es gelang mir nur noch mittelmäßig, tatsächlich mit meinem Vater mitzuhalten. Seine Bewegungen waren um etliches flüssiger und leichter als meine. Keiner meiner Hiebe traf ihn auch nur ansatzweise im Gesicht. Er blockte entweder direkt, oder schlug mit seiner Klinge meine beiseite. Wie lange ich das noch durchstand, wusste ich nicht. Wenn es hierbei nur um mich selbst gehen würde, ich hätte längst aufgegeben.
“Du bist definitiv, was das Körperliche angeht, stärker als dein Bruder.” Dieser Satz brachte mich aus dem Konzept. Meine Konzentration brach und statt einen Schlag in seine Richtung zu machen, stolperte ich und landete ganz ohne jeden Zwang auf den Knien. “Doch seid ihr beide nicht in der Lage, eure Essenz richtig einzusetzen. Du könntest bedeutend besser sein, wenn du nur wolltest.”
“Ein ... Bruder?” Ich keuchte atemlos. “Wirklich? Hast du ... mir sonst noch was ... so nebenbei ... zu erzählen?” Als während all die Dinge, die mein Leben betrafen nur bedeutungslose Kleinigkeiten.
“Du kannst ihn später treffen. Natürlich auch deine Mutter. Wir könnten –”
“Ich will ... sie nicht sehen!” Wollte er mich verarschen? “Keinen von beiden!” Da ich keine Kräfte mehr in den Beinen besaß, um aufzustehen, verlängerte ich meine rechte Klinge und schlug so nach ihm. “Und dich ... erst recht nicht! Ich hasse DICH ... Ich hasse HEKA und ich scheiß darauf, irgendeinen verdammten BRUDER zu haben!” Sämtliche Adern drohten gleich zu platzen, so sehr regte mich das auf. “Diesen abartigen Familienscheiß kannst du dir –” Mein Vater wusste definitiv, wie er mich wieder zur Vernunft brachte. Mit einem emotionslosen Gesichtsausdruck machte er einen Schritt vor und schlug mir ohne Umschweife den linken Arm ab. Durchtrennte ihn ein gutes Stück unterhalb der Schulter.
Das war selbst für mich ein neues Schmerzlevel. Ich bin zwar schon auf tausend Arten gefoltert worden und hatte mir etliches gebrochen, aber dabei noch nie ein Körperteil verloren. Noch nie. So wirklich begreifen konnte ich es auch irgendwie nicht. Geschockt hielt ich die Wunde und krümmte mich, den Mund zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Hörten, tat man dagegen Dezeria. Ihre helle Stimme glich einer Sinfonie aus Fassungslosigkeit, Wut und Verzweiflung.
“Mit dem Auwolast und deiner Metalldichte stellen sich aktuell keine Verbesserungen ein. Ich beende es fürs Erste, nachdem du mir deine Heilung gezeigt hast.” Mein Vater hockte sich zu mir und sah mich fasziniert an. “Na los. Bemüh dich, ihn wieder anzubringen.” Wie paralysiert starrte ich auf meinen abgetrennten Arm, den er mir hinhielt. “Ich weiß, dass du es kannst.”
“W-arum?” Ich war nur noch überfordert. Am Ende.
“Erziehung.” Er drückte beide Schnittstellen aneinander. “Streng dich an. Ich will sehen, ob du es alleine schaffst.” Damit ließ er los und beobachtete gebannt, wie ich mich einerseits abmühte, nicht zu verbluten, und andererseits zitternd meinen leblosen Arm in Position hielt. Das war so absurd, dass ich drauf und dran war, wie ein Irrer loszulachen. Einzig Dezeria sorgte dafür, dass ich nicht brach. Jedes Mal, wenn sie meinen Namen rief – ich ihre Stimme hörte, schlug mein Herz weiter. Solange sie dar war, funktionierte ich. Irgendwie.
Dafür, dass ich mit der Art und Weise dieser Verletzung keinerlei Erfahrung hatte und eigentlich null Kraftreserven besaß, verbanden sich die Schnittkanten relativ problemlos. Was mir jedoch Sorgen bereitete – ich konnte ihn danach kein Stück bewegen. Er fühlte sich komplett taub an. Auch fehlte mir jedwedes Gespür dafür, ob sich das Gewebe innen richtig verbunden hatte. Der Knochen eins war. Aktuell bestand ich aus einem gigantischen Schmerzreiz. Ich konnte nichts dieser Wunde gezielt zuordnen.
“Sieht gut aus. Na, wie fühlst du dich?” Mein Vater musterte alles neugierig. Betrachtete die große Blutlache am Boden, meinen Arm von den Fingerspitzen bis hin zur Schulter und anschließend wieder mein Gesicht. “Jetzt zieh deine Essenz einmal über die Haut.” Während ich ihn verzweifelt ansah und mich fragte, ob er dieses Spielchen solange treiben wollte, bis ich verreckte, stieß Dezeria plötzlich einen spitzen Schrei aus. Er schmunzelte darüber und ließ seine Augen kurz zu ihr schweifen. Was auch immer mein Vater dann sah, sorgte dafür, dass er die Stirn krauszog und ihr all seine Aufmerksamkeit schenkte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich mir nicht sicher, ob er mich damit testen wollte. Mir vielleicht vorzugaukeln versuchte, dass ihr etwas passiert war. Aber das war dumm. Zwischen all dem Chaos, welches in mir wütete, empfing ich ihr Wohl- und Unwohlsein klar und deutlich. Ein intensiver aufgewühlter Gefühlscocktail, der jedoch nicht beinhaltete, dass sie physische Schmerzen erlitt. Und dann handelte ich rein instinktiv.
Ich wandelte zwei Finger meines funktionsfähigen Arms zu einem schmalen Dolch und rammte ihm die Spitze mitten ins Auge. Weiter, immer weiter. Durchschlug die Augenhöhle und drang bis in seinen Schädel. Woher ich die Kraft dazu nahm, wusste ich nicht, aber es beflügelte mich, als sein Körper erschlaffte und nach hinten kippte. Unbeholfen folgte ich der Bewegung und stürzte halb auf ihn. Keuchend. Zitternd. Hatte ich es geschafft?
Unsicher starrte ich auf meine Waffe, die in seinem Kopf steckte. Ich traute mich nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Zu sehr wallte die Angst in mir, dass er sich gleich heilen und aufrichten würde. Aber das tat er nicht. Vielmehr konnte ich beobachten, wie das undurchdringbare Schwarz von seiner Haut verschwand. Okay. Jetzt oder nie!
Hurtig, aber dennoch mit der nötigen Vorsicht, verlängerte ich das Metall meiner Hand. Ich verlagerte das Gewicht und stieß die Klinge noch tiefer hinein, bis ich es laut knacken hörte und mir sicher sein konnte, den verdammten Schädel meines Vaters an den Boden getackert zu haben. Etwas umständlich war danach mein Versuch, den Spieß von meinem eigentlichen Körper zu trennen. Es klappte nicht auf Anhieb und fühlte sich auch alles andere als schön an, aber schließlich gelang es mir. Erschöpft rutschte ich von seinem Leib und formte erneut ein Pflockgebilde, das ich ihm diesmal mitten in sein Herz bohrte. Ich wollte auf Nummer sicher gehen. Falls er das überhaupt überleben konnte, sollte es ihm unmöglich sein, die Wunden heilen zu können. Wie auch, wenn etwas noch in ihm steckte?
Erst als auch das erledigt war, erlaubte ich mir, einmal tief durchzuatmen und nach Dezeria zu sehen. Dass mein Vater von ihrem Anblick irritiert gewesen war, konnte ich nun voll und ganz nachvollziehen. Eine Hälfte von ihr hatte sich in massives Eis gehüllt, während auf der anderen Seite – was? Schwarzes und graues Metall aus ihr ragte? Bildete ich mir das? Hatte der Schrecken immer noch kein Ende?
“W-as ist passiert?” Über die Maßen besorgt, eilte ich zu ihr. Wobei ich nicht mehr als ein wankendes Schlurfen zustande brachte, da meine Beine sich kaum bewegen wollten. Mein Körper war komplett im Eimer. Alles fühlte sich wund und taub an.
“Nein! Nicht!” Tränen kullerten über Dezerias Wangen und sie bemühte sich, zurückzuweichen, aber das ging nicht. Das Eis hatte sie gut am Boden fixiert. “Das ist viel schlimmer als nur Eis und ... Gott, er hat dich ... Und dann dein Arm!” Sie schluchzte. ”Ich wollte dir so unbedingt helfen! Den Kristall konnte ich wieder irgendwie loswerden und ... und ... Nein! Bleib weg! Jetzt frier ich dich nicht nur ein, sondern spieß dich dazu noch auf, hörst du?!”
“Ja.” Ich hörte jedes einzelne ihrer aufgelösten Worte und doch zog es mich unaufhaltsam zu ihr hin. Es war mir egal, ob sie zu kalt war oder sich nun scharfkantig anfühlte. Ehrlich egal, denn es gehörte zu ihr und ich brauchte sie. Es spielte im Augenblick keine Rolle, warum sie die gleichen Dinge konnte wie ich und mein Vater. “Bitte, lass mich ... dich ...” Mein Arm legte sich um sie, so gut es unter diesen komischen Bedingungen eben ging, und dann sank ich gegen ihren Oberkörper. Eine Umarmung war alles, was ich gewollt hatte und doch schaffte ich es nicht. Wie betäubt glitt ich an ihr herab, unfähig mich noch länger aufrechtzuhalten.
“Reznick!” Ich bekam nicht wirklich viel mit. Alles drehte sich, wirkte verschwommen und es tat so verdammt gut, die Augen zu schließen. Ja. Hier konnte ich mich endlich ausruhen. Bei ihr vergaß ich all den Schmerz und fühlte mich geborgen. Geborgen und unfassbar Müde ...
“Bei den Monden, Reznick bitte!” Dezeria rüttelte an mir, was ich mit einem Murren quittierte. “Bitte, stirb mir nicht weg!” Ihre kühlen Finger drückten an meiner Halsschlagader herum.
“Habe ich nicht ... vor.” Nicht wo ich nach diesen ganzen Strapazen endlich bei ihr lag – sie fühlen, riechen und ihre angenehme Kälte spüren konnte.
“Deine Atmung hatte für einen Moment ausgesetzt!”
“Hm?” Ich öffnete mühsam die Augen und sah in ihr tränenverhangenes Gesicht. “Wirklich? Ist mir nicht aufgefallen ...” Auch jetzt war ich wenig empfänglich für meine körperlichen Leiden oder meine Umgebung. Zwar realisierte ich, dass sie mich auf den Rücken gedreht haben musste, und da war überall Eis um uns herum, aber es interessierte mich nicht. Allein, dass Dezeria da war, machte mich glücklich.
“Bist du ... verletzt?” Langsam hob ich meinen rechten Arm und streichelte ihre Wange. Die Frage musste sein, auch wenn ich keine Verletzungen sah oder von ihr unterschwellig spürte. Es war mir ein tiefes Bedürfnis.
“Nein.” Sie schüttelte sachte den Kopf, wischte sich halb weinend, halb lachend über die Lider und schmiegte sich dann gegen meine Hand. “Aber er hat dir wehgetan. Ununterbrochen.” Sie tastete an meinem Oberkörper entlang. “Die vielen Schnitte und Stiche bluten nicht mehr, aber deine Haut ist dennoch an vielen Stellen offen ... Ich hab es, so gut es ging, versorgt und mit dem geschmolzenen Eis ausgewaschen und anschließend verbunden, aber wir brauchen für dich unbedingt richtige Medizin und saubere Verbände.”
“Ich habe ... Schnittverletzungen? Ist mir gar nicht aufgefallen, dass er mich so oft ... getroffen hatte.” Jetzt erst bemerkte ich die ganzen blauen und weißen Stoffstreifen an meinem Körper, weil sie zwei Enden davon mit einem Knoten festzog.
“Ja, hat er! Gott, es war so furchtbar! Und dann erst das mit deinem Arm ...” Ich sah, wie sie vorsichtig darüber strich. Die Berührung selbst kam jedoch nicht bei meinen Nerven an. “Kannst du ihn bewegen?”
“Nicht wirklich.” Die Finger konnte ich leicht zucken lassen, aber mehr brachte ich nicht zustande. “Wird schon heilen.” Hoffte ich zumindest. “Lass uns hier verschwinden.” Das war jetzt eindeutig wichtiger. Mögliche irreparable Schäden würde ich später noch ausgiebig an mir analysieren. Und auch das, was ich bei Dezeria gesehen hatte. Eis und Metall? Aktuell konnte ich nichts Ungewöhnliches an ihr entdecken. Gut, das Kleid war überall zerrissen, was nichts bedeuten musste, wenn sie daraus Verbandmaterial für mich hergestellt hatte. War das mit ihrer deformierten Körperhälfte letztlich doch bloß eine Einbildung gewesen? So viele Fragen bauten sich in meinem Kopf auf und fielen wieder zusammen, weil wir im Moment keine Zeit dafür hatten.
“Fühlst du dich denn schon gut genug? Kannst du aufstehen?” Berechtigte Frage, trotzdem nichts, was ich mir aussuchen konnte. Meine Muskeln hatten zu funktionieren. Punkt. Noch länger hierzubleiben war schlichtweg keine Option.
“Ich muss.” Eisern biss ich die Zähne zusammen. Es war die reinste Qual, sich zu bewegen. Kurz schaffte ich es auf die Beine, nur um danach wieder auf die Knie zu sinken. Dezeria stützte mich, aber es half nicht. Sie war nicht stark genug und solange ich nicht selbständig gehen konnte, würden wir keinen Meter weit kommen.
“Wohin müssen wir überhaupt? Ich sehe keine Tür ...” Besorgt schweifte ihr Blick durch den kahlen weißen Raum.
“Erstmal rüber zu meinem Vater. Der besitzt eine Manschette am Unterarm. Damit habe ich Zugriff auf die Technik des Schiffes und kann uns sicherlich rausbr...” Plötzlich brach ein sonderlicher Schauer über mich herein und verpasste mir eine massive Gänsehaut. “Spürst du das auch?”
“Ja, es ... kribbelt ganz komisch.” Kaum hatte Dezeria es ausgesprochen, erklang ein surrendes Geräusch, das mit jeder Sekunde immer lauter wurde. “W-was ist das?” Sie drückte sich an mich, während meine Augen verwirrt alles absuchten. Konnten wir einen versteckten Mechanismus ausgelöst haben? Oder hatte mein Vater vielleicht irgendeinen Timer eingestellt, der nach einer gewissen Zeit – nein. O nein! Seine verfluchte Leiche regte sich!
Ich starrte wie betäubt auf seinen Körper ein paar Meter vor uns, der von jetzt auf gleich zu leuchten anfing. Zuckte. Ich schluckte schwer. Seine Haut verwandelte sich in – was? Licht? Blitze? Lichtblitze? Es krachte und knallte jedenfalls ordentlich. Seine Kleidung fing Feuer. Dann löste er sich gänzlich vom Boden auf, nur um im nächsten Moment nackt zwischen den beiden Spießen zu stehen, die gerade noch in ihm gesteckt hatten.
“Scheiße ...” Ja. Das war wirklich ein großer Haufen Scheiße! Seine glühend silbernen Augen richtete sich auf uns und ich konnte nicht einschätzen, was nun passieren würde. Ich verdrängte dabei die Fragen, ob das bei meinem Vater normal war und zu seiner Fähigkeit gehörte oder was er bitte noch alles konnte. Für mich war allein wichtig, ob jetzt eine Strafe für Dezeria und mich folgte. Wie würde diese aussehen und wie konnte ich das verhindern? Konnte man überhaupt Etwas, das aus Energie oder Elektrizität bestand, aufhalten? Er hatte selbst gesagt, dass er nicht durch mich sterben konnte, aber alles ließ sich irgendwie umbringen. Musste doch so sein!
“Bleib weg, du Monster!” Dezeria machte sich darüber offensichtlich gar keine Gedanken, denn als sich mein Vater in Bewegung setzte und zu uns kam, jagte sie kurzerhand eine Eiswelle auf ihn. Ich wusste sofort, dass dies keine gute Idee war. Sah, dass sie ihn zwar traf und seinen Lichtkörper einfror, aber auch, dass es ihn nicht störte. Sie in seinen Fokus rückte. Er brach mit Leichtigkeit aus dem Block und bündelte weiße zischende Blitzfäden in einer Handfläche. Zielte auf sie.
“Nein!” Mein Körper handelte rein instinktiv auf diese drohende Gefahr, mobilisierte all seine Kraft und sprang vor Dezeria. Trotz meiner derzeit katastrophalen Schwäche aktivierte sich diese Essenz, wenn ich sie brauchte. Meine Haut wurde sofort vollständig mit einer grauen Schicht umhüllt. Das sollte unheimlich sein, aber im Augenblick war ich nur unendlich dankbar dafür. Ich musste sie um jeden Preis beschützen!
Der Treffer summte ordentlich in meinem Innern, aber dafür, dass ich gerade einen waschechten Blitz abbekommen hatte, fühlte ich mich gut. Dezeria war auch nichts passiert, was mich zusätzlich erleichterte – aber sonst? Was nun? Mein Vater zeigte keinerlei emotionale Reaktion. Er schoss lediglich einen weiteren Blitz auf mich. Deutlich stärker diesmal, allerdings konnte ich auch dem standhalten. Die Frage war bloß, wie lange? Mein Herz raste wie verrückt und fühlte sich so an, als wollte es gleich zerspringen. Jeder Atemzug war ebenso eine Qual.
“Was soll ich tun? Mehr Eis? Den Raum einfrieren? Ihn versuchen, wie du vorhin zu ... also ... aufzuspießen? Ich will das Schiff nicht kaputt machen.” Dezeria blieb hinter mir geduckt und wob eine Art Kristallmauer um uns.
“Ich ... weiß es nicht ...” Ich war ehrlich ratlos. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie soll wegrennen. Weit, weit weg, während ich meinen Vater beschäftigte, aber sie kam ohne meine Hilfe ja nicht einmal aus diesem Raum heraus. Egal, wie sehr ich die Umgebung und die Situation analysierte, ich kam immer zu demselben Ergebnis. Ein Kampf war sinnlos. Jeder Widerstand gegen meinen Vater war das. Wir mussten uns fügen. Aufgeben. Und doch weigerte sich alles in mir, dies zu akzeptieren. Ich konnte nicht. Nicht dieses Mal. Egal wie oft wir vielleicht schon an diesem Punkt gewesen waren. Hier und heute würde es der Letzte sein. 488-Male waren genug. Entweder schafften wir es beide irgendwie oder starben bei dem Versuch, freizukommen.