Gott! Wir sahen uns an. Lange. Sein Grinsen blieb ... genauso, wie auch meine Hand unlöslich an seiner Wange klebte. Ich traute mich nicht einmal, einen Muskel zu bewegen. Eigentlich befürchtete ich, dass er jeden Moment zurückschlagen würde – mir weh tun würde. Aber, nichts passierte ... Allein seine dunkelbraunen Augen bohrten sich in meine. Diese Intensität war schon richtig verstörend, als würde er mich gleich verschlingen wollen.
“Interessant”, sprach er schließlich amüsiert und strich langsam mit seinen Fingern meinen Arm hinauf. “Und nun, Dezeria? Wie geht es jetzt weiter, nachdem Ihr mich geschlagen habt?” Er führte meine Hand zu seinem Mund und hauchte einen Kuss darauf. Ich starrte ihn nur an und versuchte, den riesigen Kloß in meiner Kehle hinunter zu schlucken, ehe ich noch daran erstickte. “Also?”, hakte er noch mal nach und strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. “Du stehst wohl völlig neben dir, hm? Kriege ich noch eine Ohrfeige, wenn ich dich jetzt küsse?” Er beugte sich vor und war mir bereits so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte.
Gott! Würde ich ihn noch mal schlagen? Wollte er mich etwa provozieren? Sicherlich machte er das nur, damit er mich später noch stärker bestrafen konnte ... Aber, konnte er das nicht sowieso? Flüchtig ging mein Blick zur Seite, wo Hannes lag. Auf seinen toten Körper. Ich wusste nicht wie, aber ich war mir sicher, dass er ihn getötet hatte. So schnell und ohne, dass ich es mitbekam ... es glich schon Zauberei! Er könnte dies also ebenso bei mir machen. Er konnte alles machen ... Es spielte doch schon längst keine Rolle mehr, was ich wollte. Oder wer ich einmal war ... Ich war jetzt nur noch eine Sklavin. Ich war ein niemand ...
“Warum weinst du?”, fragte er besorgt klingend, brachte wieder mehr Abstand zwischen uns und wischte sanft meine Tränen fort. “Hast du Schmerzen? Los, Dezeria nun rede schon mit mir. Wir sind gerade ohne Augen und Ohren der Adligen. Du hast also keinen Grund, in solch schweigsame Starre zu fallen. Ich werde dir nichts tun”, sprach er freundlich und schnippte mir dann einfach gegen die Nase. “Hey!”, murrte ich rein aus Reflex und sah ihn strafend an. “Oho, es spricht”, neckte er mich und stand anschließend auf. Ich war nur noch verwirrt von seinem Verhalten. Er wollte mich doch gerade küssen oder war das nur ein Test gewesen? Und ... er wollte mir nichts tun? Er war nicht im Auftrag von diesem Monster hier? Konnte ich das glauben?
Verwirrt verfolgte ich, wie er Hannes’ Leiche respektlos von der Decke trat und den Stoff danach aufhob. “Du hast ihn umgebracht, nicht wahr?”, fragte ich bemüht emotionslos und sah auf meinen toten Freund. Das hatte er definitiv nicht verdient und mein Körper zitterte, als würde ich gleich einer Heulattacke erliegen. Es war meine Schuld, dass er jetzt tot war! Allein meine! Ja, Hannes hatte zwar mit mir geschlafen, aber ... er war auch der Einzige, den ich noch hatte ... und nun? Nun hatte ich niemanden mehr ...
“Jup, das habe ich wohl. Ich traf gezielt sein Herz und er starb sehr schnell. Leider auch viel zu schmerzlos. Am liebsten hätte ich ihm die Haut abgezogen”, erwiderte Mister Zopf mit deutlicher Wut in der Stimme. “Warum?”, fragte ich weinerlich. “Er ... er war mein ... Freund.” “Und? Das ist mir vollkommen gleich. Jetzt ist er es definitiv nicht mehr. Du kannst ohnehin froh sein, dass ich den Grafen, deinen Mann wohlgemerkt, nicht schon heute Mittag darüber informiert habe, dass du mit ihm Sex hattest.” “Du weißt davon?”, keuchte ich schockiert – hatte ... hatte er es etwa gesehen? “Ja”, antwortete er knapp und hielt mir die Decke auffordernd hin. “Los, steh auf. Der Boden ist kalt und du hast weder eine Hose noch Schuhwerk an. Du wirst dich noch erkälten.”
Meine Ohren rauschten. Allein der Gedanke, dass man uns dabei beobachtet hatte ... wie zuvor das ... mit dem Grafen. Gott! Sicher wieder mit dieser Technik des Adels ... er hatte es auf seiner Tafel sehen können. Ich fühlte mich plötzlich noch schmutziger, als ohnehin schon ...
“Dezeria!” Ich zuckte zusammen und blickte auf. “Los, auf jetzt”, sprach er streng und wedelte mit dem dunklen Stoff, als sollte ich aufspringen, damit er mich sofort zudecken konnte. “Verschwinde!”, schrie ich mit brüchiger Stimme und laufenden Tränen, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen oder machen sollte. Mit Hannes zu kämpfen, hatte mir jedwede restliche Kraft gekostet. Gott! Und schon nagte wieder die Schuld seines Todes an mir, genauso, wie der Hass auf mich selbst. Es war nicht in Ordnung, dass er mit mir geschlafen hatte, dass er es gerade noch einmal hatte tun wollen und doch ... er sagte, dass er mich liebte. Ich wollte doch ... Ich war völlig fertig ... und blickte schniefend zu seinem Leichnam. Mein Magen zog sich schmerzlich zusammen und noch ehe ich mich versah, neigte sich mein Oberkörper ... Ich übergab mich. Heulend. Schluchzend. Hustend. Würgend. Kurzum, ich hasste mein Leben! Hasste mich ...
“... Nervenzusammenbruch?”, hörte ich es dumpf. “... ruhig.” Wenig später, glaubte ich zumindest. Ich hätte es mir auch einbilden können. Was ich aber definitiv mitbekam ... er streichelte meinen Rücken und hielt mir auch die Haare zurück. Ich dachte nicht großartig über diese Gesten nach, dafür war mir gerade viel zu schlecht. Mit tränenverhangenen Augen keuchte ich noch eine Weile und war unendlich dankbar, als ich nicht mehr diesen Würgereiz verspürte.
“Geht es wieder?”, fragte er freundlich und hob den am Boden liegenden Wasserschlauch hoch. Er prüfte wohl erst noch, was sich darin befand und nahm einen Schluck, bevor er ihn mir reichte. “Hier trink.” Ich tat es, aber das Brennen in meiner Kehle und der bittere Nachgeschmack hielt sich beständig in meinem Mund. Fürchterlich. “Besser?”, fragte er einen Moment später, als ich nicht mehr weiter trank. Es hatte schon etwas Verstörendes, dass er sich so fürsorglich benahm. Wieso? Er war hier nicht der Gute ... Niemand war das ...
“Ich heb dich jetzt hoch, ja? Keine Panik, Dezeria.” Geschwind legte er die Decke um meine Schultern, wickelte mich darin ein und dann lag ich auch schon auf seinen starken Armen. Er trug mich vom Feuer weg – mitten in den finsteren Wald hinein. Ich schluckte und schluckte gleich noch mal. Gott! Was hatte er jetzt mit mir vor? Wo brachte er mich hin? Zu den Pferden ging es jedenfalls nicht ...
*
Schwarz. Finsternis war alles, was ich sah und alles, was uns umgab. Ich hatte solche Angst, dass ich mich auf seinen Armen schon ganz klein machte. Das Lager verschwand schon seit Minuten hinter uns und mit ihm auch jedwedes Licht. Der Zopftyp selbst hatte keine Lichtquelle bei sich und nahm noch nicht einmal Hannes kleine Öllampe mit. Er trug allein mich und stampfte unbeirrt durch die Dunkelheit. Wie konnte er überhaupt was sehen? Sah er etwa so viel besser als ich? Musste er ja, denn wir liefen kein einziges Mal gegen einen Baum oder sonst etwas.
“Wie kannst du in dem ganzen Schwarz etwas sehen? Der Mond schafft es doch gar nicht durch die Bäume”, fragte ich letztlich, weil es mich immer mehr irritierte und auch diese Stille langsam aber sicher unerträglich wurde. “Willst du das wirklich wissen? Die Antwort wird dir vermutlich nicht viel bringen.” “Bitte”, bestand ich weiter darauf, denn mit ihm zu sprechen half, dass ich mich besser fühlte. Gab mir etwas Normalität zwischen diesem ganzen Chaos. “Hm, wie erkläre ich es dir in einfachen Worten? ... Meine Augen sehen viel mehr als die der normalen Menschen. So Menschen wie dich, Dezeria. Wie in deiner Stadt. Ich gehöre zum hochrangigeren Adel. Weit höher noch, als dass es Ludwig ist. In diesen Kreisen ist es nichts besonderes, sich mit Technik erweitern oder verbessern zu lassen. Hm ... Ich sehe also gerade alles, als wäre es Tag.” “Du hast also wirklich so ein Adels-Technik-Ding in dir drin?”, fragte ich verunsichert, denn allein die Vorstellung, man habe etwas Metallisches in seinem Körper verbaut – in seinem Kopf, ließ mich fürchterlich erschaudern. “Ja.” “Uff ... ich glaub mir wird schlecht”, erwiderte ich und wühlte meine Hand aus der Decke, um sie mir vor den Mund zu halten.
“Soll ich dich runter lassen?”, fragte er und stoppte im selben Atemzug. “Es geht schon”, keuchte ich und dann ging er auch sofort weiter, noch schneller als zuvor. “Wir sind gleich da, dann hast du es auch schon geschafft.” Ich stutzte. “Wo-wohin bringst du mich? Wieder zur Straße? Zu-zum Grafen?” “Nein. Meine Aufgabe bestand allein darin, deinen Freund zu töten. Dass ich dich gerade trage, war so nicht vorgesehen ... Eigentlich auch nicht, dass wir unbeobachtet miteinander reden. Ich verstoße gerade gegen die Regeln des Spiels.” Ich runzelte verwirrt die Stirn, konnte seine Worte nicht so richtig begreifen. “Heißt das, du ... du bringst mich fort? Warum? Fliehst du jetzt doch mit mir?” “Nein, Dezeria. Das geht nicht, jedenfalls nicht so, wie du es gerne hättest.” “Ich verstehe nicht.” “Ja, eben. Du verstehst vieles nicht. Ich kann dir auch nicht alles über mich sagen. Du würdest dich sicherlich verplappern oder fälschlicherweise nach mir rufen, wenn du Hilfe benötigst ... Es geht in diesem Spiel schließlich nicht nur um dein Leben!”, sprach er aufgewühlt. Das erste Mal, dass er ein solches Gefühl mitschwingen ließ. Auch seine Muskeln spannten sich merklich an – er kämpfte hier also auch um sein Leben?
“I-ich will es aber verstehen! Was soll ich denn machen? Was wird nun aus mir? Bitte ... sag mir doch, was ich machen soll. Irgendwas!”, sprach ich schon fast wimmernd. “Dezeria. Du musst begreifen, dass ich dir nur in dem Maße helfe, wie auch ich etwas davon habe. Ich bin nicht dein Feind, aber ich bin auch nicht dein Retter, dass musst du begreifen. Ich will, dass das Spiel nicht endet und darum geht es hier gerade.” Ich schluckte. Wieso konnte er nicht mein Retter sein? Wieso konnte mich niemand hieraus befreien? Wieso ...
“Dieses Spiel um mein Leben, ja? Und wie endet es? Kann ich es überhaupt beenden? Was muss ich tun, damit es aufhört? Bitte, sag es mir!” “Dafür ist es noch zu früh.” “Sag es MIR!”, brüllte ich und zappelte auf seinen Armen. Ich wollte runter! Jetzt gerade konnte ich mit ihm offen reden und er musste mir sagen, wie das hier alles weitergehen sollte. Er musste es einfach! Er stoppte und ließ mich auch tatsächlich runter. So im Dunkeln konnte ich allerdings absolut nichts erkennen ... nicht einmal seine Umrisse ... Nichts. Plötzlich keimte in mir die Angst, dass er jetzt einfach verschwinden würde, also krallte ich meine Finger in seinen Mantel. Ich würde ihn definitiv nicht ohne eine Antwort gehen lassen!
“Bitte!”, bat ich erneut und spürte, wie mir die Tränen liefen, doch er blieb still. “Sag es mir ... Warum tust du mir das an? Wieso schweigst du jetzt?!” “Ach Frau ... du machst mich schwach und das ist gefährlich für uns beide. Sehr sogar.” “Bitte!” “Warum tu ich mir das eigentlich an?”, murmelte er kaum hörbar und dann umfasste er mein Gesicht. “Ich sage es dir, wenn du dich jetzt beruhigst und für die nächsten Minuten einfach nur das machst, was ich von dir verlange. Einverstanden?” Ich nickte sofort, auch wenn mir bei seinen Worten heiß und kalt zugleich wurde. War es schlau, diesem Mann zu vertrauen? Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen ... Gott! Gar nichts konnte ich sehen und seine Stimme hatte etwas Undefinierbares an sich ... Was wollte er, dass ich jetzt mache? Was nur? Ich sollte ihm gehorchen? Wieso? Warum?
[Du bist einfach die Beste, Darklover🥰]