•‡Dezerias Sicht‡•
Mitten in der Nacht wurde ich von Unterleibsschmerzen und einem eisigen Wind geweckt. Gott, wie ich das hasste, wenn meine Monatsblutung einsetzte. Ich hatte dabei die ersten fünf Tage nur schreckliche Krämpfe, bei denen mir sogar hin und wieder das Laufen schwerfiel – immer schon. Frustriert seufzte ich, hielt meinen Bauch und blickte in die Glut des stark herunter gebrannten Feuers. Ich sollte wohl Holz nachlegen ...
Mühselig rappelte ich mich auf. Zerian lag hinter mir und murmelte etwas Unverständliches im Schlaf, als ich mich aus seiner Umarmung befreite. Es war niedlich mit anzusehen, wie er sich zusammenrollte, als ihm meine Nähe fehlte. Ich lächelte. Er war zwar in vielerlei Dingen echt komisch, aber so als Mensch doch recht süß. Ich fragte mich unweigerlich, wie es mit uns weitergehen würde ... Liebte ich ihn? Oder was war das zwischen mir und Reznick? Wieso musste ich noch immer mit solch seltsamen Gefühlen an ihn denken? Aber, spielte dies überhaupt eine Rolle? Er hatte selbst gesagt, dass es Liebe nicht gab – dass er mich nicht liebte – und doch dachte ich fast schon wehleidig an seine ganzen Unverschämtheiten zurück. Ich dachte daran, wie er mich angesehen hatte ... an den Kuss oder an die intensiven Umarmungen. Auch schämte ich mich entsetzlich dafür, dass ich seine Adelsmagie kaputt gemacht hatte. Gott, deswegen wird er bestimmt sehr sauer sein ...
Ein weiterer eisiger Luftzug rief mir die jetzige Situation wieder brachial ins Gedächtnis. Schnell legte ich ein paar trockene Zweige ins Feuer und wob eine Wand aus Eis einige Meter von uns entfernt. Ein Schutzwall gegen den schmerzenden Wind entstand und machte es gleich spürbar angenehmer. Ich schlich danach zurück zu Zerian und legte mich wieder neben ihn hin. Del strahlte noch gut sichtbar am Himmel. Bis die Sonne aufging, würde es sicherlich noch ein paar Stunden dauern. Vielleicht blieb mein Bauch ja nun soweit ruhig, dass ich noch eine Weile schlafen konnte ... Plötzlich schlang Zerian seinen Arm um meine Hüfte, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Ich entspannte mich aber augenblicklich wieder, da er sich nur eng an meinen Rücken kuschelte. Ihm war vermutlich kalt. Ich schloss also meine Augen und betete, dass wir morgen endlich Mewasinas erreichen würden ... ein Gasthaus fanden ...
*
Wir standen schließlich mit den ersten Sonnenstrahlen sowie etwas Rückenschmerzen vom harten Boden auf. Meine Bauchkrämpfe waren leider nicht sonderlich besser geworden, dementsprechend bekam ich auch nur ein paar wenige Happen beim Frühstück hinunter. Zerian war überaus aufmerksam und fragte andauernd, ob er mir irgendwie helfen konnte, aber leider gab es da nun mal nichts – was ihn sehr frustrierte. Irgendwann ging mir seine Fürsorglichkeit mit den ständigen Fragen nach einer Pause dann aber doch auf die Nerven. Ich wollte nicht noch eine Nacht im Freien schlafen, sondern endlich ankommen! Ich versuchte also, so zu tun, als ginge es mir gut ... Na ja, es blieb bei einem Versuch. Ich stürzte irgendwann auf dem holprigen Weg durch den Wald, weil meine Beine nach einem sehr starken Krampf einfach versagten. Toll ...
“Dezeria!”, rief auch sofort Mister Übervorsichtig und eilte die paar Meter zurück, um mir aufzuhelfen. “Brauchst du doch eine Pause? Hast du Durst oder Hunger?” Ich stieß seine Hand weg und rappelte mich selbst schwerfällig auf. “Nein, brauch ich nicht! Ich sag dann schon Bescheid. Hör auf, ständig nachzufragen. Das nervt!” Er sah zwar unglaublich verwirrt von meinen Worten aus, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. “Wir müssen weiter!”, murrte ich und hielt gleich beim nächsten Schritt schmerzlich inne. Mist! Vielleicht war es doch besser, sich mal eben kurz hinzusetzen. Aber nur kurz.
“Hey!”, stieß ich überrascht aus, als mich Zerian plötzlich ruppig zu Boden drückte. “Lass mich los! Was soll das?!”, schimpfte ich, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Er drückte mich bestimmend und mit unglaublicher Kraft in das Laub. O Gott! “Zerian! Hör auf!”, schrie ich, als er mein Hemd hochschob und sich danach an meinem Mieder zu schaffen machte. Panik stieg unweigerlich in mir auf, aber egal, wie wild ich auch gegen seine Hände ankämpfte, schaffte ich es einfach nicht, ihn aufzuhalten. “Nein!”, schrie ich weiter, gab es aber auf, an seinen Armen zu zerren, und schlug nun stattdessen nach seinem Gesicht. Ich ignorierte die Tatsache, dass er meine Brüste längst freigelegt hatte, und erwischte ihn dafür kräftig mit meinen Fingernägeln. Es floss sogar Blut! Aber auch das ließ ihn nicht in seinem Tun innehalten ... Was war nur in ihn gefahren?! Würde er mich jetzt ernsthaft vergewaltigen? Wieso, Zerian? Wieso?
Entgegen all meinen grausigen Erwartungen schloss er lediglich die Augen und fuhr mit seinen Händen ruhig meinen Bauch entlang. Ich stellte daraufhin das Kreischen und meinen Kampf schließlich ein – keuchte nur völlig fertig. Erst jetzt merkte ich, wie sehr es ihn ebenso angestrengt haben musste. Er atmete hastig, während er feinfühlig meinen Bauch massierte ... welcher nun auch noch kalt wurde? “Du heilst?”, fragte ich verwirrt und blickte hastig an mir herab. Ja! Ich sah Wasser um seine Hände fließen. “Du hast Schmerzen”, gab er emotionslos zurück, ohne mich dabei anzusehen. Er schien sich wirklich sehr zu konzentrieren. “Hör auf! Da gibt es nichts zu heilen! Das haben Frauen nun mal”, murrte ich und zog verärgert das Hemd runter, damit wenigstens meine Brüste nicht mehr entblößt waren. Aufstehen gestattete er mir trotzdem nicht ... Unverschämtheit! Sein ganzes Benehmen war eigentlich durch und durch unentschuldbar!
“Zerian! Nimm deine Hände endlich weg! Hör gefälligst auf, dich wie ein Arsch zu benehmen!” “Du hast aber eine innere Blutung.” Ich stöhnte genervt auf und schob sofort eine Hand in meine Unterhose ... Gott! Ging es eigentlich noch peinlicher? “Ich weiß das selbst! Und ... hier!” Ich präsentierte ihm meine blutigen Fingerspitzen. “Wie gesagt das haben Frauen eben ... und jetzt VERSCHWINDE ENDLICH!” Ich hatte nun definitiv genug von diesem Blödsinn! Ich wischte noch schnell das Blut, wie schon in der Nacht zuvor, am Boden ab, ehe ich nach einem Ast oder Stein spähte. Ich kochte schier vor Wut und wollte ihm einfach nur noch irgendwas um die Ohren hauen!
“Ich weiß das”, antwortete er plötzlich ebenso genervt und sah mich eindringlich an. “Ich kenne den Unterschied zwischen Mann und Frau sehr gut. Auch die Krankheiten, welche sie haben können und dies hier ist nicht das, was du denkst.” Verwirrt runzelte ich die Stirn. “Wie, nicht das, was ich denke?” “Ich fühle den Beginn eines Kindes in dir, da dürftest du also diese Frauenblutung nicht mehr haben.” Ich sah ihn ungläubig an und dann fiel es mir auch wieder ein ... Hatte Reznicks Vater nicht auch so etwas gesagt? Ich wäre schwanger? Nein ... das durfte nicht sein ...
“Ich habe das schon ein paarmal bei Frauen gesehen und auch geheilt. Es ist nichts Schlimmes. Ich behebe deine Blutung und dann kann es auch sofort weitergehen. Ich will doch nur, dass es dir gut geht. Entschuldige, wenn ich dabei zu grob war, aber du hast mir keine andere Wahl gelassen ... Du bist in diesem Zustand irgendwie sehr unvernünftig.” Ich sagte nichts dazu, während er erneut sanfte Kreise auf meinem nackten Bauch zog. Schwanger ... von Ludwig oder ... von Hannes? Gott! Machte das einen Unterschied? Ich fühlte mich irgendwie schmutzig ... Bei den Monden! Ich musste unbedingt einen Arzt in der Stadt aufsuchen! Ich musste es von einem Fachmann hören ... brauchte Gewissheit und keine Magie von einem Möchtegerngott. Ich ... Bei allem, was mir heilig war ... Ich durfte nicht schwanger sein ...
*
Die nachfolgende Zeit dachte ich viel darüber nach, was ich machen würde, wenn ich wirklich ... wirklich schwanger sein sollte. Würde ich das Kind behalten – würde ich es überhaupt lieben können? Es würde mich immer unweigerlich an Ludwig erinnern ... An den Mann, der meine Eltern ermordete – der mich vergewaltigte. Und auch an Hannes, der ebenso gegen meinen Willen mit mir schlief ... mein langjähriger Freund, der meinetwegen gestorben war ... Und ... wa-was würde Reznick nur dazu sagen? Würde er mich nun verachten? Mich so sehr hassen und verabscheuen, wie ich es selbst gerade tat? Gott ... was sollte ich nur machen? Mein Kopf war ein einziges, großes Chaos ...
Tränen liefen ungewollt über meine Wangen und schnell vergrub ich mein Gesicht in Zerians Rücken, bevor er es noch mitbekam. Er trug mich schon eine ganze Weile huckepack – hatte sogar einen breiten Stock gesucht, auf dem ich sitzen konnte, damit er es so leichter hatte. “Brauchst du eine Pause?”, fragte er, worauf ich schnell den Kopf schüttelte. “Sicher?”, hakte er noch mal misstrauisch nach, was mir erneut vor Augen führte, was für ein besserer Mensch er doch im Vergleich zu mir war. Ich ließ mich von ihm herum schleppen ... Er hatte Feuer gemacht und wusste, wohin es ging, während ich nur Probleme machte ... Ich hielt uns nur auf, weil ich mich nicht mal mehr auf so einfach Dinge wie Laufen konzentrieren konnte ...
“Dezeria?” “Ja, ja! Mir geht es gut, danke. Ich ... glaube ich kann jetzt auch laufen. Ich bin ... dir sicherlich viel zu schwer un-und du bist auch erschöpft”, brachte ich verunsichert hervor und fühlte mich sofort noch unnützer. “Mir geht es gut, du bist mir nicht zu schwer.” Pah! Von wegen! Ich hörte deutlich seinen schnellen Atem vor lauter Anstrengung. Wenn er ein Mensch war, hatte er auch Grenzen! So ein schlechter Lügner, aber ... ich konnte ihm nicht böse sein. Es war süß von ihm ... Ohne ihn hätte ich mich sicherlich längst heulend in irgendeine Ecke verkrochen. So jedoch gab er mir die Möglichkeit, mich weiter meinen wirren Gedanken zu widmen. Ja, ich sollte wohl dringend mein Leben ordnen ...
*
Irgendwann schafften wir es aus dem Wald, aber der erneute Anblick von einer welken Graslandschaft ließ mich frustriert seufzen. Wenn das wieder ein Moor war ... Ich konnte mich unmöglich derzeit soweit konzentrieren, um gezielt einen Weg aus Eis zu bilden – ganz und gar unmachbar! Ich war ja schon froh, dass ich mittlerweile selbstständig laufen konnte. Yey ... was auch nur funktionierte, weil ich das mit dem eventuellen Kind in mir erneut verdrängt hatte. Bevor mich der Strudel aus Selbstmitleid und Hass noch verschlungen hätte, schien mir dies vorerst als die einfachste Variante. Ich war schon ganz schön erbärmlich ...
“Dezeria?”, fragte mit einem Mal Zerian und tippte leicht gegen meine Schulter. “Ja?” “Ich sagte: Es ist kein Moor, keine Sorge.” “Ach so, ja ... was ein Glück.” Ich quälte mich zu einem Lächeln und warf dann einen prüfenden Blick in den Himmel. Die Sonne stand schon weit oben und bald würde es dunkel werden. “Wie weit ist es noch?”, fragte ich missmutig und verabschiedete mich gedanklich schon von einem weichen Bett in einem warmen Gasthaus. “Eigentlich nicht mehr weit. Siehst du den Hügel dort? Dahinter liegt eine Handelsroute und das Meer. Wir müssen der Straße nur noch folgen. Vielleicht einen Tag, bei unserer Geschwindigkeit.” Also doch im Freien schlafen, wie toll ...
“Hm, oder ...”, murmelte er plötzlich und kramte eifrig in der Tasche, welche er für mich bis eben getragen hatte. “Warte hier, ich komme gleich wieder!”, rief er noch, während er schon eilig losrannte. Hm? Was hatte er denn? Ich blickte verwirrt auf die Tasche, die er zurückließ, und sah, dass das Goldsäckchen geöffnet war. Hatte er sich etwa Geld mitgenommen? Wozu? Seine Silhouette verschwand jedenfalls etwas später hinter dem großen Hügel und irgendwie wurde mein mulmiges Gefühl stärker. Sollte ich ihm nachlaufen oder lieber warten? Verunsichert trat ich etwas auf der Stelle und entschied, ihm doch besser zu folgen. Ich wusste nicht wieso, aber in mir breiteten sich immer stärkere Zweifel aus. Nagende Zweifel, dass er mich hier alleine ließ, auch wenn das dumm war ... War es doch, oder?
Jap ... war es. Er kam mir auf halber Strecke wieder entgegengerannt – brauchte allerdings einige Atemzüge, um ein Wort herauszubringen. “I-ich ... ich habe eine ... Mitfahrgelegenheit!”, verkündete er keuchend, schnappte sich die Tasche und ergriff meine Hand. “Los, komm! Beeilung!”, zog er mich schnell hinter sich her, wodurch ich fast ins Stolpern geriet. “Zerian! Mach mal langsam!”, jammerte ich, denn was war überhaupt gerade passiert? “Der Kutscher wartet nicht lange, hat er gesagt”, erwiderte er und beschleunigte sogar noch seine Schritte ... Gott! Wo nahm der Kerl nur diese ganze Ausdauer her? Meine Beinmuskeln bestanden mittlerweile nur noch aus Pudding – rennen konnte ich damit überhaupt nicht mehr. Außerdem ... “Ein Kutscher? Hast du ihm etwa Gold gegeben, damit er wartet?”, fragte ich ungläubig, denn welcher Mensch würde schon auf Wildfremde warten? Wir waren hier mitten im Nirgendwo und könnten ebenso gut Banditen sein. Wenn er sein Gold außerdem schon hatte, war er sicherlich längst davon gefahren ... “Ein Goldstück, ja”, sprach Zerian freudig und führte mich über den Hügel und trotz meiner Bedenken, stand da unten auf der schmalen Straße tatsächlich ein Planwagen ... Wow.
Ein älterer Herr, vielleicht um die 60, saß vorne auf dem Kutschbock und musterte mich kurz, ehe er hinter sich deutete. “Steigt auf, damit wir es vor Anbruch der Dunkelheit noch nach Mewasinas schaffen.” “Ihr seid sehr freundlich. Euch müssen die Monde geschickt haben”, sprach ich überaus dankbar und glaubte für einen Moment, so etwas wie Überraschung in seinem Gesicht zu sehen – war das jetzt etwas Gutes oder Schlechtes? Mist! Ich wusste nicht, welchem Glauben die Leute in dieser Stadt angehörten. Besser ich behielt solche Worte für mich.
“Meine Schwester liebt die Monde, bitte entschuldigt”, sprach Zerian plötzlich und stieg ebenso ein. Mich verwunderte seine Wortwahl doch sehr ... Schwester? Und warum entschuldigte er sich? Gut, ich wusste nicht, welche Geschichte er dem Mann erzählt hatte – besser ich hinterfragte das jetzt nicht. Der alte Händler nickte dann auch nur und gab seinen Pferden einen harschen Befehl, damit diese weiter liefen.
Zerian suchte sich schnell einen Platz zwischen den ganzen Kisten und lächelte mich zufrieden an. Erst jetzt fiel mir dabei auf, dass wir dem Mann wohl einen sehr seltsamen Anblick geliefert hatten. Trotz des langen Mantels, konnte man deutlich erkennen, dass Zerian keine Hose trug und auch die Löcher im Stoff verschleierten nicht wirklich gut seine weitere Nacktheit. Außerdem leuchteten seine Augen so dermaßen kräftig hellblau, dass es schon weh tat ... Es sah eben einfach nicht menschlich aus. Und ich? Ich lief hier mitten im kalten Herbst ohne Schuhe herum ... Gott, wieso hatte der Händler nur angehalten? Was hatte Zerian mit ihm nur besprochen?
*
Die Fahrt verlief verhältnismäßig ruhig. Hier und da holperte es unangenehm durch einige Löcher in der Straße, aber das war mir dennoch lieber, als selbstständig zu laufen. Zerian wechselte noch ein paar Worte mit dem alten Händler und fragte irgendwas mit Gasthaus ... Ich hörte kaum richtig hin, weil ich einfach zu müde und erschöpft war. Meine Hände legte ich zögerlich auf meinen Bauch – wenigstens hatte ich keine Schmerzen mehr, aber wirklich glücklich konnte ich nicht darüber sein. War ich wirklich schwanger?
Dann musste ich wohl eingedöst sein, denn als ich wieder wach wurde, dämmerte es bereits. Ich spähte schläfrig aus dem Planwagen und staunte nicht schlecht, als ich nun riesige graue Mauern erblickte. Der Kutscher hatte uns also tatsächlich noch vor Sonnenuntergang nach Mewasinas gebracht und nun verstand ich auch, warum dieser Ort Stadt des Wassers genannt wurde. Überall zogen sich Bachläufe neben oder unter den Wegen und auch von den meisten Wänden plätscherten mal kleine oder größere Wasserfälle – schwamm die Stadt vielleicht sogar auf dem Wasser? Es war hier so ganz anders als in Rotterval. Innerhalb der Mauer gab es kein Gras und keine Erde. Alles war hier von massivem Stein umringt – es glich einer einzigen gigantischen Burg. Einem Gefängnis. Plötzlich wurde mir unglaublich unwohl, wobei ich mich gerade noch über das ganze Wasser gefreut hatte. Aber nun ... war es mir alles zu beengt – zu erdrückend. Fast so, als würde einem die Luft zum Atmen fehlen ...
“Da wären wir”, sprach der Kutscher mit einem Mal und stoppte den Wagen. “Habt Dank, guter Mann”, entgegnete Zerian und stieg freudig ab. “Komm, Ann, ich helfe dir runter.” Nun blickte er mich auffordernd an und streckte mir seine Hand entgegen. Hatte er gerade Ann gesagt? Ich sah ihn verwirrt an und rührte mich nicht, wodurch sein Lächeln breiter wurde. “Hier ist ein Gasthaus, Schwesterchen, da kannst du dich gleich weiter ausruhen, also komm.” “J-ja”, brachte ich zögerlich heraus und begriff jetzt erst, dass ich ja noch eine Rolle zu spielen hatte. Er half mir also runter und zog mich sogleich an seine harte Brust.
“Danke nochmals!”, verabschiedete er sich mit einer angedeuteten Verbeugung von dem Händler und wandte sich dann anschließend zu mir. “Soll ich dich tragen?” “Nein, aber du könntest mich auch nun mal aufklären!”, murrte ich, ließ mich aber ohne Widerstand von ihm zu einer breiten Tür führen. Das Wort Gasthaus konnte man nur mit sehr viel Mühe und Not an der Schrift in den Steinen erkennen. Was darunter stand, konnte ich beim besten Willen nicht entziffern. Das Haus, wenn man es den so nennen konnte, besaß keinerlei Fenster. Wie eigentlich alle Häuser hier. Kaum Holz ... nur Stein an Stein, sowie Metall, als hätte man alles aus einem Berg geschlagen. Gott, was war das für ein seltsamer Ort? Ich fühlte mich mittlerweile nur noch unwohl!
“Auf unserem Zimmer dann, ich heiße hier im übrigen Will”, sagte er dagegen vollkommen unbekümmert und drückte einen gelben Knopf an einer der Steinsäulen neben dem Eingang. “Will?”, fragte ich ungläubig, aber bevor er noch etwas dazu sagen konnte, glitt die bräunliche Eisentüre mit einigen leisen Quietschgeräuschen beiseite. “Ja, lass mich nur machen.” Er zog mich entschlossen an der Hand hinter sich her und steuerte so etwas wie einen Tresen an, wo ein mürrisch dreinblickender, kräftiger Typ stand.
Der Mann musterte erst Zerian und dann mich, was mein Unwohlsein nur noch verstärkte. Ich fand nämlich auch in seinem Gesicht kurz so etwas wie ... Skepsis oder Freude? Nein. Ich konnte es nicht wirklich beschreiben, aber es war in meinen Augen keine natürliche Reaktion auf zwei Fremde – beziehungsweise zwei Gäste. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, denn was wusste ich schon über die Menschen hier? Zerian schien es jedenfalls nicht zu stören.
“Ein Zimmer bitte”, sprach er ruhig und legte eine Goldmünze auf den Tisch. “Mit getrennten Betten!”, warf ich noch schnell hinterher, denn nicht, dass wir noch in einem schlafen mussten. “Wie lange?”, fragte der Gastwirt nun sichtlich überrascht und besah sich das Goldstück. “Wobei, es ist ohnehin nicht von Belang”, fügte er dann noch hinten ran und fuhr mit einer Hand nachdenklich durch seinen stoppeligen Bart. “Es sind genügend Zimmer frei und dies auch mit getrennten Betten, werte Dame.” Er sah mich an, was mir unweigerlich einen Schauer bereitete und obwohl ich nicht unhöflich sein wollte, senkte ich schnell meinen Blick. “Ausgezeichnet, dann würden wir uns gerne sogleich in eines davon zurückziehen”, hörte ich Zerian sagen und keinen Moment später ertönte der Klang einer kleinen Glocke.
“Emma! Kundschaft!”, rief der Wirt harsch und keinen Moment später hörte man hastige Schritte. Ein Zimmermädchen in einem gelb-orangenen Kleid eilte herbei und verneigte sich zur Begrüßung. “Bring sie ins 04”, brummte der Mann und reichte ihr einen Schlüssel, an dem ein kleines, gelbes Kärtchen hing. “Natürlich! Wenn ... die Herrschaften mir bitte folgen ... würden”, trällerte sie zwar noch etwas atemlos, aber ging dann auch schon mit einem breiten Lächeln voran.
Sie führte uns durch so etwas wie eine Taverne, wo eine Handvoll Gäste saß und etwas aus Krügen trank – vermutlich Bier. Sie musterten uns skeptisch, aber als sie mich direkt ansahen, war da wieder dieses ... Staunen? Das verwirrte mich und mein ungutes Gefühl blieb beständig. Vielleicht war ich auch einfach nur zu müde und sah schon überall Gespenster ... Ich war dennoch erleichtert, als wir danach eine Treppe emporstiegen. Nur weg von diesen seltsamen Menschen ...
Endlich im spärlich beleuchteten Zimmer angelangt, legte sich schlagartig meine ganze Anspannung. Es wirkte gemütlich und war sogar zum Großteil mit Holz verkleidet – wirkte schon fast wie zuhause, na ja, bis auf das mit den fehlenden Fenstern. Erschöpft und freudig seufzend warf ich mich auf eins der weichen Betten, während sich Zerian noch von dem Zimmermädchen an der Türe verabschiedete.
Als ich das Schloss einrasten hörte, richtete ich mich mühselig auf und blickte fragend in seine Richtung. “Du wolltest mir noch was erklären!” “Ja”, nickte er und zog sich erst mal die Schuhe aus. “Das hier ist Mewasinas. Du solltest alles, was mit den Monden oder dem Gott des Wassers zu tun hat, besser nicht erwähnen. Das Gleiche gilt für unsere Namen. Die Leute in dieser Stadt mögen so etwas nicht und dies könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Ich hab für dich Ann genommen, von Annabel und für mich Will von William. Elisabeth hatte mir die Namen mal genannt, als sie dich im Bauch trug.”
Ich runzelte ungläubig die Stirn von dieser Offenbarung, während er einfach im Zimmer herum spazierte und etwas auf einer glatten Fläche an der Wand tippte. “Meine Mutter wollte mich ursprünglich Annabel nennen?” Gott, meine Stimme klang schon voll weinerlich! Ich riss mich schnell zusammen, damit ich nicht noch wirklich losheulte. “Ja”, sprach Mister Sensibel unbekümmert und dann wurde es plötzlich taghell im Raum. Verwirrt sah ich mich um und nun fiel mir das erste Mal auf, dass es hier scheinbar auch dieses Magielicht, wie in Ludwigs Anwesen, gab. Stimmt ... jetzt wo ich so zurückdachte, ich hatte bisher nirgends Kerzen oder Öllampen gesehen und dennoch war es angenehm hell gewesen.
“Siehst du, ich habe uns das richtige Licht angemacht und nicht nur diese Notbeleuchtung”, sprach er und grinste mich dümmlich an. “Ich kenne mich hier sehr gut aus. Wenn du was wissen willst, dann frage mich einfach.” Ich runzelte die Stirn, tatsächlich gab es da etwas. “Weißt du ob man hier ein Bad nehmen kann oder haben die dafür ein extra Badehaus außerhalb?” “Das geht in unserem Zimmer. Komm, ich zeig es dir gleich”, er deutete auf eine Tür und ging auch direkt darauf zu.
Wow! Ich staunte nicht schlecht, als Zerian im Badezimmer ebenso Licht entfachte und auch eine Dusche über diese komische schwarze Tafel aktivierte. Langsam aber sicher gewöhnte ich mich an diese Magie – sie war praktisch und überaus bequem. Uff! Woran ich mich aber definitiv nicht gewöhnte, war Zerians mangelndes Schamgefühl! Er hatte doch tatsächlich die Nerven, sich vor mir auszuziehen, weil er auch gleich duschen wollte ... Mit hochrotem Kopf musste ich ihn hinausschieben, während er nur verwirrt von mir wissen wollte, was los sei und warum ich nun sauer war. Gott! Der machte mich mit diesem Verhalten echt wahnsinnig! Er sah ja ... nun ... unverschämt gut aus, aber ich wusste doch derzeit gar nicht, wo mir der Kopf stand und alles und sowieso und überhaupt! Den nächsten Schock bekam ich dann keine Sekunde später, als ich in den breiten Spiegel an der Wand blickte ... GOTT! Ich hatte leuchtend weiße Augen! Kein Wunder, dass die Leute alle so komisch geschaut hatten. Nicht nur Zerian sah man seine Unnatürlichkeit an, sondern mir jetzt auch! Na fabelhaft ...
*
Nachdem ich es geschafft hatte meine Andersartigkeit, genauso, wie all den anderen belastenden Kram meines Lebens, zu verdrängen, überließ ich Zerian die Dusche. Ich bat ihn dabei noch glühend Rot vor Verlegenheit, unsere Sachen mit zu waschen. Ein Gott mit der Kontrolle über Wasser dabei zu haben, hatte schon etwas für sich – vor allem, weil er alles sofort trocknen konnte. Ja, ich wollte keineswegs meine benutzte Unterwäsche erneut anziehen – nicht, wo ich mich gerade so wunderbar erfrischt fühlte. Nackt wollte ich aber auch nicht mit Zerian in diesem Zimmer sein. Nachher kam der noch auf dumme Gedanken!
Ich hockte also, nur mit einem Handtuch bekleidet, auf meinem Bett und wartete. Nebenbei kramte ich noch in der Tasche herum und nahm das Messer an mich. Ich wollte es nicht unbedingt bei mir haben, weil ich Zerian misstraute, aber hier so an diesem fremden Ort, würde ich mich definitiv sicherer fühlen, wenn ich es unter meinem Kopfkissen zu finden wusste.
“Oh!”, stieß ich wenig später überrascht aus, als ich gerade die Tasche wegpacken wollte und noch einen Keks im Seitenfach entdeckte. Zerian hatte den Geschmack so geliebt, dass ich mir sicher war, er hätte längst alle davon aufgegessen. Ich lächelte, brach das Schokoladengebäck entzwei, um ihm eine Hälfte auf sein Bett zu legen, und aß genüsslich den Rest.
Irgendwann hörte ich die Badezimmertüre dicht gefolgt von einem fröhlichen: “Fertig!” Ich wagte es gar nicht, zu ihm zu blicken, da ich höchstwahrscheinlich gleich wieder einen nackten Mann sehen würde. “Das heiße Wasser war unfassbar herrlich! Jetzt erst verstehe ich wirklich, was die Menschen daran so toll finden! Deine Sachen sind nun übrigens auch sauber”, sprach er weiter und legte die Kleidung neben mir auf die Decke. “Danke”, sagte ich und war ebenso dankbar, dass er anständigerweise ein Handtuch um seine Hüfte geschlungen hatte. Mit einer geschmeidigen Handbewegung zog er noch das Wasser aus meinen Haaren, was diese augenblicklich federleicht werden ließ. “Danke”, sagte ich gleich noch einmal, wodurch er mich fröhlich anlächelte. Ich schnappte mir das Hemd und die Unterhose, um mich schnell im Bad anzuziehen. Auf dem Weg dorthin hörte ich ihn begeistert hinter mir “Ein Keks!” rufen. Ich lachte. Es war wirklich einfach, ihn glücklich zu machen ... So ein verrückter Kerl.
“Sag mal, Zerian, warum gibt es hier eigentlich keine Fenster”, fragte ich irritiert, als ich bekleidet aus dem Bad zurückkam. Es hing nämlich noch verdammt viel Feuchtigkeit in den Zimmern, auch wenn ich an der Decke hier und da sowas wie Lüftungsschlitze entdeckt hatte, fand ich diese Bauweise doch recht seltsam. Er schien kurz zu überlegen und dann ein unglückliches Gesicht zu ziehen. “Jedes Mal, wenn Del und Cor am höchsten Punkt am Himmel stehen, kommt es hier zu Überschwemmungen. Aber ... ich bin es nicht! Ich kann nichts dafür, ehrlich!” Er hob beschwichtigend die Hände und schien sehr bestürzt darüber zu sein, aber er brauchte sich vor mir nicht zu verteidigen. Ich glaubte ihm. “Warst du deswegen oft hier? Um herauszufinden wieso das passiert?” “Ja, aber ich fand nie die Ursache. Es scheint, als würden die Monde es selbst machen und deswegen hassen mich hier auch die Menschen ...” Na toll. Jetzt hatte ich die Stimmung ganz schön nach unten gezogen. Mist, jetzt könnte ich noch gut so einen verdammten Keks gebrauchen!
“Wir sollten schlafen”, sprach ich letztlich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. “Kannst du bitte noch das Licht ausmachen?” “Ja, Moment”, antwortete er und beugte sich zu einer weiteren Tafel an der Wand, die sich mittig zwischen unseren Betten befand. “Machst du mir etwas Platz?”, fragte er plötzlich dicht neben mir stehend, als das Licht fast vollständig erlosch. “Platz machen?”, echote ich verwirrt und auch mein Herz beschleunigte sich unweigerlich. “Ja, ich will bei dir schlafen.” “Nein, sowas machen wir keineswegs!” “Warum nicht? Draußen hab ich doch auch neben dir gelegen.” Ich seufzte frustriert und ballte die Fäuste, wollte er es nicht verstehen oder konnte er es nicht? “Wage es ja nicht, zu mir ins Bett zu kommen! Andernfalls tue ich dir weh!”, schimpfte ich und blickte im Halbdunkel in seine gut sichtbaren blauen Augen. “Na gut, ich wollte dich nicht verärgern ... Schlaf ich eben alleine”, sprach er stark beleidigt klingend, aber das war mir egal. Dass wir im selben Bett schliefen, wo er auch noch nackt war, konnte er sich sowas von abschminken! “Jeder schläft schön für sich in seinem eigenen Bett!”, murrte ich noch, drehte ihm den Rücken zu und zog mir anschließend die Decke bis zum Kinn. Gott! Meine Nerven!