•‡Dezerias Sicht‡•
Bemüht ruhig knetete ich meine zitternden blutverklebten Hände vor der Brust. Der Schreck über Reznicks Äußeres und dass er nicht er selbst gewesen war, saß noch tief in meinen Knochen. Es hatte entsetzlich weh getan, ihn so zu sehen und nichts machen zu können. Auch das sein Vater uns mit Leichtigkeit beeinflusste – es bereitete mir nach wie vor eine massive Gänsehaut. Meine Beine bewegten sich von alleine. Schritt für Schritt ging ich stumm an seiner Seite. Unabhängig ob ich das wollte oder nicht.
“Keine Sorge, mein Sohn wird in Kürze wieder normal sein, falls daher dein Unbehagen herrührt.” Ich behielt den Blick starr nach vorne gerichtet und wusste nicht, ob ich über diese Aussage lachen oder weinen sollte. Sein Normal war sicherlich nicht das, was ich darunter verstand. “Kein Wort? Jetzt wo ich dir zu sprechen gestatte, ist dir die Lust vergangen?“
“Ja”, erwiderte ich automatisch und war dann doch überrascht, dass es ging. “Welchen Sinn hat es schon, mit Euch zu reden? Wenn es Euch nicht passt, nehmt Ihr mir sowieso wieder die Stimme.”
“Solange es nicht etwas Dummes oder Respektloses ist, kannst du frei deine Meinung äußern.”
“Ach ja?” Wütend ballte ich meine Hände zu Fäusten und sah ihn an. “Gar nichts durfte ich äußern! Allein die von Euch vorgegebenen Sätze. Ich hatte Reznick so viel sagen wollen ...” Allen voran, dass es mir leidtat.
“Alexander.”
“Hm?”
“Er heißt Alexander.” Ich schnaubte abfällig und sah nach vorne.
“Ist dass wirklich das Einzige, was Ihr dazu zu sagen habt? Gott, selbst jetzt kontrolliert Ihr noch immer meine Beine! Und falls es Euch nicht aufgefallen ist, er selbst will nicht so genannt werden.”
“Es ist irrelevant, was mein Sohn will. Durch diesen Namen ist er mir zugeordnet. Den anderen Namen hat er von seiner Mutter, warum sollte dieser eine größere Gewichtung haben, als der von mir ausgesuchte? Und was das andere angeht ...” Mein Körper hielt plötzlich an.
“Ahh! O Gott, bitte nicht!” Er hob mich in einem Ruck hoch.
“Kein Beeinflussen mehr.” Leicht drückte er mich gegen seine Brust. “Ich wollte nicht, dass du dich den Weg über zierst und uns damit unnötig aufhältst.” Er setzte den Weg mit schnellen Schritten fort. “Auch wären unpassende Äußerungen in Anwesenheit meines Sohnes wenig förderlich bei seiner Stabilisierung gewesen.” Er sagte das zwar in einem freundlichen Ton und auch, wie er mich auf seinen Armen hielt, war alles andere als grob oder unsittlich, dennoch raste mein Herz wie verrückt. Ich konnte im Moment nicht gelassen auf seine Nähe reagieren. Nein. Völlig unmöglich.
“Scheint dir auch nicht zu gefallen, von mir getragen zu werden, wie?”, fragte er nach einer Weile amüsiert und bog um eine Ecke. Im darauffolgenden Gang kam nun ein großer Torbogen zum Vorschein, der statt einer Tür, eine Wand aus blassgelbem Licht besaß. Prompt verspannten sich meine Muskeln. Ich bezweifelte, dass dies etwas Gutes für mich zu bedeuten hatte.
“Nein. Keine Angst. Es ist eine Lichtschranke. Sie wird uns nur reinigen.” Er hielt unbeirrt darauf zu, während ich mich in seinen Armen immer kleiner machte. Ich traute ihm nicht. Zum Glück passierte jedoch nichts Schlimmes. Das Licht erzeugte lediglich ein kurzes Kribbeln auf der Haut und nahm tatsächlich sämtliches Blut von mir. Nichts klebte mehr oder war feucht. Auf dem Weiß und Blau meiner Kleidung blieb nicht einmal die kleinste Verfärbung zurück. Erstaunlich.
“Na? Siehst du, alles noch an dir dran”, sprach er belustigt und schritt weiter. Ich fand das jedoch weniger amüsant und wollte dies auch kundtun, vergaß jedoch beim Anblick des Saals vollkommen, was ich sagen wollte. Die Decke sah so aus, als wäre ein waschechter Himmel über uns! Ich konnte die Sonne sehen, die entweder auf oder unterging, und an einzelnen Stellen funkelten schwach die Sterne durch dieses unglaubliche orange-blaue Farbenmeer. An den Wänden zog sich dieses Bild weiter, wechselte nach unten hin jedoch in einen violetten Ton und vermischte sich dann mit Schwarz, wie es auch der Boden war. In den Ecken prangten Säulen, die leicht durchsichtig schimmerten und ringsherum von brennenden Kerzen verziert wurden. Dieser Raum schrie regelrecht nach etwas Göttlichem. Verstärkt wurde das ganze noch durch eine lange gedeckte Tafel, die ganz aus Glas zu bestehen schien und allerlei bunte duftende Speisen beherbergte, die man stellenweise zu kleinen Figuren aufgetürmt hatte. Es war wunderschön, faszinierend und einfach nicht von dieser Welt.
“Du wirst hier sitzen.” Reznicks Vater ließ mich runter, zog in der Mitte einen der schmalen gläsernen Lehnstühle zurück und deutete mir mit einem freundlichen Lächeln, Platz zu nehmen. Verwirrt runzelte ich die Stirn, hinterfragte das Ganze aber nicht. Soweit kannte ich ihn schon, dass er mir dabei keine Wahl ließ. Es spielte keine Rolle, ob ich hier sein wollte oder nicht.
“Gut.” Er setzte sich direkt neben mich. “Fühle dich frei, zu essen. Falls du etwas Spezielles wünschst, sag es bloß und es wird angerichtet.” Unschlüssig beäugte ich die Fülle an Lebensmitteln. Mir war nicht nach etwas zu essen. So überhaupt nicht. Ich wollte im Moment eigentlich nur allein sein. Allein und in Ruhe über das Erlebte nachdenken. Oder doch lieber zurück zu Reznick und mit ihm sprechen? Ich war mir selbst nicht klar darüber, was ich wollte. Einerseits hatte mich sein Zustand zutiefst verstört und dann doch wieder nicht.
Wie ich so vor mich hinstarrte, kam plötzlich Bewegung in den Raum. Mit großen Augen verfolgte ich, wie sich der Tisch drehte – oder gleich der ganze Boden? Nervös krallte ich mich an die Armlehnen meines Stuhls. Dass sich alles bewegen konnte, war absolut unheimlich. Auch die vollkommene Stille dazu. Es gab kein mechanisches Geräusch oder Ähnliches.
Ängstlich blickte ich zur Seite und sah, dass das Monster davon gänzlich unbeeindruckt blieb. Gelassen ließ er seine Finger über einem roten Symbol kreisen, das auf der gläsernen Oberfläche des Tisches leuchtete und als schließlich der Torbogen vor uns auftauchte, erkannte ich den Sinn dahinter. Ich schluckte. Immenses Unbehagen rauschte durch meinen Körper. Er hatte den Raum einmal komplett gedreht, damit die lange Tafel uns von Reznick trennte, sobald er eintreffen würde. Ging es darum? Ihn immer noch weiter zu reizen? Ich bezweifelte nämlich, dass es ihn freuen würde, mich neben seinem Vater zu sehen, während er mehrere Meter auf Abstand bleiben musste. Mir selbst passte es jedenfalls gar nicht.
“Was habt Ihr jetzt wieder vor?” Es wirkte wie eine Bühne, auf der gleich das nächste schreckliche Schauspiel stattfinden würde.
“Kannst du das etwas weiter ausführen?” Eifrig schnappte er sich verschiedene Speisen und befüllte seinen Teller.
“Das hier!” Ich deutete verärgert nach vorne zum Torbogen. “Euer Sohn ... Warum könnt Ihr nicht damit aufhören? Er hasst Euch doch schon. Es ist genug. Bitte.”
“Ich fürchte, ich kann dem nicht ganz folgen.” Er warf mir einen fragenden Seitenblick zu, bevor er Etwas, das stark einem Stück Fleisch ähnelte, auf seine Gabel spießte und in einem Bissen hinunterschlang.
“Das mit dem Tisch meine ich. Wenn Reznick rein kommt ... Ich mein. Wir sitzen hier und er wird auf der anderen Seite Platz nehmen und ...” Irgendwie war mir das unangenehm, aussprechen zu müssen, dass ich nicht bei ihm, sondern bei seinem Sohn sein wollte.
“Und was?” Er lächelte und verspeiste den nächsten Happen. “Mal davon abgesehen, dass er immer noch Alexander heißt, was stört dich? Dass ich den Tisch gedreht habe? Ich möchte mich lediglich nicht die ganze Zeit auf die Anwesenheit meines Kindes konzentrieren müssen und ich war zu faul, einmal mit dir herumzulaufen. Reicht das als Antwort?”
“Ich ... will nicht bei Euch sein.” Er lachte, schenkte sich etwas zu trinken ein und tat selbiges auch bei meinem Glas.
“Lässt sich aktuell nicht ändern. Du bleibst an meiner Seite, bis ich davon überzeugt bin, dass mein Sohn sich unter Kontrolle hat. Es dient allein deiner Sicherheit und glaube mir, meine Pläne sahen ursprünglich auch anders aus. Aber es ist, wie es ist. Keiner bekommt das, was er will.” Das Letzte äußerte er frustriert und niedergeschlagen, wodurch er wieder so unheimlich normal wirkte. Menschlich. Verletzlich. Aber leider halfen mir diese Worte wenig. Ich konnte nicht erkennen, was er Ernst meinte und was davon Manipulation war. Ich hatte große Zweifel, jemals bei ihm sicher zu sein. Bisher war schließlich jeder Schrecken irgendwie von ihm selbst in die Wege geleitet worden.
Unruhig starrte ich auf das Licht beim Durchgang und suchte dahinter nach einem Anzeichen von Reznick. Wie lange würde es noch dauern bis er kam? Was, wenn er zusammengebrochen war – sich immer noch nicht bewegen konnte? Oder nicht herfinden würde? Es hatte immerhin etliche Abzweigungen gegeben. Viele Türen. Und dann waren da ja auch noch die weißen Wände, die plötzlich auftauchen konnten. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Möglichkeiten fielen mir ein, was sein Vater alles gemacht haben könnte. Gott, Reznick würde uns nie finden.
“Iss etwas.” Auf meinem Teller landete eine saftige hellblaue Scheibe, von der ich nicht sagen konnte, ob es tierisch oder pflanzlich war. “Dein Körper hat viel Energie verbraucht. Mein Blut hat dich zwar geheilt, aber trotzdem solltest du reichlich essen und trinken.” Mit einer langen Zange tat er sich ebenso auf, hielt dann jedoch inne und zog sich gleich das ganze Tablett heran, um davon zu essen. Seinem Schlingen nach zu urteilen, schien er am Verhungern zu sein. Mir selbst knurrte zwar auch der Magen, aber immer wenn ich mich dazu entschloss, etwas zu mir zu nehmen, kamen die Erinnerungen zurück. Bei Reznicks verzweifeltem Gesichtsausdruck und seinem monströsen Äußeren verging mir sofort sämtlicher Hunger.
“Das ...” Mir blieben die Wörter im Halse stecken. “... alles so schrecklich.”
“Mhm hm?” Das Monster hörte auf, wahllos etwas in sich hineinzustopfen, schluckte geräuschvoll und sah mich fragend an. “Ich erwähnte doch bereits, wenn das nicht nach deinem Geschmack ist, dann sag, was du willst. Tyschka kann fast alles herstellen. Derart simple Lebensmittel, wie die aus Rotterval, sowieso.”
“Ich meine nicht das Essen!”
“Dann, meine Liebe, solltest du endlich lernen, dich verständlich auszudrücken.”
“Ich spreche von Reznick ...” Sein Blick verfinsterte sich. “Gott, ja, ich mein Alexander!” Ich raufte mir die Haare. ”Wie könnte Ihr nur so sein? Habt Ihr das vorhin schon völlig vergessen? Ist Euch das alles egal? Habt Ihr Euren Sohn nicht gesehen? Wie entsetzt und ...” Seine Gesichtszüge wurden schlagartig weicher.
“Mir ist bewusst, wie das auf dich gewirkt haben muss, aber sei versichert, ich habe es gesehen. Ich habe alles gesehen. Mehr als du je sehen könntest, und ich werde mir diesen Vorfall, im Gegensatz zu dir, auch noch unzählige weitere Male ansehen. Ich werde die Aufnahmen analysieren. Studieren. Jede noch so kleine Regung kategorisieren. Seine, wie auch deine. Und ich werde meine Schlüsse daraus ziehen. Für kommende Anfälle oder für andere Elementare in einem ähnlichen Stadium der Instabilität. Ich gewinne also sehr viel aus dieser Begegnung, um dergleichen zukünftig verhindern zu können. Was jedoch wirst du lernen?” Er griff lachend nach seinem Glas und schwenkte es langsam. “Was wirst du tun, wenn so etwas noch einmal passiert und ich nicht da bin, um ihn zu bändigen? Wirst du schreiend um Hilfe rufen? Weinen?” In einem Zug leerte er das Getränk und sah mich erwartungsvoll an. “Oder lieber ängstlich in einer Ecke kauern?” Meine Stirn legte sich in tiefe Falten. Er hatte damit nicht ganz unrecht. Ich hätte nichts machen können, oder? Mit Eis vielleicht? Würde das funktionieren? Was wenn wir uns gegenseitig verletzten oder – gar töten würden? Nein. Daran wollte ich nicht denken. Er wollte mich nur wieder verunsichern. Ich sollte an Reznick zweifeln, aber das tat ich nicht.
“Es ist richtig, dass ich von all dem hier keine Ahnung habe ...” Ich schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch. “Aber ich vertraue Rez– Alexander. Er hätte mir nichts getan und überhaupt wäre es ohne Euch gar nicht erst soweit gekommen!” Davon war ich fest überzeugt. Er hatte mir, wo wir die kurze Zeit zusammen waren, ja auch nichts angetan.
“Vertrauen?” Er schüttelte amüsiert den Kopf. “Das sind Worte. Leere Worte. Wenn er sich nicht im Griff hat, könnte er dich töten, unabhängig ob er es will oder nicht. Verstehe mich nicht falsch ... Es freut mich, dass du in der Tat sein Bindungsstück bist. Mein Sohn hatte bisher noch nie so schnell zu sich zurückgefunden und dafür danke ich dir. Jedoch ...” Sein Blick wurde emotionslos. “Nehmen wir Elian zum Beispiel. Er ist ein lieber Junge, durch und durch, aber auch er hat seine Partnerin verletzt, verstehst du?”
“Es ist mir egal, was Ihr sagt.” Mein Entschluss stand fest. “Bei Elian kann ich mir nicht einmal wirklich vorstellen, dass er zu etwas wie Wut fähig wäre. Es ist natürlich schrecklich, wenn das stimmen sollte, aber es ändert immer noch nichts daran, was ich für Reznick empfinde.” Ich hörte bei dieser Sache auf mein Herz. “Ich mag ihn ...”, kam es mir flüsterleise über die Lippen. Plötzlich war mir das unfassbar peinlich. Warum hatte ich das bloß gesagt? Den Monden sei Dank, dass ich das Wörtchen Liebe nicht ausgesprochen hatte. Reznick und ich kannten uns schließlich gar nicht und ich wusste auch nicht, wie er dazu stand und – Gott! Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten.
Mit heißem Kopf blickte ich auf meinen Teller. Erst jetzt fiel mir noch etwas ganz anderes auf. Ich hatte es längst als selbstverständlich erachtet, als Reznicks Partnerin bezeichnet zu werden. Auch die Sache mit dem Bindungsstück hatte ich nicht hinterfragt. Vielmehr fühlte sich etwas in mir geschmeichelt davon, derart wichtig für sein Leben zu sein.
“Na? Ist es dir auf einmal unangenehm, die Frau meines Sohnes zu werden?” Das Monster lachte, weshalb ich mich gleich noch mehr schämte. Frau. Ja, das waren all diese Dinge. All seine Anspielungen. Er wollte mich als Frau für seinen Sohn. Lenkte und Manipulierte mich gezielt in diese Richtung. So ein Blödmann.
“Das habt Ihr nicht zu entscheiden.” Hatte er definitiv nicht! “Wenn dann wäre es ... Ach egal!” Ich wollte dieses Thema auf keinen Fall weiter mit ihm bereden. Es ging ihm schlicht und ergreifend nichts an.
“Es wäre eine Sache zwischen dir und meinem Sohn, stimmt’s?” Erneut ein Lachen. “Aber ja. Natürlich. Allein eure Entscheidung.” Er widmete sich wieder seinem Essen, wofür ich ehrlich dankbar war. Ich selbst schnappte mir mein Glas und zog es näher. Die gelbe Flüssigkeit darinnen roch süßlich und erinnerte stark an ein Fruchtsaft. Nach einigem Zögern trank ich das Zeug letztlich, weil mein Mund fürchterlich trocken war und ich unbedingt den Kloß in meinem Hals loswerden wollte. Es schmeckte überraschend köstlich und erfrischend.
“Brav.” Kaum das ich es abgestellt hatte, füllte er mir nach. “Es hätte keinen Sinn, dich zu vergiften, wenn das der Grund für deine Zurückhaltung ist.” Zusätzlich zu dem Trinken schaufelte er einige kleine rundliche dunkle Kugeln auf meinen Teller, obwohl ich noch nicht einmal das blaue Ding angerührt hatte. “Iss, Kind. Und frag. Frag mich, was du willst.” Den Rest tat er sich selbst auf und fing sofort an zu essen.
“Fragen?” Er schluckte einen Happen hinunter, bevor er das nächste Stück auf seine Gabel spießte und auf mich deutete.
“Ja. Fragen. Dir missfällt meine Form der Erziehung, aber wenn ich dir die Wahl lasse, kommt auch kein Ton.” Die komische Kugel landete in seinem Mund und ohne zu kauen, schluckte er es hinunter. “Mein Sohn ist ein Rea. Du bist aus dem einfachen Sklavenvolke. Fragst du dich nicht, warum es diese Einteilung gibt? Warum sind die einen Götter und die anderen dummes Vieh? Dann das mit den Elementaren und die dazugehörigen Fähigkeiten. Du hast bisher noch nicht einmal etwas Essenzielles gefragt.”
“Ich ...” War verwirrt. “Das meint Ihr die ganze Zeit mit erziehen? Ihr wollte mir etwas über die Welt beibringen?” Oder verstand ich ihn jetzt falsch?
“Selbstverständlich. Was hast du angenommen?”
“Ihr sagt immer erziehen und tut auch so, als wolltet ihr mich wie ein Tier abrichten!” Er sah mich wieder so an, als wüsste er nicht, wovon ich redete.
“Es heißt ja auch erziehen. Unwissende und Niedere werden schon immer erzogen. Heißt bei euch doch auch nicht anders. Kinder erzieht man.” Ein zweites Stück landete auf seinem Besteck, mit dem er anschließend einige Kreise in der Luft zeichnete. “Wie dem auch sein. Deine sonderliche Wahrnehmung gegenüber meinen Worten sei mal dahingestellt. Was ist denn jetzt? Interessiert es dich nicht, wie groß zum Beispiel der Altersunterschied zwischen dir und meinem Sohn ist? Oder wozu es Städte wie Rotterval gibt? Dann gibt es da noch Dinge wie Sistek, das eure Geburten reguliert. Eben Fragen, die die Welt betreffen und wo dein Platz darinnen ist. Alternativ kann ich dir noch die möglichen Besonderheiten beim Geschlechtsverkehr zwischen Bindungsstücken aufzählen. Da sollte man nämlich einiges beachten, besonders beim ersten Mal. Also falls du und mein Sohn euch nachher gleich vereinigen wollt.” Gott, war mir das peinlich. Kam gar nicht in Frage, dass ich mit ihm darüber redete!
“Warum sollte ich Euch irgendwas davon fragen?” Ich war doch nicht dämlich. “Woher soll ich wissen, was von Euren Antworten die Wahrheit ist? Was eine Lüge oder bloß ein Spaß?” Ich deutete verärgert auf meinen Halsreif. “Ihr belügt mich doch sowieso, wie es Euch gerade passt. Selbst bei so einfachen Dingen wie das mit dem Schlüssel.” Er hob eine Augenbraue.
“Was soll mit dem Schlüssel sein?”
“Jetzt fragt nicht so dumm! Ihr wisst genau –”
“Vorsicht.” Sein Blick wurde gefährlich. “Nicht in diesem Ton. Also. Was ist jetzt mit dem Schlüssel?” Ich schluckte meine Wut hinunter und atmete einmal tief durch.
“Es war nicht der richtige und das wisst Ihr auch ganz genau. Ihr habt mich reingelegt.”
“Unsinn.” Er streckte mir die Hand entgegen. “Gib ihn mir mal. Ich habe extra ein simples Schloss für dich verwendet ... Wie konntest du damit Probleme haben?”
“Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe Euch damit beworfen und –”
“Genug.” Er machte eine abfällige Geste. “Das fängt an mich zu langweilen. Tyschka? Bring mir den Schlüssel, denn ich für Henriette aus meiner Essenz erstellt habe.”
⫷Einen Moment, bitte.⫸ Da war wieder diese komische Frauenstimme, die von überallher zu kommen schien. Unheimlich. Ebenso wie die Rea-Technik, die kurz darauf aus dem Boden fuhr. Es sah aus wie ein metallener Greifarm, der besagten Schlüssel tatsächlich bei sich hatte und auf den Tisch neben dem Monster legte.
“Hm ...” Er beäugte ihn. “Die Spitze ist abgebrochen. Wie auch immer du das geschafft hast.” Ich wollte gerade dazu ansetzen, dass er das mit seiner Folteraktion wenn dann selbst gewesen war, verkniff es mir aber, als er buchstäblich einen neuen aus seiner Haut wachsen ließ. Ekelhaft. “Da.” Er legte sein fertiges Werk neben meinen Teller. Sofort nahm ich es an mich und hantierte damit am Schloss herum. “Darf ich vielleicht noch zu Ende essen, bevor du alles einfrierst?” Es machte leise Klick, was mich erleichtert aufatmen ließ. Ich konnte mich also jetzt wirklich jederzeit selbst befreien. Das fühlte sich gut an.
“Ja, ich ... lass es dran.” Wenn auch äußerst ungern, aber sein strenger Blick sprach Bände. Wenn ich es jetzt abmachen würde, hatte ich im Nu ein neues von ihm um. Kein Zweifel.
“Zu gütig.” Er schnappte sich ein Stück Brot und aß auch umgehend weiter. Wie konnte er immer noch hungrig sein? Er hatte mittlerweile bestimmt so viel gegessen, wie eine ganze Familie. Und das Schlimmste, ich bekam selbst immer stärkere Lust auf diese duftenden Speisen.
Langsam griff ich nach dem Besteck und schnitt vorsichtig ein Stückchen von dieser hellblauen Scheibe ab. Die Beschaffenheit war eine Mischung aus weich und fest. Außerdem sehr saftig. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was das sein könnte, aber ich gab mir schließlich einen Ruck und beförderte es in meinem Mund. Und Gott, es war unbeschreiblich. Noch nie hatte ich etwas derart Leckeres probiert.
“Gut, nicht wahr?” Er lächelte mich an und nahm einen kräftigen Schluck. “Ach und ... Was mir da gerade noch einfällt. Für die Zukunft, je nachdem, wie das mit deiner Kontrolle laufen wird, solltest du ein Stück von dem Bleasta immer bei dir tragen. Rein zur Sicherheit natürlich. Ich kann dir ein Schmuckstück anfertigen. Eine Kette oder so, dann musst du nicht mit diesem Sklavenhalsband rumlaufen. Was meinst du?”
“Ich weiß nicht. Es ist nett ...” Mir fiel glatt die Gabel aus der Hand, als Reznick plötzlich durch die Lichtwand rannte und mich anstarrte. Sein Gesichtsausdruck sah aus, als hätte ich ihn verraten. Er war wütend und normalerweise hätte mich das beunruhigt, aber da er komplett nackt war, hörte mein Verstand irgendwie auf zu arbeiten. Gott! Das Blut rauschte in meinen Ohren und mir wurde schrecklich heiß. Warum ich so reagierte, war mir allerdings ein Rätsel. Ich hatte ihn doch bereits nackt gesehen, da war nichts dabei! Verdammt. Es half alles nichts. Ich musste den Blick abwenden.
“Schön, dass du endlich da bist, Alexander. Setz dich doch.”
“Lass den Scheiß!” Ja, er klang ziemlich wütend. “Ich will Dezeria haben. Sofort!” Gott, warum war mir das auf einmal so peinlich?
“Erst essen wir gemeinsam. Und reden. Danach dürft ihr gerne zusammen sein. Sofern, du dich beherrschen kannst.”
“Ich habe keine Lust auf deine beschissenen Spielchen! Ich sagte, ich will –”
“Und ich sagte, du wirst dich setzen. Hier bestimme immer noch ich die Regeln.” Besorgt sah ich auf. Sah, wie Reznick zitterte, weil ihn sein Vater dazu zwang, auf einem der Stühle uns gegenüber Platz zu nehmen. “So ist es brav. Ist doch nichts dabei, gesittet an einem Tisch zu sitzen, oder?” Ich schnaufte genervt und sah zu dem Monster.
“Jetzt hört doch bitte einfach auf damit. Euer Sohn hasst Euch und solange wir hier sind, wird sich das bestimmt nicht ändern.” Vor allem nicht, wenn er dabei so doof lächelte wie jetzt,. Dabei tat ich mir selbst schwer, ihn nicht zu hassen.
“Ganz wie die Dame es wünscht.” Zufrieden wandte er sich den Speisen zu, während mein Blick entschuldigend zu Reznick ging.
“Bitte mach es nicht schlimmer.” Was Besseres fiel mir nicht ein, aber ich wollte wenigstens irgendetwas sagen, damit er sich beruhigte.
“Geht es dir gut? Hat er dir was angetan? Was verabreicht?!” Seine Augen funkelten immer noch so unheilvoll silbern.
“Mir ist nichts passiert.” Sofern man das so nennen konnte. “Wir haben nur auf dich gewartet.” Zumindest das war eine unverfängliche und harmlose Wahrheit. Reznick sah allerdings nicht wirklich erfreut darüber aus. Vielleicht glaubte er mir nicht, was ich ihm nicht einmal verübeln konnte. Gott, hoffentlich beendete sein Vater dieses Theater so bald wie möglich. Oh, bitte, bitte!