•‡Dezerias Sicht‡•
So gut hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Mein Bett war angenehm weich. Es war ein Gefühl, wie auf Wolken zu liegen ... oder, als wenn man sich gemütlich im lauwarmen Wasser treiben ließ. Einfach wundervoll. Ich wollte niemals wieder aufstehen. Aber diese unablässigen Sonnenstrahlen, welche da so unverschämt durch mein Fenster schienen, wollten unbedingt, dass ich endlich aufstand. Vater war sicherlich schon längst unten in der Küche und bereitete die Teiglinge für das heutige Tagesgeschäft vor. Er stand immer weit vor dem Sonnenaufgang auf ...
Hm? Ich öffnete langsam die Augen, da mir nicht wie sonst der Duft des vorgeheizten Backofens in die Nase kroch. Ich blinzelte verwirrt, als ich über mir nicht die alten Holzbalken meiner Zimmerdecke erblickte, sondern den Himmel. Den echten Himmel mit diesem wunderschönen Farbenspiel der aufgehenden Sonne und den letzten glimmenden Sternen. Verunsichert davon richtete ich mich vorsichtig auf und sah ... wie ich auf einer Woge aus Wasser einen halben Meter über der Erde transportiert wurde. Träumte ich? Meine Hand glitt durch das kühle Nass, auf welchem ich lag – nein, ich träumte keineswegs. Es war echt! Ich war wirklich draußen und als ich dann einen Typen ganz in Weiß etwas weiter vorne sah, fiel es mir auch wieder ein. Das Spiel ... Meine Eltern ... Reznicks Vater und natürlich ... Zerian!
“Du bist wach, gut. Wir sind auch fast da”, sprach er hallend, als ich versuchte, von diesem Magiegebilde herunterzukommen. Das Wasser stoppte auch sofort in seiner Bewegung und ich konnte gefahrlos absteigen. Uff! Festen Boden unter den Füßen zu haben war deutlich besser – nicht, dass ihm jetzt wieder in den Sinn kam, mich so umher zu schleudern wie das letzte Mal!
Meine Beine waren doch noch etwas verschlafen – ich wankte und gerade, als ich mich an dem schwebenden Flusslauf abstützen wollte, plätscherte dieser einfach zu Boden. “Ahh!”, brachte ich überrascht hervor, ehe ich auch schon auf die Knie stürzte. “Was sollte denn das?”, murrte ich und rappelte mich wieder auf. Meine Kleidung war nun voller Matsch – Dankeschön auch!
“Du wolltest doch laufen”, sprach er unbeteiligt und stellte sich vor mich. Ich starrte ihn entgeistert an und realisierte dann erst, wen ich hier eigentlich gerade vor mir hatte. O Gott ... Der Mondgott! Ich tippte prüfend gegen seine Brust ... ja, sein weißes Hemd fühlte sich echt an. Er stand vor mir, kein Zweifel! Aber ... “Bist du wirklich Zerian?”, fragte ich unsicher und wartete gebannt auf eine Antwort, aber er blickte mich nur mit diesen wunderschönen blauen Augen an. Gott ... Er sah so jung aus. Konnte er überhaupt ein uralter Geist des Mondes sein? Und wieso antwortet er denn nicht? Das machte mich wahnsinnig!
“Jetzt antworte schon!”, schimpfte ich und überlegte danach, ob es schlau war, einen Gott anzumeckern. Aber ... das spielte doch jetzt ohnehin keine Rolle mehr. Ich war gerade erst in einem Raum voller Adelstechnik gewesen, mit einem Mann, welcher mich wohl umbringen wollte. Verrückter konnte es da sowieso nicht mehr werden.
“Ich bin der, der ich bin”, sagte er wenig hilfreich und blickte dann in den Himmel. Er betrachtete die aufgehende Sonne, welche schon vollkommen über den Horizont gewandert war. Hm, das hatte er das letzte Mal auch schon so gemacht, oder? Ja! Als wir noch auf dem Anwesen waren! Ich tat es ihm gleich, aber außer, dass es fürchterlich in den Augen schmerzte, brachte es nichts. Und außerdem ... “Was soll das bedeuten?”, hakte ich verstimmt nach, denn er konnte mir doch auch mal eine vernünftige Antwort geben, oder etwa nicht?
Ich stöhnte frustriert, da Mister Eis nur weiter in die Luft starrte – also wirklich! “Hallo? Zerian? Sag mal, was soll denn das? Ich habe dich etwas gefragt!” Er senkte seinen Kopf und blickte mich an ... Gott, diese Augen! “Ich habe dir doch geantwortet.” “Das ist doch keine Antwort! ... Der, der ich bin ... was soll mir das denn sagen?” “Was willst du denn hören?” Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und wollte schon losschreien, riss mich dann aber doch zusammen. Ich atmete mehrfach tief, tief durch, ehe ich wieder das Wort ergriff:
“Ich will wissen, wer oder besser was du bist! Bist du wirklich der Mondgott? Wieso tauchst du ständig bei mir auf? Warum hast du mich gerettet? Was machst du überhaupt hier, also hier auf der Welt? Wieso ... machst du Fluten oder Dürren? Wieso hast du das alles zugelassen? Wieso ... meine Eltern nicht gerettet, wenn du doch überall sein kannst?!”, sprach ich zuletzt schon mehr schluchzend als alles andere. Er blickte mich emotionslos an und schien zu überlegen. “Ich bin Wasser. Ich bin Eis”, sagte er schließlich und drehte mehrfach seine Hand, welche sich erst verflüssigte, dann kristallisierte und zum Schluss wieder menschliche Züge annahm.
Danach blieb er still ... Das wars? Mehr hatte er nicht zu sagen? Fassungslos starrte ich ihn an. “Wirklich? Das fällt dir zu meinen Fragen ein? Das glaube ich jetzt nicht.” Er legte den Kopf leicht schräg und dann ... löste sich seine Gestalt in Wasser. Dieser blöde Kerl! Aber gut, was hatte ich erwartet? Scheinbar gab es hier nur Idioten! Gott hin oder her!
Frustriert fuhr ich mir durch die Haare und blickte mich um. Ich sah weite Wiesen, ein paar Meter entfernt einen Flusslauf sowie hier und da vereinzelte Baumgruppen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich kannte ja nichts außerhalb von Rotterval – also wohin? Etwas verwirrt und hilflos fühlend stand ich eine Weile einfach nur da, bis ich dann doch die Richtung einschlug, in welche mich Zerian tragen wollte.
*
Ich ging eine gefühlte Ewigkeit über moorige Felder und unebenes Gelände. Der Wind fegte ganz schön und auch der Himmel sah, nach den anfänglichen warmen Sonnenstrahlen, nun sehr stark nach Regen aus. Regen ... Danke auch Zerian, wozu warst du überhaupt gut? Herr Wasser und Eis blieb weiterhin verschwunden ... Na ja, hier und da tauchte er mal kurz wortlos auf und zeigte in die Richtung, in welche ich weiter gehen sollte. Immerhin etwas ...
*
Trotz meiner Befürchtungen blieb es trocken, dafür legte der Wind noch eine Spur zu. Ich war wirklich dankbar über die Sachen, welche mir Reznick hergestellt hatte. Die Kleidung saß perfekt und hielt unglaublich warm. Ich musste immer wieder an ihn denken ... und auch unweigerlich an das Treffen mit seinem Vater. Es war doch sein Vater, oder? Und, wenn dieser nun tot war, war doch alles gut? Oder nicht? Ich hatte Zweifel. Wieso war ich in seinem Zuhause – wo war Reznick gewesen? Wieso hatte er mich bei seinem Vater abgesetzt? Gehörte das vielleicht alles noch zum Spiel? Je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurde mein Unbehagen. Der Gedanke, er habe mich loswerden wollen – mich hereinlegen wollen, war absurd ... oder? Ich hatte ihn geküsst ... Ich ... ich wollte ihm doch vertrauen. Er hatte mir schließlich den Halsreif und etwas aus dem Rücken entfernt, womit mich Ludwig hätte finden können. Und dann noch diese Umarmung zum Schluss – es hatte sich schön angefühlt. Er hatte mir die Angst nehmen wollen ... Aber, was wusste ich schon über ihn? Er war ein Adeliger ...
Mein Herz schmerzte, weil mein Verstand nicht aufhörte, sich immer neue fiese Dinge auszudenken. Dinge wie, dass er mich nur benutzen wollte. Ich nicht so vertrauensselig sein sollte! Ich dumm und naiv war! Hannes wollte ja auch nur das Beste für mich ... Kurz pochte das Bild seines toten Körpers vor meinen Augen auf und auch das Blut, welches an dem Körper von Reznicks Vater herablief. Uh! Ich hielt an und beugte mich vor ...
Ich war erleichtert, dass ich mich nicht übergeben musste, und sah mich um. Ich steuerte eine kleine Steinformation an und setzte mich erschöpft auf einen hüfthohen Fels. Gott, mir liefen sogar die Tränen ... Was war nur los mit mir? Ich war fertig. Warum heulte ich denn jetzt bitte? Weil ich Sorge hatte, Reznick spielte nur mit mir? Dass ich diese Wahnvorstellung hatte, das noch sein Geruch an dem Mantel klebte und ich ihn vermisste? Dass ich Dussel, seine Tasche verloren hatte, die er für mich noch extra gepackt hatte? Toll ... jetzt heulte ich noch stärker nur deswegen ...
“Dir geht es nicht gut, warum?”, fragte plötzlich Zerian, der mal wieder wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war. Ich zuckte erschrocken zusammen – daran würde ich mich gewiss nie gewöhnen. “Es ist nichts!”, zischte ich verärgert. “Was kümmert es dich überhaupt? Hau doch wieder ab!” “Das geht nicht, ich fühle es. Du beeinflusst mich.” “Wie, ich beeinflusse dich?”, fragte ich verwirrt und wischte mir die letzten Tränen aus dem Gesicht. Er sah mich aber erneut nur an. Toll. Blöder Kerl! “Ich weiß nicht, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht”, sprach er dann doch noch, was mir aber ebenso wenig sagte. Ich wollte auch gerade nachfragen, doch da streckte er schon eine Hand vor, wohl um meine Wange zu berühren. “Wage es nicht mich anzufassen!”, schimpfte ich und schlug seinen Arm weg. Er sah daraufhin lange auf seine Hand, wo ich ihn getroffen hatte, ehe er mich wieder absolut kalt anblickte. “Ich wollte dich nur heilen, aber du kannst auch hier sitzenbleiben und warten.” Ich runzelte verwundert die Stirn. “Warten, worauf?” Er drehte sich herum und zeigte in die Ferne. “Es wird gleich jemand kommen und dich abholen. Dich nach Hause bringen.” “Jemand wird mich nach Hause bringen?”, echote ich vollkommen verwirrt und spähte in die Richtung ...
Meine Augen wurden groß und obwohl ich mir mehrfach die Lider rieb, änderte sich das Bild nicht. Hinter einem kleinen Waldstück tauchten plötzlich eine Gruppe von Reitern auf. Unwillkürlich machte sich Panik in mir breit und obwohl ich aufgrund der Entfernung unmöglich wissen konnte, wer das war, so kannte ich die Antwort bereits. Ludwigs Männer! Ich wusste nicht warum, aber das war das Einzige, was mein erschöpfter Verstand fertig brachte und es reichte, dass sich meine Muskeln in Bewegung setzten.
Ich rannte. Ich rannte, als hinge mein Leben davon ab! Auch, wenn ich wusste, dass es lächerlich war. Nichts in meiner Nähe würde mir ausreichend Deckung geben. Kein Versteck, kein gar nichts gab es hier! Es gab nur eine weite Wiese und der langsam fließende Fluss. Jedwede größere Baumreihe war ein gutes Stück entfernt ... und auf Pferden waren die Leute definitiv um ein vielfaches schneller als ich. Dennoch. Ich rannte. Sie durften mich nicht bekommen! Durften nicht! Nicht mich zurückbringen! Nicht ...
Ich stolperte – was mich nicht überraschte. Vor lauter aufsteigenden Tränen hatte ich sowieso schon nichts mehr richtig sehen können. Ich wischte mir, enttäuscht von mir selbst – von meiner erbärmlichen Schwäche, die Augen und rappelte mich auf. Ich rannte ... ungeachtet, dass ich nach einiger Zeit die Reiter schon deutlich hinter mir rufen hörte. Auch hörte ich Hunde bellen ... Gott! Sie kamen immer näher und das kleine Waldstück war noch zu weit entfernt. Gott! Das würde ich nie schaffen. Gleich hatten sie mich! Nein!
*
Als erstes erreichte mich das Rudel dieser blutrünstigen Goryev-Hunde. Sie umzingelten mich und hüpften aufdringlich an mir hoch, was mich erneut zum Stürzen brachte. Ich hatte dabei wirklich Glück, dass diese Biester allesamt einen Maulkorb trugen, ansonsten hätten die mich sicherlich locker zerfleischt! Es war verdammt schwer, die Tiere von mir wegzustoßen und weiter zu laufen ... Dann trappten auch schon die ersten Reiter rechts und links an mir vorbei. Ich keuchte erschöpft und sank letztlich auf die Knie – ich konnte einfach keinen Schritt weiter. Ich hatte verloren. Verzweifelt blickte ich auf und erkannte ... Hellkus. Er stieß einen steilen Pfiff aus, wodurch die Hunde sofort mit diesem unsäglichen Gebelle sowie Geknurre aufhörten und auch einige Meter von mir Abstand nahmen.
“Sieh mal einer an”, begann er mit einem amüsierten Lächeln und brachte sein Pferd direkt vor mir zum Stehen. “Ich dachte schon, wir müssen ohne Beute zurückkehren. Aber schön, dass du von selbst zurück kommst. Glaube aber nicht, dass der Graf deswegen eine mildere Strafe für dich verhängen wird.” Was?! Ich stutzte und sah ihn schnaufend mit großen Augen an. Zerian hatte mich zurück nach Rotterval geführt? War der denn vollkommen verrückt?! Von da bin ich doch gerade erst geflohen! Das konnte doch nicht wahr sein!
“I-ich will nicht zurück”, sagte ich schwer atmend, auch wenn wir beide wussten, wie jämmerlich das war. Er würde mich zurückbringen, egal was ich sagen würde. Hellkus stieg auch unbekümmert meiner Worte von seinem schwarzen Pferd und holte aus der Satteltasche ... ein Seil. Ein Seil für mich. Er würde mich zurückbringen ... Zu Ludwig bringen ... Zurück in diesen Alptraum ... Warum?
“Hände vor!”, befahl er mir und griff grob nach meinem Arm. “Nein!”, schimpfte ich verzweifelt und versuchte aufzustehen – versuchte noch einmal, meinen Körper zum Weglaufen zu kriegen, aber dafür fehlte mir einfach die Kraft. Es war zum Heulen! Bevor ich allerdings wirklich in Tränen ausbrechen konnte, traf mich seine Ohrfeige dermaßen hart im Gesicht, dass es mir kurz schwindelte. Überraschenderweise half dies und ich wusste, wenn ich jetzt nicht alles versuchte, hätte ich auch nie fortlaufen brauchen. Wenn ich erst wieder in diesem Anwesen war, würde es kein Zurück mehr geben. Noch einmal würde ich das nicht überstehen ...
“Ich bin niemandes Sklave!”, schrie ich ihn schließlich an und begann wild zu zappeln, sodass er mich nicht fesseln konnte. “Elendes Weib! Halt gefälligst still oder ich treibe dich mit den Hunden zurück”, knurrte er, aber bevor er mich erneut schlagen konnte, bildete sich Eis um seinen Körper. Eis ... welches aus meinen Händen kam. Hu? Was bei allen Monden ...