╬Reznicks Sicht╬
Unbekümmert stieg ich über die am Boden liegenden. Bewusstlos waren die zwei keine nervigen Variablen, die es zu berücksichtigen galt. So hatte ich mehr Kontrolle über das weitere Geschehen. Und ich brauchte dringend Kontrolle. Weitsicht. Irgendwas, dass mir Karten in die Hand gab, mit denen ich auch spielen konnte. Momentan besaß ich nichts. Und ich habe genug davon!
Humpelnd trat ich hinaus in das Flutlicht. Wie bereits vermutet, prangten Gleiter weit oben über der Absturzstelle. Langsam hob ich meinen linken Arm und streckte ihn so gerade wie möglich in die Höhe – den Kopf gesenkt. Das unmissverständliche Zeichen für eine Kapitulation. Ich hatte keine Lust auf einen weiteren Kampf und Flucht war gerade überhaupt keine Option. Sich dem Rea-Rat zu ergeben, die einzige Möglichkeit in dieser Situation.
Ich wankte. Müde. So unendlich müde hatte ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt. Mein Kopf schien verglühen zu wollen. Das Herz schlug unregelmäßig und mein Atem konnte noch so hektisch gehen – ich bekam einfach nicht genügend Sauerstoff. Alles. Wirklich alles tat mir weh. Zum Kotzen.
Als ich hörte, wie eins der Schiffe zur Landung ansetzte, blickte ich auf. Gut. Meine Unterwerfungserklärung wurde akzeptiert. Aber. Etwas irritiert war ich dann doch über den Anblick, der sich mir bot. Das Schiff – nur ein kleines Fabrikat. Definitiv nichts, was dem Rea-Rat oder der Regeere gehörte. Mit sowas Schäbigen würden sie nie und nimmer herumfliegen. Hätte ich noch meine Kampfausrüstung am Leib, könnte ich dieses Billigteil selbst in meinem katastrophalen gesundheitlichen Zustand noch vom Himmel holen. Mit Leichtigkeit sogar.
Meine Augen suchten nach dem Wappen. Fanden auf der Außenhülle gut sichtbar eine dunkle Sonne auf einem helleren Stern. Eigentum von Ludwig, kein Zweifel. Auch die anderen beiden Gleiter gehörten ihm. Seltsam. Wieso holte mich nicht das Gericht persönlich ab? Wieso er? Ich hatte Eigentum von gleich zwei Grafen zerstört. Und davon nicht gerade wenig. In solchen Fällen erfolgte immer eine Anhörung mit anschließendem Rechtsspruch. Irgendwie hatte ich mich darauf schon gefreut. Es hätte ein paar Stunden Ruhe gegeben, in denen man meine Verletzungen versorgte – unabhängig, was für eine Strafe mich anschließend ereilte. Aber so? Ludwig besaß nicht die notwendige Medizin, die ich derzeit benötigte. Und ich bezweifelte, dass er mir nach allem, was vorgefallen war, auch nur ein Fünkchen Erholung gönnen würde. Mist.
Nachdenklich betrachtete ich die Männer, welche gerade in meine Richtung kamen. Zehn an der Zahl. Keine Drohnen. Einfache Angestellte von Ludwig. Sie trugen keine Waffen und auch keine nennenswerte Rüstung am Leibe. Nichts Offizielles. Nicht mal ein Banner, was ihre Zugehörigkeit zu einem Gericht symbolisiert hätte. Es gab also keine Neutralität. Sie handelten wirklich im Auftrag von Ludwig. Das konnte nur eines bedeuten. Eisold hatte sich irgendwie mit ihm geeinigt, was in Anbetracht meiner massiven Verfehlungen höchst ungewöhnlich war. Zwangsläufig ließ das nur einen Schluss zu. Mein Vater mischte hier kräftig mit. Aber. Wozu? Er hätte mich als sein Eigentum ganz einfach vom Gericht abholen können. War es denn nicht das, was er immer wollte? Mich zu sich holen? Irgendwas passte hier nicht. Was übersah ich?
Die Kopfschmerzen machten mich fertig. Dennoch. Mein Verstand war messerscharf. Die Schäden in Mewasinas waren gewaltig gewesen und Lichius wollte definitiv meinen qualvollen Tod. Allein Eisold hatte die Macht, seinem Sohn davon abzubringen. Und der würde das gewiss nicht aus Nächstenliebe tun. Auf Anordnung des Königs allerdings – gewiss. Ludwig auf der anderen Seite dagegen hatte ich das Spiel versaut und seine Braut gestohlen – Dezeria.
Ja. Dezeria. Liegt es an ihr? Vater, du hast sie. Seit wann? Ein paar Stunden? Das reich nicht, um ihren Willen zu brechen, nicht wahr? Was willst du jetzt? Sie umerziehen? Hast du mir deswegen diesen widerlichen Klon gezeigt? Du willst sie damit in den Wahnsinn treiben, stimmt’s? Zugegeben, das ist raffiniert. Sie wird ihn hundertprozentig für mich halten. Scheiße. Deswegen willst du, dass ich vorerst bei Ludwig bleibe. Du brauchst Zeit. Aber. Das kannst du vergessen!
Wütend biss ich die Zähne zusammen und stolperte den Männern entgegen. “Wurde ja auch langsam mal Zeit!”, rief ich ihnen zu und deutete hinter mich. “Holt schnell die beiden anderen und dann nichts wie weg hier!” Verdutzt sahen mich alle an. “Was?! Jetzt macht schon! Sie liegen gleich in dem Loch da drüben. Ich will hier nicht länger als nötig bleiben!” “Ähm, Sie haben hier keine Befehlsgewalt, ehemaliger Wyttmann. Auch der Titel Sarach wurde Ihnen aberkannt. Auf Anordnung des Grafen Van Rotterval werden Sie von uns nun in Gewahrsam genommen”, sprach jemand, aber mich interessierte weder er noch seine Worte.
“Was auch immer. Solange ihr euch beeilt”, sprach ich gelangweilt und ließ mich ohne Gegenwehr von zwei Typen packen. Der grobe Griff um meine Oberarme brannte dabei wie Feuer. Als würden man mir die Gliedmaßen brutal rausreißen. Einfach höllisch. Mein Körper war wie mein Zuhause hier – vollkommen im Arsch. Dennoch. Ich zeigte keine Schwäche. Verzog weder das Gesicht, noch beklagte ich mich über den Schmerz. Mein Gang blieb so aufrecht wie möglich. Lediglich das Humpeln ließ sich nicht vollständig unterdrücken.
Beim Schiff angekommen rechnete ich fest damit, Richard zu sehen. Aber ich irrte. Dagmara befand sich im Inneren und musterte mich mit einem finsteren Grinsen.
“Du siehst zwar schon ordentlich ramponiert aus, aber ich soll dir trotzdem was von Richard ausrichten”, sprach sie belustigt und schnippte einmal mit den Fingern. Prompt traf mich ein Hieb mit voller Wucht in den Magen. Ich sackte automatisch zusammen und hustete fürchterlich an der aufkommenden Galle.
Die Schmerzwelle brachte mir allerdings sofort eine Erkenntnis. Richard war noch immer nachtragend, dass ich ihm die Nase gebrochen hatte. Vermutlich ließ er sich gerade verwöhnen oder heulte seiner zerstörten Visage nach. So ein Waschlappen. Für mich war die ganze Sache dermaßen unbedeutend, dass ich sie bis eben völlig vergessen hatte. Aber. Es war wohl offensichtlich, denn der zweite Kerl neben mir holte ebenfalls schwungvoll aus und zielte auf mein Gesicht.
Bevor er mich jedoch Schlagen konnte, schnellte ich vor und verpasste ihm selbst eine. Mitten auf den Hals, was seinen Kehlkopf laut knackend brach. Mit großen Augen und aufgerissenem Mund fasste er sich panisch an die Kehle. Rang nach Luft.
“Scheiße! Maik!”, rief jemand und stieß mich zur Seite. “Was hast du mit ihm gemacht?! Komm schon Bruder, was ist?! Sag doch was!” Mehr von den Handlangern eilten herein. Auch diejenigen, die Johanna und ihren Freund trugen. Alle standen da und wussten nicht, was sie tun sollten. Ich schmunzelte und setzte mich gemütlich auf einen der breiten Sessel, welche für die Adligen bereitstanden. Ahh. Was eine Wohltat.
“Holt sofort den Harecan! Schnell!”, fand Dagmara schließlich ihre Stimme wieder, nachdem sie den Schock über meine Aktion verarbeitet hatte. “Und du!”, nun deutete sie mit dem Zeigefinger äußerst wütend auf mich. “Was erlaubst du dir eigentlich?! Du gehörst nicht länger zum Adel, sondern zu den Sklaven!” Ich zuckte mit den Schultern. “Und wenn schon. Das kümmert mich null. Bringt mich jetzt endlich zu Ludwig. Oder braucht es noch einen Toten?” Natürlich war das nur so daher gesagt. Ich hatte kein Bock auf weitere Eskapaden. Mein Körper brauchte dringend Erholung. Dass dieser Maik nun zu Boden sank und gleich erstickte, sollte für die Übrigen Warnung genug sein. Ja. Ich lasse mich keineswegs vermöbeln wie einen räudigen Straßenköter!
“Aus dem Weg”, sprach eine kräftige Stimme und ich war wirklich überrascht, als Wilhelm danach das Schiff betrat. Gezielt zückte er ein Skalpell aus seinem Ärmel, hockte sich hin und verpasste dem Kerl am Boden einen altertümlichen Luftröhrenschnitt sowie eine Injektion mittig in den Brustkorb. Gequältes Husten und Röcheln erklang.
“Wa-wass zum Teufel tut ihr da?!”, heulte der Mann an seiner Seite, der wohl keinen Plan von solch einer Behandlungstechnik hatte. “Sein Leben retten”, erwiderte Wilhelm unbekümmert und stabilisierte die Luftzufuhr mit einem kleinen Plastikschlauch, welchen er ebenfalls aus seinem weißen Mantel hervorzauberte.
Grübelnd beobachtete ich das Treiben. Dass er diesen Maik rettete, kümmerte mich herzlich wenig. Vielmehr störte mich seine bloße Anwesenheit. Er war genauso wie ich extra wegen des Oswelats hierher gekommen und durch einen Vertrag an diesen Ort gebunden. Ich konnte dem wegen meiner Verlobung entkommen. Und er eigentlich durch Abbruch des Spiels. Die erzwungene Teilnahme endete bei sowas immer automatisch. Also. Warum war er noch hier?
Das gefiel mir nicht. Wilhelm schien sehr erfahren zu sein. Ich hatte ihn nie außerhalb seines Zimmers oder dem zugewiesenen Bereich im Anwesen gesehen. Nicht einmal bei der Hochzeit oder dem Bankett. Als wäre er ein Geist. Auch im Vorfeld hatte ich nichts über ihn in Erfahrung bringen können. Was mich damals nicht störte – aber jetzt? Er musste ein hochrangiger Rea sein. Vielleicht sogar im Auftrag meines Vaters?
“Er wird’s überstehen”, sprach Wilhelm nach einem Moment und erhob sich anschließend. “Bringt ihn rüber in mein Gleiter und auf dem Anwesen dann umgehend in mein Behandlungszimmer.” “Jawohl!” “Das Aschengard Fräulein nehmt ihr am besten auch gleich mit für eine Untersuchung und der weißhaarige Wicht kommt zum Transporter in den gesonderten Tank!”, fügte Dagmara noch streng hinzu, woraufhin sich die meisten der Männer in Bewegung setzten und das Schiff verließen. Interessant. Sie hatten also einen Stasebehälter für Zerian mitgebracht.
“Nun zu dir”, sprach Wilhelm schadenfroh und bedachte mich mit einem Blick, der Selbiges überdeutlich in seinem Gesicht zeigte. Ich setzte ebenso ein falsches Lächeln auf. “Was ist mit mir? Komm ich jetzt ebenfalls in den Genuss deiner Heilkünste?” Er griff in die Innenseite seines Mantels. “Vorerst ... wohl nicht.” Kaum ausgesprochen zog er seinen Arm wieder hervor und präsentierte mir in der offenen Handfläche einen schwarz-silbernen Würfel. Verdammte Scheiße! Ein EBS vom Modell 00-NM! Wieso trug er so etwas bei sich?
“Da du dich wie ein wildes Tier benimmst, kommst du vorerst an die Kette”, sprach Wilhelm weiter und wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, kam Leben in den Würfel. Optisch verflüssigte sich das Metall und schoss anschließend direkt auf mich zu. Ich rührte mich jedoch nicht. Es war sinnlos, sich dem zu widersetzen. Nackt und ohne irgendeine Ausrüstung. Bei einer Gegenwehr würde mich das Teil also nur bewusstlos schocken. Und das konnte mich jetzt gar nicht begeistern. Strom als Strafe war schon immer widerlich. Es hallte durch die Implantate und verletzte gleichermaßen innen wie außen. Perfekt, um einen gefügig zu machen. Ich musste es wissen. Ich hatte bestimmt schon jede Intensität gespürt.
Resigniert nahm ich also hin, dass sich der EBS eng um meinen Hals schlang und zum Schluss die typische Form eines Halsbandes annahm. Ein Sklavenhalsband, dass ich nur wieder loswurde, wenn Wilhelm es freiwillig tat. Was er sicherlich nicht allzu schnell vorhatte. Schöne Scheiße.
“Woher hast du das?”, fragte ich ehrlich interessiert, denn dieses Modell war zum einen unglaublich exklusiv und zum anderen, viel zu stark für normale Menschen. Man führte es nicht einfach so mit sich herum. Es wurde bei Strafhandlungen zwischen Reas verwendet oder für hochwertige Sklaven, die durch und durch mit Teck verbessert waren. Mit anderen Worten, für mich perfekt. Das konnte kein Zufall sein.
“Sagen wir so, ich wollte schon immer einmal mit Eigentum der Königsfamilie spielen.” Meine Augen wurden groß. Woher wusste er das? Schnell ging mein Blick zu Dagmara, aber auch sie schien diese Info nicht zu überraschen. Seltsam. Hatte mein Vater dies preisgegeben? Würde er soweit gehen, nur um mich hier eine Weile festzusetzen? Nein. Oder? Das war wirklich ungewöhnlich für ihn. Und es brachte mich jetzt in ernsthafte Schwierigkeiten. Mit dem Status Besitz war mein Leben absolut nichts Wert. Schlimmer noch. Ich hatte anderes Eigentum zerstört, wodurch man nun auch mich zerstören durfte.
“Verstehe. Das heißt, ich komme in den Genuss einer ausgefallenen Foltertechnik? Muss ich dafür extra aufstehen? Ich sitze gerade so bequem”, sprach ich mit einem breiten Lächeln, denn Angst würde er definitiv nicht von mir zu sehen bekommen.
Wilhelm erwiderte mein Lächeln kalt und schüttelte anschließend den Kopf. “Nicht jetzt. Aber gewiss im Laufe deines Yngewas, sobald wir im Anwesen des Grafen angekommen sind.” Ah. Ein Bestrafungsspiel also. Ich hatte noch nie an einem teilgenommen. Vater hatte das bisher immer unterbunden. Ich hasste ihn zwar, aber dafür war ich auch irgendwie dankbar. Ich hatte kein Bock, dass man mir irgendwelche Körperteile Stück für Stück abtrennte.
“Genug jetzt mit diesen unnötigen Floskeln!”, schimpfte Dagmara und musterte mich missbilligend. “Gebt ihm endlich den Befehl, sich ins hintere Abteil zu begeben. Dorthin, wo die Sklaven gehören!” Hm. Aufstehen? Okay, das würde sich definitiv als schwierig erweisen. Ich war geneigt zu gehorchen, aber meine Beine spürte ich im Moment nicht mal ansatzweise. Da könnte er mich jetzt schocken, wie er wollte.
“Ich empfehle, ihn dort zu belassen”, sprach Wilhelm und musterte mich gründlich. Sicherlich besaß er Teck in den Augen, wodurch er meine Vitalwerte scannen konnte. Aber mal ehrlich. So wie ich aussah, was sollte da schon rauskommen? Mehr als total im Arsch ging nicht.
“Der Graf will ihn bei Bewusstsein und sofort beginnen, wie er mir sagte. Jede weitere Belastung würde ihm jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit die Lichter auspusten. Also lasst es gut sein. Gönnt ihm diese kleine Pause.” Ich lächelte Dagmara an, weil es ihr offensichtlich großes Unwohlsein bereitete, mich hier ertragen zu müssen.
“Unglaublich! Was sind das bloß für Sitten?! Und Ihr, Harecan? Könnt Ihr Euch nicht wenigstens das Blut abwaschen?” Sie stöhnte empört und zückte anschließend einen violetten Fächer, um sich etwas Luft zu verschaffen. “Solch ein frevelhaftes Benehmen!” Es lag mir richtig auf der Zunge, ihr zu sagen, dass sie einfach die Klappe halten sollte. Aber. Mittlerweile war ich selbst dafür zu erschöpft. Meine Schmerzen erreichten ein neues Level und nur zu gerne wollte mein Körper in diese herrliche Bewusstlosigkeit versinken. Aber. Ich musste wach bleiben. Musste! Denn mit dem Halsband konnte ich mir noch weniger Fehler erlauben, also ohnehin schon. Irgendwo zwischen hier und dem Folterraum von Ludwig brauchte ich einen Plan. Irgendeine Idee, wie ich hier wieder aus kam. Und das am besten – in einem Stück.