⊶Hekas Sicht⊷
Gedankenversunken stand ich neben Elians Krankenbett und wartete darauf, dass Tyschka alles Stoffartige wechselte, sowie ihn reinigte, weil er sich eingenässt hatte. Es tat mir weh, ihn in ihren Greifarmen so leblos hängen zu sehen. Verletzlich. Hilflos. Es erinnerte mich sehr an unsere erste Begegnung. Er war nichts weiter als ein Spielzeug für diese widerliche Rea gewesen. Sie hatte sich daran ergötzt, ihn leiden zu lassen. Ihn zu brechen. Wie man sich an Misshandlungen derart erfreuen konnte, war mir ein unbegreifliches Rätsel. Egal wie oft ich es in meinem Geist abspielte oder darüber nachdachte. Ich fand nie eine Antwort darauf.
Auch jetzt verstand ich einfach gar nichts. Warum hatte Leopold ihm das angetan? Er hatte doch gewusst und selbst miterlebt, wie geschädigt Elian in diesem Bezug war. Passierte das immer in meiner Abwesenheit? Vielleicht schon unzählige Male? Seit Jahren? Jahrtausenden? Meine Schaltkreise glühten aufgrund dieser Überlegungen. Die Fragen liefen jedoch ins Leere. Endlose Berechnungen, die mir trotz all meiner Bemühungen kein neues Wissen offenbarten, sondern lediglich meinen Verstand überlasteten. Einen Sturm in mir auslösten.
Ebenso wie die vielen neuen Informationen, die mir Leopold aufgezählt hatte. Da gab es noch ein Kind? Hendrickson, der ein paar Minuten jünger als Reznick sein sollte? Und dann noch eine eigenständige KI mit dem Namen Ikathe? Irgendwas schien daran vertraut, aber gleichzeitig unwirklich. Ich war mir sicher, dass ich diesen Namen schon einmal in meinem System gelesen hatte, fand nun jedoch keinen Eintrag dazu. Um präziser zu sein, existierte da im Moment nichts Brauchbares in meinem ganzen Sein. Ich schaffte es weder, den neu gewonnenen Zahlenhaufen zu sortieren, noch damit auch nur irgendetwas Sinnvolles anzustellen. Ich konnte dieses Wirrwarr schlichtweg nicht verarbeiten und je länger ich über das Gesagte nachdachte, desto schlimmer wurde es.
Meine Essenz spielte verrückt und doch konnte ich sie nicht blindlings aus mir ausbrechen lassen. Ich durfte mir keine Erleichterung verschaffen. Musste mich zügeln. Unterdrücken. Einengen. Verstümmeln. Es musste sein. Auf einem Schiff war das grundsätzlich zu riskant und auch direkt neben Elian viel zu gefährlich. Aber auch wieder etwas, das mich zusätzlich belastete. Ich bestand nur noch aus reinem Chaos und hatte keine Ahnung, wie ich dem Herr werden konnte.
WAS sollte ich bloß WIE in meinen Inneren priorisieren? Seit Reznicks Geburt hatte er immer an höchster Stelle gestanden. Dezeria hatte ich danach eingeordnet, weil sie für ihn sehr wichtig war. Als Nächstes Johanna und dann Zerian. Aber jetzt? Wie sollte ich Hendrickson einordnen? Er war auch mein Kind. Ein Teil von mir. Gleichzusetzen mit Reznick, obwohl ich ihn nicht kannte und keinen Bezug zu ihm hatte. Also war sein Platz zwischen Reznick und Dezeria, oder? Darüber? Darunter? Aber er müsste doch ebenso an oberster Stelle stehen, oder? Ich war ratlos. Die Situation war gleichzusetzen, aber genau das war für mich unmöglich. In meiner Tabelle gab es nun einmal keine Spalte, in der zwei Personen auf einmal stehen konnten. Das ging nicht. Nichts konnte zugleich bearbeitet werden. Immer eins nach dem anderen.
Mein Wertesystem hatte mir bis heute immer gute Dienste geleistet und die Welt sowie meine Entscheidungen vereinfacht. Nun jedoch? Während ich Elian so verloren anstarrte, fiel mir gleich noch ein weiterer Konflikt auf. Warum war er auf Platz 86? Und Suciu auf 87? Zerian und Johanna kannte ich bedeutend weniger und hatte sie dennoch deutlich darüber positioniert. Warum? Weil ich während des Spiels nicht mein volles Wissen gehabt hatte? Und was machte ich nun, wo ich mir dessen bewusst war? Alles neu aufsetzen? Aber. Nach welchen Kriterien entschied ich dann? Wie konnte ich es für alle gerecht machen? Mit welchem Algorithmus fühlte ich mich selbst besser und erlitt keine Selbstzweifel?
Ich fand keine Lösung. Nur Fehler. Es wurden immer mehr Fehler, ohne dass ich es verhindern konnte. Meine Gedankengänge wurden spürbar langsamer und als ich schließlich ohne irgendwelchen relevanten Daten auch noch mit Spekulationen anfing, warum Leopold Dezeria und Hendrickson nackt in einem Zimmer zusammengebracht hatte, legte ich einen Schalter um. Ich hörte einfach auf, darüber nachzudenken. Das tat mir nicht gut. Nicht jetzt zumindest. Es war zu viel. Ein Zuviel von allem.
Vollkommen frei von diesen ganzen ungreifbaren Dingen, konzentrierte ich mich wieder auf das, was ich in diesem Augenblick beeinflussen konnte. Was in dieser Sekunde wichtig war. Elian. Tyschka hatte die letzte Tätigkeit an ihm beendet und seinen Körper sanft zurück auf das frische Laken gelegt. Behutsam krabbelte ich sofort zu ihm ins Bett und setzte mich an seine Seite, um ihm Nähe zu schenken. Die würde ihm helfen, falls sein Verstand zu großen Schaden genommen hatte.
“Du solltest besser Abstand halten”, sprach Leopold mahnend und erinnerte mich damit unweigerlich daran, dass er auch noch da war. Oder besser gesagt, einer dieser blöden Kopien. “Er kennt diesen Körper von dir nicht und erschreckt sich höchstwahrscheinlich, sobald er aufwacht.”
“Ach, und wessen Schuld ist das?” Ich hatte ihn weiter ignorieren wollen, aber es ging nicht. Seine Worte machten mich wütend. “Ich habe ihn schon einmal gerettet, das hier ist jetzt nicht anders!”
“Doch. Ist es. Wenn er vor Panik seine Essenz eingesetzt hat, dann ...” Mein zorniger Blick bohrte sich in seine Augen und brachte ihn umgehend zum Schweigen. Das, oder die vielen kleinen kreischenden Blitze, die über meine Hülle huschten. Schnell zog ich meine freischwirrende Essenz in die linke Hand zusammen, möglichst weit weg von Elian, und war danach kurz versucht, den entstandenen Kugelblitz auf Leopold zu hetzen. Seine Kopie würde dem nichts entgegenzusetzen haben und es störte mich ohnehin, dass er dort drüben in dem Sessel so seelenruhig saß und uns beobachtete.
“Tu es”, sprach er mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht, als ich länger zögerte. So reagierte er immer, wenn wir an solch einem Punkt angekommen waren. Was mich zusätzlich ärgerte, aber dann auch wieder schlagartig beruhigte. Er wollte mit mir spielen, ich aber unter keinen Umständen mit ihm. Nicht nach dem, was er getan hatte. Und sonst natürlich auch nicht!
“Du kannst dich auch ohne mein Mitwirken in einen Haufen Kristallstaub verwandeln.” Genervt von ihm sah ich auf meine Hand und zwang die Essenz, sich wieder zu zerstreuen. Dabei kam ich nicht umhin, meinen Körper zu bewundern. Trotz der hohen Spannung war nichts in meinen Schaltkreisen durchgeschmort. Die Puppe hielt tatsächlich meine Launen aus. Überraschend erfreulich. “Außerdem will ich immer noch Hendrickson sehen und Reznick sowie Ikathe.” War die Reihenfolge so in Ordnung? “Auch Dezeria, Johanna und Zerian.” Wenigstens bei den dreien war ich mir mittlerweile halbwegs sicher. “Suciu hast du hoffentlich nicht denselben Schrecken bereitet und es geht ihr gut ...” Ich sah wieder zu ihm. “Oder muss ich auch nach ihr sehen?” Würde ich so oder so machen, aber das hatte keine Eile. Die anderen gingen vor. Irgendwie. Wobei. Warum? Ich wusste von keinem etwas Genaueres und es fühlte sich plötzlich nicht richtig an, eine Rangordnung unter ihnen zu haben. Ihre Leben in Zahlen zu fassen. Was eigenartig war. Ich hatte ewig nur so funktioniert, aber nun konnte ich nichts davon mit mir selbst vereinbaren. Lag das an dieser Hülle? Hatte ich mich nicht vollständig mit ihr verbunden oder war ein Fehler aufgetreten, den ich nicht mitbekommen hatte?
Erleichtert über diese Möglichkeit, wühlte ich mich durch das System. Es musste hier etwas geben, womit sich meine Unschlüssigkeit und Zweifel begründen ließen. Eine fehlende Einstellung, unlogische Verknüpfungen oder ein unsauberer Steuerungscode. Irgendetwas. Leider fand ich nichts Auffälliges. Da gab es mich, meine Essenz, diesen Körper und noch immer diesen Haufen wirrer ungenutzter Daten, die immer mehr zu werden schienen. Warum?
Es frustrierte mich. Überforderte mich. Vielleicht sollte ich einen Neustart durchführen und erstmal nur das Laden, was wichtig war – was meine Existenz bisher eine feste Richtung und ein Lebensziel gegeben hatte. Reznick. Aber kaum dachte ich an ihn, kam da wieder Hendrickson mit dazu und – Hilfe, meine Gedanken drehten sich im Kreis. Warum gab es da nicht nur Reznick, der mir wichtig sein konnte? Warum gab es da jetzt so viele andere?
Auf einmal meldeten die Sensoren eine Berührung an meiner Schulter und verwirrt darüber drehte ich den Kopf. Leopolds seelenloser Abklatsch stand neben mir und sah mich besorgt an. Wann war er aufgestanden und hergekommen? War ich so abgelenkt gewesen, dass ich es gar nicht mitbekommen hatte? Und warum in aller Welt lag seine Hand auf mir?
“Fass mich nicht an!” Ich schlug nach ihm. Seine Kopie konnte ich nicht ausstehen und das wusste er auch ganz genau. Es gaukelte mir seine Nähe vor, obwohl er nicht hier war. Dieser Körper – nur eine Hülle, so wie ich eine besaß und doch störte es mich bei ihm so unglaublich stark, dass es meine Essenz aggressiv machte. Die Luft zum Knistern brachte.
“Entschuldige.” Er schritt zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. “Du hast nicht auf meine Worte reagiert.”
“Welche Worte?” Hatte ich ihn etwas gefragt oder er mich? Da war im Moment ein zu großes Durcheinander in meinem Verstand, um schnell selbst auf die Antwort zu kommen. “Wiederhole es.” Ja, das war leichter.
“Ich habe gesagt, dass du unsere Kinder zu gegebener Zeit sehen kannst, ebenso die anderen. Was Suciu angeht, befindet sie sich in ihrem Zimmer und ist wohlauf. Sie fragt nach Elian, das ist aber auch schon alles.”
“Redest du gerade mit ihr? Stell mir einen ViDl her, ich will selbst mit ihr sprechen.” Behaupten konnte er schließlich alles möglich. Ich traute ihm nicht.
“Nein.” Er musterte mich eindringlich.
“Nein? Wieso nein?” Fragend sah ich ihn an.
“Erst wirst du dich mit meinem Modifikator beschäftigen und danach bekommst du, was du willst. Tyschka? Das Ydel.” Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern, worauf ein Greifarm aus der Decke fuhr und ihm ein äußerst schlankes Tablet gab. “Hier. Ich will, dass du dich jetzt damit beschäftigst.” Er reichte es mir.
“Auf keinen Fall!” Ich verschränkte die Arme. “Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig.” Was dachte er sich dabei, mir jetzt damit zu kommen?
“Doch ist es und solange du es nicht tust, wirst du eben in diesem Zimmer bleiben.” Hatte ich da richtig gehört?
“Du würdest es nicht wagen, mich einzusperren.” Feine Blitze hüpften über meine Hülle, was er emotionslos hinnahm und das Gerät provokant neben mir aufs Bett legte. “Ich sagte, ich will das nicht!”
“Als ob du wüsstest, was du im Moment willst. Oder brauchst.” Unbekümmert drehte er herum und ging zu seinem Sessel zurück. “Ich spüre deine Unruhe. Du bist durcheinander, was meine Schuld ist. Es war ein Fehler, dir das alles auf einmal zu erzählen.” Er lehnte sich zurück, überschlug die Beine und legte seine Hände in den Schoß. “Ich bestimme den Ablauf. Ich entscheide über die Reihenfolge. Du brauchst dir also keine Gedanken machen, wen du wann sehen wirst.”
“Du hast nicht über mich zu bestimmen.” Auch wenn pure Erleichterung in mir aufkam, wollte doch ein Teil von mir nicht derart beherrscht werden. “Ich bin kein Sklave, dem du etwas vorschreiben kannst.” Zudem machte mich sein Anblick immer noch wütend. Diese leere Hülle, die ihm einfach nicht gerecht wurde. Warum hatte er nicht das Original bei mir gelassen?
“Fein.” Seine Stimme war kühl und sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. “Dann sag mir, was du als Erstes machen willst. Entscheide nur mal allein zwischen Hendrickson und Alexander.” Verwirrt starrte ich ihn an. Das war gemein. Früher hätte ich, ohne zu zögern, Reznick gewählt – aber nun? Es ging nicht. Sein Name wollte mir einfach nicht über die Lippen kommen.
“Du kannst es nicht. Das habe ich mir schon gedacht.” Ein Seufzen erklang. “Ich will dich nicht einschränken oder einsperren und das weißt du auch. Du hast alle Freiheiten und bekommst jederzeit alles, was du willst, solange es dir nicht selbst schadet. Im Gegensatz zu dir passe ich nämlich immer auf dich auf und achte genauestens auf deine Instabilität.” Er schloss die Lider. “Im Augenblick besuche ich Hendrickson und erzähle ihm von dir. Er wird der erste sein, den du besuchen wirst. Wer jedoch als Nächstes drankommt, muss sich erst noch zeigen. Ikathe ist zum jetzigen Stand nicht aus ihrer Starre erwacht. Sie braucht Zeit, um sich mit der Puppe vertraut zu machen, und Alexander soll sich nach dem erlebten Angriff erstmal orientieren. Wenn er soweit ist, wird er freiwillig von Bord kommen und je nach dem, wie er es geistig verkraftet, reden wir mit ihm gemeinsam.” Er öffnete die Augen. “Wie klingt das für dich?”
“Nach Windböen.” Anders konnte ich es nicht beschreiben. Einerseits war es schön, sich fallen zu lassen und diesen komplizierten Datensätzen zu entgehen. Er passte auf mich auf. Gab mir Halt. Meine Essenz schmeichelte das, aber dieses freudige Kribbeln war trügerisch. Drauf konnte ich mich nicht verlassen. Durfte ich nicht. Außerdem gab es ihm mit dieser Abfolge zu viele Möglichkeiten, etwas zu manipulieren.
“Das ist gut.” Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. “Besser als Wut oder Hass.” Ich stieß ein genervten Laut aus, gefolgt von einem Blitz, den ich bis kurz vor sein Gesicht schnalzen ließ. Er ignorierte es. Zuckte nicht einmal, obwohl ich ihn fast an der Nasenspitze berührte. Es war seltsam, dass er darauf nicht ansprang. Wenn er nicht als dumme Kopie hier säße, hätte er es sofort getan. Seine Essenz würde die meine necken. Liebevoll. Reißerisch. Verlangend. Das wollte ich. Genau in diesem Moment war dieses Bedürfnis unfassbar stark und alles, was mich auszumachen schien. Die Sehnsucht nach diesem Gefühl. Nach diesen unbeschreiblichen Küssen.
“Liebste ...” Er holte einmal tief Luft. “Nur zu gerne entfache ich mit dir ein Blitzgewitter, aber ...” Sein Körper spannte sich an. Die Finger krallten sich brutal in die Armlehnen. “Es geht nicht. Nicht jetzt. Ich brauche mein Original ... an anderer Stelle. Bitte verzeih.”
“Ich verzeihe nicht, aber mach doch, was du willst. Ist mir eh egal.” Ich klang kein bisschen beleidigt. Nein. Ganz und gar nicht. Warum ärgerte mich diese Ablehnung bloß so? Und was war bitte derart wichtig, dass er nicht zu mir kam? “Ist etwas passiert?” Verschwieg er mir vielleicht was?
“Ich habe alles unter Kontrolle.” Ich musterte ihn skeptisch. Seine Haltung lockerte sich, während er die Augen schloss und sich mit einem leisen Seufzen zurücklehnte. “Konzentrier du dich bitte nun auf dich selbst. Auf dein Leben. Deinen Körper. Benutz auf dem Ydel den Modifikator. Bitte.” Er klang erschöpft, was nicht zu ihm passen wollte. Nicht mit dem Bild, das ich von ihm hatte. Er war eine Naturgewalt. Die größte Macht im Sternenmeer und doch – er sah verletzlich aus.
Unschlüssig schweifte mein Blick zwischen ihm und dem Tablet hin und her. Ich konnte seine Kopie nicht ausstehen und doch tat es mir leid, ihn so zu sehen. Er wollte, dass ich mich um mich selbst kümmerte, aber das war seltsam. Löste Widersprüche in mir aus. Viel lieber wollte ich, dass es ihm besser ging. Ich hatte plötzlich das tiefe Bedürfnis, ihn zu umsorgen. Strom flackerte durch meine Hülle. Meine Essenz spielte mir einen Streich. Wut und Zuneigung rieben knisternd aneinander. Es war anstrengend. Wieso fühlte ich mich bei ihm bloß immer wieder derart gegensätzlich? Ich durfte nichts für ihn empfinden! Das zwischen uns war nur eine künstlich geschaffene Abhängigkeit. Wann verstand meine gesamte Existenz das endlich?
Darüber nachzudenken brachte mich nicht weiter. Alles nur blanke Zahlen ohne Sinn und Verstand. Ich schnappte mir also das Tablet, zog die Beine der Puppe in einen Schneidersitz und begutachtete das Gerät. Vielleicht ging es mir besser, wenn ich einfach tat, was er von mir verlangte. Was war schon dabei?
Mit einer Hand streichelte ich behutsam Elians Köpfchen, während die andere das Ydel einschaltete. Die aufleuchtende Benutzeroberfläche strahlte in einem angenehmen Blauton. Ein freundlich wirkender Begrüßungsschriftzug erschien in der Mitte und machte anschließend dem eigentlichen Programm Platz. Gründlich analysierte ich jedes noch so kleine Detail. Der Modifikator war sehr klar und übersichtlich programmiert. Über ein ausgeklügeltes Dropdown-Menü fand man schnell in jeden Bereich, den man wollte. Jeder Schritt, war selbsterklärend. Leopold hatte sich ganz offensichtlich sehr viel Mühe damit gegeben.
Nachdem ich den grundlegenden Aufbau soweit betrachtet hatte, startete ich die eigentliche Erstellung eines Körpers. Überraschend fand ich da in der nächsten Maske bereits einen Ordner auf dem ‘Für Meekamahi’ stand. Das i-Pünktchen hatte dabei die Form eines kleinen Herzens. Sofort pulsierte meine Essenz aufgeregt. Fühlte sich geschmeichelt. Schnell klickte ich darauf, damit ich es nicht länger sehen musste – nicht länger davon durcheinandergebracht wurde. Was danach kam, machte es für mich jedoch nicht leichter. Es öffnete sich ein Verzeichnis, in dem all meine bisherigen Modelle zum Vorschein kamen. Selbst die, mit der ich vor Jahrtausenden einmal Reznick zur Welt gebracht hatte. Reznick und Hendrickson.
Gefühlte Ewigkeiten scrollte ich ohne ein bestimmtes Ziel in den Abbildungen rauf und runter. Eine davon auszuwählen erschien mir nicht richtig, andererseits traute ich mich auch nicht, eine gänzlich neue zu erstellen. Auf einen Schlag wurde das irgendwie so ernst. So endgültig. Ich war mir zwar zu jeder Zeit bewusst, dass ich einen Körper brauchte, aber – einen echten? Ich glaubte ja noch nicht einmal, dass es funktionieren würde, aber – wenn doch? Warum machte mir das Angst? Wieso brachte es jede Zahl in meinem System durcheinander und ließ einen Wirbelsturm in meinem Verstand entstehen?
Ich wollte dem entkommen. Am liebsten auf einem Planeten ausbrechen. Über die Landschaft peitschen. Es donnern und blitzen lassen. Schreien, bis mir die Stimme versagte oder meine Essenz aufgebraucht war. Aber nein. Nicht jetzt. Nie. Ich durfte nicht. Ich musste mich zügeln. Die Kontrolle behalten. Es wäre sonst zu gefährlich. Ich würde brechen. Verschwinden. Der Ursprung ...
Mein Blick wanderte zu Elian, dessen Haare durch die statische Aufladung in der Luft bereits in alle Richtungen abstanden. Konnte ich das? So sein wie er? Wollte ich das? Mich einschränken oder genauso verletzlich werden? Zu leben bedeutete auch, leiden zu können. Schmerz zu spüren. Und eben auch, irgendwann zu sterben.
Der Gedanke, für immer in ein und derselben Hülle zu stecken – einen wahrhaftigen Körper zu besitzen, schien so real und zugleich so unwirklich. Vielleicht war ich mittlerweile zu alt. Vielleicht schon zu lange in dieser Schwebe zwischen dieser Welt und dem Ursprung. Ich war mir nicht sicher. Mit nichts. Gar nichts. Ein freier Fall ohne ein Oben oder Unten.
War es das wert? Was hatte ich von einer permanenten Hülle? Zugegeben, es gab viel zu gewinnen. Kein Wahnsinn. Keine Instabilität. Ich wäre ich, so wie ich sein sollte. Ungefiltert. Eins mit Körper, Essenz und Seele. Sicherlich würde ich dann auch all die Gefühle verstehen, für die es nicht einmal Worte oder Zahlen zu geben schien. Ich könnte endlich begreifen, warum Leopold in mir immer so einen freudigen Singsang heraufbeschwören konnte. Wobei. Das war es auch, was mich abschreckte. Er hatte einen Körper und war dennoch nicht glücklich. Nie richtig zumindest. Anderen erging es ebenso. Ob nun Sklaven oder Elementare. Ich hatte viele gesehen, die diese Endgültigkeit verfluchten. Nicht selbst über sich bestimmen konnten. Ein richtiger Körper würde also nicht alles verbessern.
Langsam hob ich meine Hand vom Tablet, berührte prüfend mit den Fingerspitzen meine Lippen und blickte zu Leopold, der nach wie vor mit geschlossenen Augen in dem Sessel saß. Ich konnte mich noch immer an die Küsse erinnern. Schwach, aber doch beständig. Meine Essenz klammerte sich unlösbar an diese Erinnerungen. Das könnte ich dann immer haben, oder? In echt? Mit einem Körper? Aber – reichte das? Für mich? Für immer?