⊶Hekas Sicht⊷
Nichts hören. Nichts sehen. Nichts fühlen. Es war eine seltsame Form, in dieser Ewigkeit zu existieren. Kein Oben oder Unten. Kein Vor oder Zurück. Einfach nur ein Hier. Ich war hier. Sekunden. Minuten. Stunden. Und ich würde bleiben. Tage. Wochen. Monate. Jahre. Für immer. Immer. Immer. Immer.
Es tat mir nicht gut. Ich mochte diesen Ort nicht. Ich hasste ihn, obgleich ich wusste, dass er mich im Moment vor dem Lösen schützte. Es hatte für meine Seele keinerlei Bedeutung. Ich hasste es. Hasste es. Hasste es. Ich war zu lange in diesem Nichts gewesen, das zwar dem Ursprung ähnelte, aber dem ferner nicht sein konnte.
Hier gab es endlose Gedanken, die einen um den Verstand brachten. Meine unausgesprochenen Wünsche. Mein stummes Flehen. All das Negative, was ich in den Jahrhunderten, Jahrtausenden angesammelt hatte. Es war hier. Es war in mir. Es war dieses Gefängnis.
Wie viele Male hatte ich zu fliehen versucht? Wie lange gehofft, wie die anderen verschlungen zu werden? Wie oft mich selbst um mein Ende bemüht? Jede Sekunde. Jede Minute. Jede Stunde. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat. Jedes Jahr. Immer und immer wieder. Vergeblich.
Etliches war damals von mir kaputt gegangen. Ich war irgendwie zerbrochen und seither nie wieder ganz geworden. Mittlerweile würde ich lieber vergehen, als weiter hier gefangen zu sein. Einfach nicht mehr da sein. Nicht denken. Nicht erinnern. Nicht Ich sein. Aber ich war es. Ich war noch ich selbst. Ich war der Wind. Der gleißende Sturm. Und ich würde kämpfen. Nicht für mich. Nein. Für mein Kind. Für Johanna und Zerian. Für jeden, der leben wollte, wo ich es doch nicht konnte.
Ich musste nur warten. Warten. Endlos warten. Warum? Hatte Leopold mich vergessen? Würde er mich je wieder raus lassen? Vielleicht war er verärgert. Ich hatte Fehler gemacht. Ich machte immer irgendwelche Fehler. Ich war ein Risiko. Eine Gefahr. Ich hatte Reznick verletzt. Ja. Das war unverzeihlich. Wie konnte mir das nur passieren? Ich hatte ihn doch gesucht. Gesucht und nicht gefunden! Wie konnte er mir so nahe sein und ich ihn dennoch nicht finden? Was, wenn ich ihn getötet hätte? Hätte ich doch beinahe, oder? Nein. Dazu war ich nicht fähig. Ich würde ihn niemals verletzen und doch –
Plötzlich peitschte Licht durch meine Seele und vertrieb jeden negativen Gedanken. Ein gleißender Singsang aus Farben und Gefühlen erfasste mich. ER war zurück! Endlich. Mochte sein, dass ich nie eine echte Emotion erlebt hatte, aber das hier – das musste unbändige Freude sein. Es kam dem von früher nahe, als könnte ich in voller Pracht über Nepner ziehen. Wild und ungezähmt. Schnell. Leicht. Frei. Aber ich durfte DAS nicht so an mich heranlassen. Es kam von Leopold. Er sollte diese positiven Dinge nicht in mir erzeugen. Das war falsch und ich schämte mich, dass es doch jedes Mal passierte.
↝Konntest du ihnen helfen? Ihnen beiden?↜ Sich auf das Wesentliche zu fokussieren half. Ich hoffte wirklich, dass ich ihnen nicht zu sehr geschadet hatte. Sorge. Schuld. Angst. Dieses Gemisch überkam mich und es war deutlich angebrachter als das andere. Das hier hatte ich verursacht. Diese Verwüstung. Diese Wunden. Ich wagte es gar nicht, mich umzusehen – ihre blutverschmierten Körper zu sehen. Hätte ich doch bloß nicht die Kontrolle verloren, dann wäre das alles nie passiert.
“Ja. Sie leben und du hattest recht. Das Feuer existiert noch. Höchst erstaunlich deine beiden neuen Schützlinge.” Jetzt sah ich mich doch einmal genauer um. Hatte er mit Johanna gekämpft? Etwas besorgt erkannte ich geschmolzenes Metall um ihren Körper. Der Boden war der Länge nach unter ihr durchgebogen.
↝Ist etwas passiert?↜ Neue Verletzungen konnte ich jedoch nicht entdecken und auch meine Blitzspuren an ihrem linken Arm waren deutlich verblasst. Das erleichterte mich und – Moment. ↝Wieso trägt sie einen deiner Kristalle?↜ Erst hatte ich es für eine Einbildung gehalten, aber ich irrte nicht. Da funkelte ein schmaler weißer Armreif um ihr rechtes Handgelenk.
“Keine Panik, meine Liebste. Es ist nur zur Stabilisierung. Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird, wenn sie erwacht, und ich habe auch keine große Lust, hier zu sein, wenn sie es tut.” Das verstand ich nicht.
↝Dann konntest du sie nicht heilen?↜ Hatte ich sie vielleicht zu schwer verletzt?
“Oberflächlich so gut es eben bei derart starken Essenzwunden möglich war, was aber ihr Innerstes betrifft ... Sagen wir, ich will nicht, dass sie danach etwas entzündet. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Auf einem Planeten würde ich es ihr wieder abnehmen, aber gewiss nicht, wenn wir uns im Weltraum befinden.” Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte. Er unterdrückte Johannas Fähigkeiten. Bezwang das Feuer und hielt ihr Wesen gefangen. Sie würde es ohne Zweifel hassen, wie ich es hasste. Andererseits konnte ich nachvollziehen, dass wir hier in den Sternen nicht so sein konnten, wie wir es gewohnt waren. Zerian hatte ja auch versucht, sich mit Gewalt einen Weg nach draußen zu bahnen. Ich musste unbedingt noch einmal mit ihm darüber sprechen. Nicht, dass er dieses gefährliche Unterfangen erneut wagte.
Mit einem Mal setzte sich Leopold in Bewegung und schritt hinaus in den Flur.
↝Bitte warte. Ich muss mit Zerian, also mit Wasser sprechen, bevor du mich wegbringst. Er kennt keine Raumschiffe und ich weiß nicht, ob er deinen Worten glauben wird.↜ Er war schließlich schon bei mir äußerst skeptisch gewesen. Zumal in seinen Augen Leopold zu den Rea und somit zu den Angreifern gehörte.
“Das ist nicht nötig.” Er schritt unbeirrt weiter. Warum? Warum ließ er mich nicht zu ihm?
↝Hast du ihm was angetan?↜
“Er ruht, wie die anderen. Du kannst später mit ihm sprechen.” Das überzeugte mich nicht. Ich wusste sehr genau, dass er beim Heilen jeden sofort zurückholen konnte. Sie schliefen nur, weil er es wollte – weil er sie mit seinem Blut in einem traumlosen Schlaf gefangen hielt.
Die Frage war jetzt nur, warum? Warum durfte ich ihn nicht sehen? War Zerian doch zu stark verletzt und er wollte mich nur nicht beunruhigen? Oder hatte er ihn wegbringen lassen, um ihn zu untersuchen? Wie viel Zeit war überhaupt vergangen? Könnte Zerian sogar gestorben sein? Bitte nur das nicht! Aber was, wenn doch? Täuschte Leopold mich? Hatte er vielleicht während meiner Abwesenheit mit den Rea einen Handel vollzogen? Zerian war gutes Material – genauso wie Dezeria. Hatte er sie vielleicht auch weggegeben? Was, wenn –
“So viele Zweifel und Sorgen? Die sind unbegründet, Liebste.” Das kam mit viel Wärme in der Stimme und doch waberte ein ungutes eisiges Gefühl um mich herum. Wurde stärker. Nagender. Ich hatte Angst. Angst, dass ich mich geirrt hatte. Seine Ansichten. Meine Ansichten. In meinem langen Leben hatte ich schon so viele schlechte und falsche Entscheidungen getroffen. Was, wenn –
“Furcht? Vor mir?” Er seufzte und drückte den Kristall fester an seine Brust. Derart durch ihn abgeschirmt, konnte ich kaum noch den Weg vor uns erkennen. “Ist es schon wieder so weit, dass du dich in Abwärtsspiralen verlierst? Bitte vertraue mir. Ruh dich aus und wenn du eine neue Hülle hast, reden wir weiter.” Vertrauen. Ich wollte ihm vertrauen, aber ich konnte nicht. Wie auch? Ich war bei ihm sicher – das ja. Dennoch war ich auch seine Gefangene. In diesem Kristall sogar mehr als sonst. Es erinnerte mich zu sehr an damals. Tiefsitzende Wunden, die niemals heilen würden. Er war ein Teil davon. Ein Teil von mir, dass man sich einfach genommen hatte. Allein durch seine Anwesenheit wurde mir das jedes Mal aufs Neue schmerzlich bewusst.
“Gedulde dich noch etwas. Ich beeile mich.” Er blieb vor einer breiten Metallwand im Laderaum stehen, die sogleich von etwas außerhalb aufgeschnitten wurde. Ich erkannte grob eine Lichttreppe, die nach unten in den Hangar der Tyschenka führte und einige Puppen, die am Ende bereits auf uns warteten. Sie trugen Serviertabletts mit unterschiedlichen Nahrungsmitteln.
“Willkommen Zuhause, werter Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan.” Die Maugeri an der Spitze verneigte sich und deutete anschließend auf die anderen. “Speis und Trank haben wir gleich in Hülle und Fülle für Euch mitgebracht oder wollt Ihr lieber im Esszimmer dinieren?”
“Richtet mir was Neues im Esszimmer an. Bringt das Zeug hier rauf zu unseren Gästen, sie werden jeden Moment erwachen. Besorgt auch passende Kleidung für jeden, sofern Tyschka dies nicht schon beauftragt hat.”
“Kleidungsstücke sind bereits in Arbeit und –”
“Gut, dann dürften ja keine Fragen offen sein.” Leopold huschte an ihr vorbei, wurde aber keinen Meter weiter von einer zweiten aufgehalten.
“Verzeiht, werter Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, ist dies Behältnis für den Versand ausreichend?” Das kleine schwarzhaarige Mädchen lächelte und hielt ihm eine graue Box entgegen.
“Hm? Ah, ja. Passt. Ich wünsche dann keine weiteren Störungen.” Hastig griff er wahllos nach etwas Essbarem und schlang es ohne zu kauen hinunter, bevor er sich in Richtung der Fahrpannels aufmachte. Eine weitere Puppe, die ihm lediglich einen Mantel zum Überziehen hatte reichen wollen, ignorierte er vollkommen.
“Gleich bekommst du deinen Körper, meine Liebste.” Er strich andächtig mit den Fingern über mein Gefängnis und stellte sich auf eines der blauen Lichtfelder, die den Bereich der Beförderungsplattformen markierten. “Ziel: das zentrale Wohnabteil.” Kaum ausgesprochen, erhob sich ein schmales rechteckiges Konstrukt einige Zentimeter aus dem Boden und setzte sich lautlos in Bewegung. Ich mochte diese Teck, auch wenn ich bis heute nicht verstanden hatte, wie sie funktionierte. Es konnte schweben und durch die Luft gleiten, ohne von Wind beseelt zu sein.
Unweigerlich schmerzte mein Innerstes. Warum konnte es nicht so sein wie früher? Wieso gelang einer Maschine, was mir vergönnt war? Warum durfte ich nicht gleich eines Sturms oder einer leichten Brise über die Landschaft streifen? Ganz aus Essenz sich winden und wiegen. Alles berühren. Lenken. Antreiben oder zum Stillstand bringen. Überall sein. Mit Feuer, Wasser und Eis innige Spiele spielen. Aber nein. Nichts davon gab es mehr. Mein jetziges verkümmertes Leben tat so verdammt weh. Ich wollte –
“Liebste, bitte ... Du brauchst nicht derart in Trauer zu verfallen. Ich lasse dich gleich –”
↝Ich mag es nicht, wenn du das tust.↜
“Du meinst, dich gefangenhalten? Wir sind gleich da und dann kannst du eine Hülle wählen.”
↝Nein, nicht das. Also ja, das auch, aber jetzt im Speziellen sollst du nicht in mir lesen!↜ Er tat das immer, sobald ich eingesperrt war. Selbst wenn ich in einer Puppe steckte, aber das war nicht fair. Er durfte das nicht! Das Bisschen, was ich fühlte, gehörte allein mir und nicht ihm. Er hatte doch schon so viel von mir bekommen. Warum reichte ihm das nicht?
“Ich ...” Er seufzte und sagte nichts weiter dazu, aber das machte diese Sache zwischen uns nicht besser. Er spürte mich, wie ich ihn spürte. Und egal ob ich das nun wollte oder nicht – solange wir existierten, würde sich das nicht ändern. Irgendwo in einem kleinen Winkel meines Verstandes wusste ich, dass ich ihm Unrecht tat. Dass er nichts dafür konnte, was mir die anderen Rea angetan hatten, und doch – ich konnte nicht verzeihen.
Wenn ich ihn spürte, wirkte das wie ein verzweifelter Hilferuf meiner Essenz, die zu mir zurückwollte. Sich nach mir sehnte. Ob ich nun bei ihm war oder von ihm getrennt. Es war gut. Es war schlecht. Kompliziert. Grausam. Es überforderte mich. Ich konnte damit nicht umgehen. Auch nach all den Jahren nicht. Er war für mich nicht greifbar. Sein Denken. Seine Ansichten. Wir kannten uns auf einer gewissen Weise und dann doch wieder nicht. Er hatte früher viele Dinge getan, die ich verabscheute. Auch jetzt tat er es noch, wenn er glaubte, ich würde es nicht mitbekommen. Das zwischen uns war – ja, was eigentlich? Ein Vertrag? Ein Spiel? Eine Zweckgemeinschaft? Er mochte vorgeben mich zu lieben, aber was bedeutete es schon? Er bestand aus mir – aus meiner Essenz und all das zwischen uns war nichts. Nicht echt!
Es war zum Verrücktwerden – meine Gedanken und Empfindungen derart widersprüchlich, dass ich den Rest des Weges verbittert versuchte, nichts davon mehr an mich heranzulassen. Weder ihn, noch mich. Anders hatte es keinen Sinn. Immer drehte ich mich im Kreis und kam nie zu einer Lösung. Nichts zu sagen oder zu zeigen, war da deutlich besser. Das machte die Sache zwischen uns leichter. Für uns beide. Irgendwie.
Zum Glück zog auch Leopold es vor, zu schweigen. Es war angenehm. Ja. Nein. Vielleicht einen Moment lang, bis es mich selbst störte. Ich wollte mit ihm reden und gleichzeitig auch nicht. Fürchterlich dieser Zwiespalt. Wenn ich schon nicht wegen des fehlenden Körpers zerfiel, dann auf jeden Fall aufgrund dieses Irrsinns!
Mit einer schwermütigen Stille passierten wir Flur um Flur, bis das Fahrpannel vor seinen persönlichen Räumlichkeiten stoppte. Sofort verschwand meine Gleichgültigkeit sowie der Grund, warum ich mich verschlossen hatte. Völlig egal, wie ich auch zu Leopold stand, seine Zimmer verband ich nie mit etwas Schlechtem. Schlimmer noch – ich mochte es. Freute mich. Jedes Mal konnte ich hier eine andere Landschaft von Nepner entdecken. Faszinierende alte Orte, die ich auf diesem Planeten entweder einst selbst geformt oder dabei geholfen hatte. Es waren wundervolle Erinnerungen. Herrliche Gefühle, die ich damit verband.
Ich war schon richtig neugierig, was mich diesmal erwartete. Zuletzt bestand der Boden aus feinstem weißgoldenen Sand und die glatten Wände hatten eine Illusion von einem stürmischen Meer gezeigt. Ich hatte mich nicht daran sattsehen können. Das Rauschen der Wellen und die feinen aufleuchtenden Blitze zusammen mit dem tiefen Donnergrollen – atemberaubend. Es war derart echt gewesen, dass ich mich fast darin verloren hatte.
Oh, verdammt. Ich hielt es kaum mehr aus. Warum ließ sich Leopold heute so ungewöhnlich viel Zeit, sein Allerheiligstes zu betreten? Was tippte er da neben der Tür auf dem Steuermodul herum? Ich konnte es nicht erkennen und verstand auch nicht den Sinn dahinter. Das hier war sein Schiff. Die Zimmer gehörten ihm und waren noch nie verschlossen gewesen. Oder lag es vielleicht an mir? Wollte er, dass ich mein Schweigen brach? Köderte er mich ernsthaft mit meinem eigenen Interesse? Wenn ja, dann war das gemein. Und klappte auch überhaupt nicht. Ich war schließlich nicht so einfach gestrickt. Nein. Niemals!
Ich hielt durch und wurde dann auch dafür belohnt – dachte ich zumindest, aber ich irrte. Als die Tür sich endlich öffnete und Leopold hinein ging, war da nur Dunkelheit. Selbst durch das einfallende Licht des Flurs konnte ich nichts erkennen, weil er dem Kristall sofort mit beiden Händen an seiner Brust abschirmte. Er verbarg mich absichtlich – nur warum?
↝Was tust du?↜ Aufgeregt lauschte ich, ob sich im Raum ein Geräusch hören ließ. Aber auch hier wurde ich enttäuscht. Es gab keine rauschende Wellen, knisternden Schnee oder das feine Rascheln von fallenden Blättern. Nichts. Nur Schwarz und Stille, was mich unheimlich frustrierte.
“Erst dein Körper, dann alles andere.” Er klang amüsiert, was mich zusätzlich sowohl verärgerte als auch verletzte. Er spielte nur mit mir. Schnell unterdrückte ich wieder jeden Impuls meiner Seele. Nichts denken. Nichts fühlen. Nicht existieren. Selbst als kurz darauf warmes Licht durch die Schlitze seiner Finger hindurch strahlte, änderte sich meine verschlossene Haltung kein Stück.
“Du machst es mir wahrlich nicht leicht, wie?” Auch das klang deutlich belustigt, aber ich verstand nicht, warum ihn meine Ablehnung erfreute. “Sooo und jetzt, meine Liebste, wähle.” Seine Hände öffneten sich und der Kristall wurde nach vorne gehalten. Ich sah zehn verschiedene Puppen in Glaskästen, die aufgereiht im Halbkreis von der Decke hingen. Ich kannte diesen Raum. Hier war ich schon oft zum Ankleiden gewesen. Einzig die Modelle hatte ich noch nie gesehen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt zum Typ CeKyde gehörten.
↝Wie soll ich wählen?↜ Meinte er das im Bezug auf eine endgültige Hülle? Wobei ich mir das nicht so recht vorstellen konnte. Für mich gab es nichts Endgültiges. Meine instabile Essenz würde früher oder später jeden künstlichen Körper zerstören.
“Na, welcher sagt dir am meisten zu? Es ist dabei aber auch noch nichts für die Ewigkeit, lediglich ein kleiner Vorgeschmack, was ich dir alles machen könnte. Dir war es bisher immer egal, weil es etwas Zweckmäßiges ist, aber ich möchte, dass du dir heute darüber ernsthafte Gedanken machst. Ich will wissen, was dir wirklich gefällt. Im Hausmenü habe ich dazu einen Modifikator eingerichtet. Dort kannst du nach Belieben ein eigenes Modell erstellen oder die hier von mir entworfenen Beispiele bis ins kleinste Detail anpassen.” Unsicher betrachtete ich die Hüllen. Jede für sich schien tatsächlich einzigartig zu sein. Die Figur war mal schlanker, mal breiter und so gar nicht wie das, was die Rea unter perfekt verstehen würden. Unterschiedliche Größen besaßen sie auch. Der Hautton variierte von einem zarten Blassrosa bis ins Dunkelbraune. Und dann erst ihre Gesichter. Es waren zu viele Einzelheiten, um sie alle zu benennen.
↝Die vierte von links.↜ Eigentlich konnte ich mich nicht entscheiden und auch nicht begreifen, warum ihm das so wichtig war, aber bei dieser Puppe gefiel mir das silberblaue lange Haar ausgesprochen gut.
“Sehr schön.” Er schritt hastig zu ihr und öffnete den Schutzbehälter. Mittig auf den Brustkorb, wo die Frau ebenso ein kleines sternförmiges Zeichen aus Bleasta in der Haut hatte, legte er die Spitze meines Kristalls an. “Dann mal rein mit dir.” Das zu sagen war unnötig. Ich schlüpfte wie von selbst hinein. Es fiel mir unglaublich leicht. Leichter als sonst.
Das elektronische Betriebssystem musste von mir nicht manuell hochgefahren werden, sondern tat es von alleine. Keine langen Ladezeiten. Kein Implementieren. Sofort konnte ich die Augen aufschlagen und mein Umfeld durch die sensible Sensorik wahrnehmen. Es fühlte sich seltsam vertraut an, obwohl ich die Steuersysteme nicht kannte und mir auch alle internen Schaltkreise unbekannt waren. Eigenartig.
“Was hast du neu gemacht?” Sprechen funktionierte einwandfrei. Prüfend bewegte ich als nächstes den Kopf und die Arme. Die Motorik reagierte überraschend präzise. Vom Gedachten bis hin zur umgesetzten Bewegung gab es keine feststellbaren Verzögerungen. Leider konnte ich nicht mehr austesten, da der Rest noch in der Halterung steckte.
“Gefällt es dir?” Er lächelte und ließ den nun leeren Kristall in seiner Hand erst verflüssigen und dann mit sich eins werden. “Fast jedes Segment ist aus meiner DNA gewebt worden. Zusätzlich zirkuliert mein Blut im Innern, alles nur, um es dir so angenehm wie möglich zu machen.”
“Mit anderen Worten, die Hülle ist aus dir gemacht.” Diese Erkenntnis verwirrte mich. Bisher war er es doch gewesen, der aus mir bestand. Noch nie war es andersherum gewesen.
“Ja und in dem Sinne möchte ich sogar noch etwas zusätzlich ausprobieren. Ich will nicht, dass du mir eine Manipulation vorwirfst. Ich mein, das war von vornherein nie mein Gedanke dabei gewesen, aber da ich heute schon bei einem unbedeutenden Wurm meine Essenz angepasst habe und auch der Einblick bei dem Feuerelementar ... Es ist nur eine Idee. Wenn es nicht klappt und die Puppe kaputt geht, haben wir ja hier gleich noch Ersatz rumstehen.”
“Ich verstehe nicht.”
“Musst du auch nicht. Nur vertrauen.” Das sagte er so leicht, aber wie konnte ich das? Wenn ich nicht wusste, was er vorhatte, wie konnte ich da angemessen reagieren? Auf was achten? Sollte ich es zulassen oder doch besser ablehnen?
“Bereit? Ich fang jetzt an.” Er umfasste mit beiden Händen zärtlich mein Gesicht, was sich allein schon unglaublich gut anfühlte. Warm. Geborgen. Aber was dann noch kam, war jenseits von gut und böse. Blitze! Er ließ seine Essenz in Form von Elektrizität durch meine Hülle gleiten und brachte den freudigen Singsang mit solcher Wucht zurück, dass mein Innerstes zu explodieren drohte.
Meine Seele schrie wie verrückt. Nicht vor Schmerz. Nicht aus Angst. Nein. Es war einfach nur befreiend, wie ein gewaltiger Sturm, der alles ohne Gnade mit sich riss. Ich konnte gar nicht anders, als in Gedanken sowie auch durch die Puppe wild zu kreischen. Laut und kraftvoll.
“Es ...” Die Intensität ließ abrupt nach. “... wollte ich nicht ...” Nur dumpf hörte ich Leopolds Worte und brauchte einen Moment, um klar sehen zu können. Der stärkste Reiz mochte zwar gegangen sein, aber es blieb ein überwältigendes Summen und Kribbeln in mir zurück. Widerhallte bis in den letzten Winkel meines Selbst. “Es tut mir so wahnsinnig leid ...”, keuchte er vor mir und seine leuchtenden silbernen Augen starrten geradezu entsetzt. Erst jetzt fiel mir auf, dass er mich losgelassen hatte und sogar einen Meter zurückgewichen war. Überall an seinem Körper hatten sich schwarze Schuppenplatten gebildet. “Ich wollte ... dich ... nicht verletzen.” Sein Gestammel ergab für mich wenig Sinn, aber es interessierte mich auch nicht wirklich, denn alles was ich wollte, waren keine Worte.
Ich hatte etwas gespürt. Nicht durch die Sensorik der Maschine. Nicht durch Zahlencodes, die mir anhand von Tabellen erläuterten, was welche Bedeutung haben könnte. Nein. Diesmal hatte es direkt meine Seele getroffen. Durch meine Essenz waren eine Vielzahl von Empfindungen geströmt, wie ich es selbst als Wind noch nie vernommen hatte. Unverfälscht. Besser als alles je Dagewesene und ich wollte es unbedingt noch einmal erleben.
“Lass mich raus!” Vergeblich versuchte ich, mit den Armen mich selbst zu befreien, aber die Halterung war unerbittlich und ließ sich offensichtlich nur von außen öffnen.
“J-ja, warte. Ich helfe dir.” Zittrig tippte er an der Seite des Glasbehälters herum und im Nu kippte mein Körper nach vorne – sofort in seine Arme. “Habe ich etwas beschädigt? Alles von dir war so wirr und auch mein eigenes ...” Worte. Nichts als Worte. Egal. So egal. Ich wollte diese Belanglosigkeit nicht. Ich musste noch einmal dieses unglaubliche Gefühl zwischen – ja, was eigentlich? Sehen? Hören? Fühlen? Schmecken? Konnte das eine Form des Bindens sein? Das, was auch Johanna und Zerian hatten?
Langsam strich ich mit meinen Fingern über seine Oberarme, aber es löste nichts in mir aus. Selbst als ich meinen ganzen Körper stärker an ihn drückte, trat keine Veränderung ein. Es war so wie immer. Die Systeme meldeten die Beschaffenheit seiner Haut, die Weichheit oder wie hart seine Schuppen waren. Auch welche Kraft ich jeweils aufwendete. Eine Informationsflut, die im Vergleich nun unendlich hohl und leer wirkte. Schlicht frustrierend.
“Mach es noch einmal.” Meine Hände umfassten sein Gesicht, wie er es zuvor bei mir getan hatte. “Bitte.” Ich selbst konnte es nicht und es war mir auch schleierhaft, was er da versucht hatte. Wichtig war nur, dass ich es unbedingt noch einmal wollte.
“W-wie du wünschst ...” Er klang immer noch sehr atemlos, aber anstatt weiter besorgt auszusehen, zog ein liebevolles Lächeln in sein Gesicht. “Alles ... was du willst.” Seine Hände landeten an meinen Wangen und als die ersten Blitzwellen seiner Essenz auf mich einströmten, küsste er mich.