>>Hast du das überlebt, mein Sohn?
Ich wusste nicht, wie lange ich schon auf diese sechs Worte starrte, aber irgendwann taten mir davon extrem die Augen weh. Ich haderte mit mir ... wie sollte ich reagieren? Erwartete er ernsthaft eine Antwort darauf? Es war irgendwie geschmacklos ... und warum hatte er in seinem Virus überhaupt ein derartiges Unterprogramm verschachtelt? Um mich zu kontrollieren? Mich zu beeinflussen? Überwachung? Wut stieg in mir auf und wechselte dann doch gleich wieder in Unsicherheit ... Fuck, das war nicht gut! Ich war noch nicht in der Verfassung, mich mit meinem Vater auseinanderzusetzen! Wieso hatte ich dieses blöde Teil auch nicht gleich gelöscht? O Mann, ich bin so ein Idiot! Ich sollte, nein, durfte darauf nicht reagieren! Schon gar nicht in meinem jetzigen labilen Zustand! Es war sicherlich eine Falle oder sonst etwas, was mir Probleme bereiten könnte ... oder? Ich mein, warum wollte er mit mir reden? Er wusste, dass ich das nie tun würde – ihn ja deswegen auf jeder Ebene konsequent ignorierte, also was sollte das hier jetzt? Ich wurde daraus einfach nicht schlau, egal wie lange ich diese Wörter anstarrte. Wenn ich eines nicht wollte – nie in meinem Leben tun würde – dann war es, mit meinem Vater ne Runde Smalltalk zu führen. Ich wollte ihn nicht einmal sehen! Allein wenn er seinen letzten Atemzug tätigte, würde ich ihm ins Gesicht lachen. Ja, mehr aber auch nicht! Er war es schlicht nicht wert, dass man sich mit ihm befasste! Er wusste auch ganz genau, wie ich über ihn dachte! Also ... was sollte dieser Quatsch?!
Uff! Ich atmete einmal tief durch. Meine Gedanken wurden immer unklarer und aufgewühlter, dies konnte ich keineswegs gebrauchen. Ich war doch kein unerfahrenes Kleinkind mehr! Ich hatte gewiss keine Angst vor dir, Vater! Ich atmete erneut langsam durch und dann gleich noch einmal ... O Mann, jetzt bloß nicht darüber aufregen. Es war nur ein Satz. Ein banaler, gottverdammter Satz und daran wollte mein Verstand ernsthaft gerade zerbrechen? Was war ich nur im Moment für ein erbärmliches Würstchen!
Gut ... nur die Ruhe ... Eine ganze Weile tat ich nichts weiter, als zu atmen. Ich musste mich verdammt noch mal zusammenreißen! So schwer konnte das doch nicht sein! Ich war immer kalt, ruhig, berechnend. Immer! Ohh ... nur die Ruhe ... Ruhe ... ja, es wurde besser ... Die Klarheit tat gut, wie warmer Honig für die Kehle. Sehr sehr gut sogar. Und dann trat plötzlich ein breites Lächeln in mein Gesicht. Ja, ob du das so eingeplant hattest, Vater? Ich glaube nicht, oder? Du wolltest nie, dass ich einen eigenen Willen habe ... aber gerade jetzt, warst du dafür ausgesprochen nützlich. Gott, wie sehr ich dich hasste, aber für diese hilfreiche Situation, schuldete ich dir wohl etwas. Verrückt, nicht wahr? Du gabst mir ungewollt eine gute Möglichkeit, meinen Verstand neu zusammenzusetzen. Durch dich schaffte ich es, die letzten Puzzleteile meiner Persönlichkeit, wieder an ihren richtigen Platz zu legen. Dafür war ich dir ironischerweise wirklich dankbar.
Mit völlig anderen Augen las ich deinen Satz erneut – deine Frage, die mir plötzlich so viel von dir offenbarte. Wie konnte ich vorher nur so blind sein und das Wesentliche darin nicht erkennen? Es war so offensichtlich, dass ich mich im Nachgang irgendwie dafür schämte ... na ja, nicht direkt. Ich empfand noch nie Scham, aber es kratzte an meinem Ego, so ignorant gewesen zu sein! Ja, deine Worte mochten auf den ersten Blick nicht bedeutsam sein, aber darin lagen vielerlei Botschaften. Das Wichtigste aber waren zwei Dinge. Zum Einen, dass du mit mir ein Gespräch suchtest. Eines, auf freiwilliger Basis, denn andernfalls hättest du einen Köder in deine Wortwahl einfließen lassen. Du hättest etwas ausgelegt, was für mich eine Bedeutung hätte und in mir so eine Reaktion erzwungen – sowas lag dir doch, nicht wahr? Sowas machte dir Spaß, das wussten wir beide doch nur zu gut.
Das Zweite und wohl das Wichtigste überhaupt, was ich von dir erfuhr ... du hattest Dezeria nicht! Ja, da war ich mir einhundertprozentig sicher. Du hättest ganz anders agiert, wenn sie bei dir gewesen wäre. Deine Worte wären, nun ja, irgendwie schadenfreudiger gewesen. Ob es dich ärgerte, dass mich deine Worte erleichterten? Irgendwie juckte es mich ja in den Fingern, dir genau dies zu schreiben. Dass ich mich über diese Frage überschwänglich freute, weil sie mir so viel von dir preisgab.
Hm ... je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Gefallen fand ich daran ... aber nein, ich war nicht so wie du, Vater. Außerdem wollte ich dir keinen einzigen Brotkrumen gönnen, nach denen du offensichtlich wie ein Verhungernder giertest. Du hattest gerade außerordentliches Interesse an mir. Kein wirkliches an meinem gesundheitlichen Zustand, denn du konntest vor dem Erstellen dieses Programms nicht wissen, dass ich mir das Gehirn grillen würde. Nein. Du wolltest ursprünglich nur eines mit diesem Chatfenster bezwecken, und zwar, um mit mir zu handeln. Du hattest Heka ja infiziert, bevor du Dezeria raubtest. Nun hattest du sie ja nicht, aber fragtest dennoch nach mir. Du fragtest, ob ich noch lebte ... Interessant. Das brachte mich tatsächlich erneut zum Grinsen, denn weißt du was, Vater? Der EMP hatte die erhoffte Wirkung. Du schienst nichts mehr über mich zu wissen und dies störte dich, nicht wahr? Och, wie traurig. Fast hätte ich ja Mitleid mit dir ... aber nur fast.
Ich minimierte schließlich das Chatfenster und atmete erleichtert einmal tief durch. Es tat verdammt gut zu wissen, dass Dezeria nicht bei ihm war. Dieses Wissen legte sich wie eine warme Decke um meine Seele. Sie war in Sicherheit und es ging ihr gut, ja daran wollte ich glauben, weil es einfach nicht anders sein durfte. Zurück also zu Heka, damit ich Dezeria nicht noch länger warten ließ und sie endlich zu mir holen konnte. Ich traf bezüglich des Programms meines Vaters noch einige Sicherheitsvorkehrungen, dass er im Fall der Fälle nur einen unbedeutenden virtuellen Desktop infizieren konnte, und ließ den Neustart fertig durchlaufen. Das Licht im Schiff flackerte kurz, aber dann war Heka auch schon online.
<Hüllenbruch>, war das Erste, was ihre elektronische Stimme, nach einem ausgiebigen Scan der Innenräume, von sich gab und mich irritierte. Hier gab es keinen Hüllenbruch, das Schiff war intakt! Hm ... war das Chaos in meinem Kopf etwa so groß, dass ich bei ihr was falsch gemacht hatte? Oder waren ihre Backupsysteme vielleicht doch beschädigt gewesen? Ich wollte gerade nachfragen, aber da ploppten auch schon Dateien auf meinem Monitor auf. Bilder von ... außerhalb des Schiffes?
<Jemand setzt in diesem Moment einen hochenergetischen Laser ein, um sich unerlaubt Zugang zu verschaffen.> Ja, dies sah ich nun ebenso auf dem laufenden Video der Überwachungskamera. Welcher lebensmüde Penner wagte es da einfach so unbekümmert, mein Eigentum zu beschädigen? Ohne dass ich etwas dazu sagen musste, zoomte Heka näher an die zwei Personen heran. Sie justierte sogar das vorhandene Licht, sodass ich, selbst bei dieser schwachen Beleuchtung des Hangars, alles gestochen scharf sehen konnte.
Hm ... die Männer trugen diese abscheuliche Kleidung des Hauses Weckmelan. Überschwänglich schmückte Rot und Weißgold ihre eng anliegende Uniform. Auch das große Sonnensymbol auf der Brust und diese albernen flammenförmigen Schulterpolster – nja, unverkennbar der schlechte Geschmack meines Vaters. Offizielle Boten sollten sie also darstellen, was mich doch irgendwie zum Lachen brachte. Er hatte diesen Männern offensichtlich einen Diplomatenstatus verpasst, damit sie ungehindert in meine Privatsphäre eindringen durften. Aber, ernsthaft Vater? Du hattest extra, welche für mich herbeordert? Du wusstest also tatsächlich nichts über mich ... Dachtest du nun sogar, ich wäre gestorben? Und die beiden Marionetten da von dir sollten ... was? Meine Leiche holen? Juckt es dich so sehr in den Fingern, mich wieder zurückzuhaben – etwas über mich zu wissen, Vater? Was wolltest du bitte mit meinem toten Körper? Du wusstest doch, dass du mich nicht klonen durftest. Ich hatte deine tausendfachen Anträge – eine Erlaubnis dafür in der Rea-Datenbank zu hinterlegen – jedes einzelne Mal entschieden abgelehnt! Ich wollte keineswegs, als eine Puppe wiedergeboren werden und das würde ich dann mit Sicherheit, nicht wahr? Ich würde, deine Puppe werden ...
<Bordgeschütze geprüft und feuerbereit. Soll ich die Eindringlinge jetzt eliminieren?>, riss mich Heka plötzlich aus meinen Gedanken und blendete auch sofort eine der eher grobschlächtigeren Waffen, die ich hatte verbauen lassen, auf dem Monitor ein. Ich musste lächeln, denn diese Frage war vollkommen überflüssig, Heka, und das wusstest du auch ganz genau. “Netter Versuch, aber nein. Gib mir die Steuerung”, sprach ich schmunzelnd und erhielt von ihr auch direkt den Link für die Kontrolle. Ja, wenn hier schon jemand die Leute meines Vaters durchlöcherte, dann war das immer noch ich! Allein mein Privileg! Ich zögerte auch keine Sekunde. Ich ließ eine übertriebene Salve aus großkalibrigen Metalgeschossen auf diese beiden Menschen niedergehen, welche da bis eben noch konzentriert an meinem Schiff herumgewerkelt hatten. Ihre Körper verwandelten sich schnell in eine breite matschige Pfütze ... hach, es war herrlich mit anzusehen. Es bereitete mir eine gewisse Genugtuung, auch wenn ich lieber meinen Vater an ihrer Stelle gehabt hätte, aber na ja.
<Schäden an der Außenhülle gering, vermutlich hatten sie erst mit der Arbeit begonnen. Wiederherstellung läuft und – schön, dass Ihr wieder in Ordnung seid. Gratuliere auch zu dem unglaublichen Erfolg, die Bots in solch kurzer Zeit mit Eurem Organismus komplementiert zu haben. Das Fräulein Johanna lebt auch noch, ausgezeichnet.>
Ich atmete tief durch, denn nichts davon, war für mich wirklich von Belang. Ich musste dringend wissen, ob ich meinem Vater noch irgendwie in die Hände spielte oder nicht! Ob es nur eine Frage der Zeit war, bis er wieder alles über mich wusste! “Was ist das mit meinen Implantaten? Konntest du irgendetwas herausfinden, bevor du dich abschalten musstest? Hatte mein Vater mir wirklich so hinterherspionieren können? Und vor allem, wie lange? Was weiß er?”
<Ja, bestätigte sich. Die Upgrades von Eurem linken Auge mussten komplett ausgetauscht werden. Es befand sich eine neuartige Sonde an einem Teil dieser Verbesserung. Ich habe es noch nicht vollständig analysieren können, der Abgleich mit dem Rea-Netzwerk läuft aber gerade. Sobald ich die nötigen Daten habe, lässt sich auch eine Zeitachse erstellen und ermitteln, was Euer Vater über Euch und die Pläne wissen könnte. Ich sage Euch jedenfalls sofort Bescheid, sobald mir was vorliegt. Der entnommene Fremdkörper liegt ebenso zur Ansicht in der Krankenstation bereit. Ihr wollt es ja sicherlich noch selbst in Augenschein nehmen und zerlegen. Zusammenfassend kann ich Euch zur Manipulation Eures Vaters schon mal Folgendes sagen: Ihr tragt jetzt kein verstecktes Gerät mehr in Euch, was ihm Auskunft erteilen könnte. Auch das Virus wurde von mir mit so viel Datenmüll beschäftigt, dass ich meine kritischen Systeme abkoppeln konnte, ehe es sich dort einnistete. Ich überprüfe im Moment noch das gesamte Betriebssystem mit dem Code-Abgleich, welchen ich anfertigen konnte. Sobald auch hier nichts gefunden wird, werde ich die Informationen über Eure Dezeria preisgeben.>
Gut, das klang sehr gut ... Eure Dezeria ... meine Dezeria ... aber ich durfte mich jetzt nicht in liebliche Erinnerungen von ihr verlieren. Eine verdächtige Sache musste nämlich noch geklärt werden! “Wieso konnte dich mein Vater überhaupt erst infizieren?”, fragte ich unbeabsichtigt vorwurfsvoll, aber es war nun mal auch etwas, was ich bis jetzt nicht verstand. Es hätte schlicht und ergreifend nicht möglich sein können – dürfen! Dennoch war es so leicht passiert ... Warum? Ich weiß ... an dir zu zweifeln, Heka, war albern – ich vertraute dir – und doch hielt sich der fahle Beigeschmack von Verrat. Hatte meinen Vater dich vielleicht doch irgendwie manipulieren können? So wie er auch in meinem Körper etwas schmuggeln konnte? Mist! Ich wurde diese Gedanken einfach nicht los und jeden Menschen hätte ich nun in die Augen sehen können, um die Wahrheit zu erfahren – um Gewissheit zu bekommen, aber bei dir ... Ja, das war wohl der einzige Nachteil an einer KI – an dir, Heka. Du konntest mich jederzeit mit Leichtigkeit täuschen und genau dies, wusstest du natürlich ... wussten wir beide.