Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Das Veto wurde gerade vollstreckt. Die Spielleitung übernahm die Kontrolle der Flugsteuerung meines Schiffes ... Mein Status als Wyttmann wurde sicherlich auch gerade aufgehoben. Jap. Ich war jetzt nur noch Besitz in diesem Spiel. Besitz meines Vaters ... ohne eigene Rechte mehr. Sicherlich suchte er schon im BOLYZAG-Spielsystem eine neue Verwendung für mich. Wie immer. Vielleicht musste ich sogar heute schon aufbrechen ... Es war so lächerlich. All mein Vermögen, welches ich hier investiert hatte, würde unter den übrigen Spielern aufgeteilt werden ... Ich würde wieder bei null anfangen ... und schlimmer noch ... meine Dezeria verlieren. Dieser Gedanke brannte entsetzlich in meinen Adern. Ich würde sie alleine lassen – würde sie hier lassen müssen ... Dezeria. Es gab nichts, was ich dagegen tun könnte. Absolut gar nichts!
Frustriert spannte ich all meine Muskeln an und erhob mich wie schlaftrunken vom Boden. Selbst wenn ich nun fortgehen musste – wahrscheinlich sogar diesen Planeten verlassen musste – so würde ich dennoch für Dezerias Sicherheit sorgen ... irgendwie ...
“Heka? Teilübernahme oder bist du gänzlich deaktiviert worden?”, fragte ich die KI und begab mich zeitgleich zurück zu meinem Schreibtisch. <Nur Steuerung. Es wurde ein Leitpunkt bei 21/11 bestimmt. Anwesen Graf Van Rotterval. Ankunft 5 Minuten>, meldete sich eine wohltuende Frauenstimme mit einem leicht elektronischen Klang. “Kannst du die Geschwindigkeit drosseln, oder einen Defekt implizieren? Hol mir so viel Zeit, wie möglich raus!” <Kritische Defekte?> “Von mir aus, aber lass das Schiff ganz, wenns geht.”
Ein spürbarer Ruck ging keine Sekunde später durch den Wohnraum, wodurch ich mich hastig an einem Regal festkrallte. <Antriebskern zur Übersteuerung manipuliert. Geschätzte Reparaturzeit 20 Minuten. Ist dies ausreichend oder sind weitere Verzögerungen gewünscht?> “Muss ich sehn ...”, sprach ich nachdenklich und setzte mich hurtig an meinen Computer.
Gut ... die Spielleitung hatte sich bereits Zugriff auf den Tracker von Dezeria verschafft. Da ich damit aber eigentlich schon viel früher gerechnet hatte, gab es längst ein Duplikat ihres Senders. So konnten die Richter auch nicht im Nachhinein sehen, dass ich mich mit ihr getroffen hatte. Das Signal, mitsamt sämtlichen Vitalwerten, wurde perfekt von einer winzigen Drohne imitiert, welche ich natürlich nach Halvigaw geschickt hatte. Weit weg von meinem derzeitigen Standort. Weit weg von dir ... Dezeria ...
Ja, ich hatte schon früh Vorbereitungen getroffen, deine Spuren zu verwischen. Nicht, weil ich dich liebte, nicht, weil ich dich interessant fand ... nein. Ehrlich gesagt, wusste ich es selbst nicht genau, aber meine eigenmächtigen Handlungen halfen mir jetzt ungemein in dieser Lage. Vielleicht könntest du ja auch selbst – ohne mich – lange genug vom Radar verschwinden, um ein halbwegs schönes Leben zu haben. Ja, du musstest dich schließlich nur unauffällig verhalten. Ich hatte dir genügend Edelmetall eingesteckt, womit du über Jahre hinweg auskommen könntest. Ohne mich ...
Frustriert seufzte ich. Jetzt warst du zwar fort, aber dein Bann hielt mich immer noch unglaublich intensiv gefangen. Setzte mich regelrecht unter Druck, mehr noch für dich zu tun. Deine Chancen weiter zu steigern ... so verrückt dies auch war. Ein fürchterlicher Zwang! Was hattest du mir nur angetan?! Ich ... ich ... wollte wieder bei dir sein. Ich schnaubte abfällig, da mein Verhalten langsam echt lächerlich wurde. Und doch kontrollierte ich anschließend, wo sich gerade Hellkus mit seinen Männern befand. Ich hatte ihm einen kleinen Peilsender untergejubelt und konnte so auf den Meter genau sehen, dass er sich wohl immer noch bei diesen Koordinaten aufhielt, die ich Ludwig zuletzt gegeben hatte. Natürlich ... Ludwig wartete sicherlich noch mit der Freigabe der Jagd auf meine Rückmeldung bezüglich der Redcart. Der Gedanke, dass sie danach Dezeria mit bissigen Hunden durch die Gegend hetzen würden, machte mich krank! Machte mich wütend!
Die Hunde waren ein Problem, aber dagegen konnte ich ihre Schwangerschaft benutzen. Ja ... Mist! Das hatte ich vergessen. Ich wollte es ihr sagen und nun konnte ich dies nicht mehr ... Jetzt würde es ihr nach einiger Zeit selbst auffallen. Hoffentlich stellte sie deswegen keinen Unsinn an ... O Mann, sie brauchte Schutz. Sie konnte doch in diesem Zustand unmöglich alleine sein ... Was brachte ihr Geld über Jahre, wenn ich schon jetzt solche starken Zweifel hatte? Sollte ich sie nicht vielleicht doch lieber zu Ludwig bringen? Vielleicht würde er sie ja gut behandeln ... Gott, jetzt versuchte ich mir sogar schon selbst, etwas einzureden. Aber ...
Ich starrte gedankenverloren auf den Bildschirm ...
In meinem Kopf herrschte Chaos ...
Eine Wahnvorstellung mit Dezeria in der Hauptrolle jagte gleich die nächste und dann ... lachte ich nur noch. Ich lachte, weil ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste. Als ich die ersten Tränen auf meinen Wangen spürte, war mir schlagartig bewusst, dass ich den Verstand verloren hatte. Wie konnte ich derartige Abhängigkeit und Ängste entwickeln, obwohl ich sie erst so kurz kannte? Das war krank! Ich war es ... Mit einem verwirrten Blick stand ich vom Stuhl auf, ballte meine rechte Faust und schlug brachial auf den Tisch. Das Glas splitterte kreisförmig unter meinem Schlag und ich hörte überdeutlich etwas in meiner Hand knacken. Ah, das tat gut! Der leicht beginnende Schmerz half. Sofort waren meine Gedanken ruhig und klar. Ich atmete einmal tief, tief durch und versuchte, auf der zersprungenen Bedienoberfläche noch etwas einzutippen. Ja, ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte. Aber leider funktionierte die Motorik meiner Finger genauso gut, wie das Bedienfeld an sich.
“Heka? Wie viel Zeit haben wir noch?” <Aktuell noch 7 Minuten. Ausreichend oder weiter verzögern?> “Hm, kommt drauf an. Wie lange brauchst du, um eine weitere Drohne zu starten, ohne, dass dies der Spielleitung auffällt?”
<Sofort. Keine Überwachung derzeit durch Scanner oder Satelliten feststellbar.> Hm, dies war seltsam ... auch, dass ich noch keine neuen Angaben, Mahnungen, oder die Informationen zur Beendigung des Oswelats erhalten hatte. Zögerte mein Vater? Oder suchte er nur schon nach einem neuen Spiel? Egal ... darum würde ich mich später kümmern.
“Gut, dann nimm Dezerias alte Kleidung und zieh für die Hunde eine Spur in Richtung Halvigaw. Verteile den Geruch großflächig im Wald und entsorge diese anschließend in einem der Flussläufe.” Dies würde Hellkus gewiss einige Zeit beschäftigen. Zeit, in welcher ich hoffentlich eine Entscheidung treffen würde, ob Dezeria besser im Reich des alten Grafen Eisold oder lieber bei ihrem Mann Ludwig bleiben sollte.
Während ich darüber grübelte, bildete sich mit einem leisen Zischen eine Kachel an der Decke und öffnete sich. Eine tellergroße Drohne flog sofort hinab, sammelte die verbliebenen Sachen von Dezeria ein und verschwand sofort wieder. “Halte die Drohne danach außerhalb der Parzelle auf Standby, vielleicht brauche ich sie noch.” Oder vielleicht sollte ich sie auch gleich zu Dezeria schicken? Wobei ... ich hatte ihr eine kleine Spezialanfertigung zum Schutz mitgegeben, welche auch innerhalb einer Stadt nicht von den dortigen Sicherheitskonstrukten entdeckt werden konnte. Ja, es wäre besser, die Größere nur bei einem Notfall zu schicken ... O Mann, ich durfte mir nicht schon wieder so viele Sorgen machen ... Dezeria ...
<Das Schiff wird sich gleich in Bewegung setzen. Soll noch eine Verzögerung vorgenommen werden?> “Was ist mit der Drohne?” <Ist unterwegs.> “Dann benötige ich keinen Aufschub mehr. Du kannst das Anwesen ansteuern.” Ein bestätigender Ton erklang, was mich resignierend aufstehen ließ. Meine rechte Hand brannte mittlerweile wie Feuer und auch drei Finger ließen sich nicht mehr bewegen. Lästig. Ich schloss kurz die Augen und konzentrierte mich – stellte mir vor, dass ich eine Faust formte. Als ich meine Lider wieder öffnete, war genau das passiert. Die Finger bewegten sich einwandfrei. Meine Hand war geheilt. Nja, ich war nicht umsonst das Lieblingsspielzeug meines Vaters. Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft er bereits Modifikationen an mir vorgenommen hatte.
<Ankunft Rotterval>, meldete sich Heka und keine Sekunde später begann sich die Bordtüre zu öffnen. “Führe eine chemische Grundreinigung durch. Keine DNA, Fingerabdrücke oder anderweitige fremde Spuren!”, sagte ich noch schnell, während ich mein Tablet schnappte. <Kurze Anmerkung. Ihr solltet Euch etwas anziehen.> Hm ... ich runzelte die Stirn. “Danke”, erwiderte ich knapp, griff nach meinem flauschigen Hausmantel und verließ das Schiff.
*
Ich war etwas irritiert, dass mich niemand im großen Hangar, welcher nur für die Fahrzeuge der Adligen existierte, erwartete. Also wirklich ... niemand. Warum war Ludwig nicht hier? Er hatte mir schließlich diese Frist mit diesem Scheiß Veto auferlegt. Auch von Richard oder Dagmara fehlte jede Spur, wo doch beide mich nun sicherlich etwas “rumschubsen” wollten. Ich stand als Sklave nun deutlich unter ihnen und je nachdem, was mein Vater bezüglich meiner Person verfügt hatte, dürften sie mich jetzt theoretisch auch foltern. Was ein Spaß ...
*
Hm ... auch nach Minuten, die ich nun schon barfuß durch die pompösen und langen Flure des Anwesens schritt, kam mir keiner entgegen. Sehr merkwürdig. Ich warf hin und wieder einen flüchtigen Blick auf mein Digitalarmband oder aufs Tablet, aber dort fand ich auch keine Antworten. Keine Nachrichten. Nichts. Leicht genervt davon, beschleunigte ich mein Tempo zu Ludwigs Gemächern. Ich wusste aufgrund der Haussteuerung, dass er sich dort aufhielt ... ebenso wie Meemai. Ich konnte mir schon vorstellen, welche Demütigung mich nun erwarten sollte. Wirklich Vater? Musste das jetzt noch sein?
Als ich nach einer Weile endlich sein Zimmer erreicht hatte, hämmerte ich ohne viel Feingefühl gegen die Holztüre. Ich wartete. Wartete. O Mann, gehts noch? Ich donnerte erneut dagegen und hörte erst auf, bis diese sich öffnete. Ein abgehetzter Ludwig blickte mich verwundert an und verknotete gerade den Stoffgürtel seines Schlafmantels.
“Hm? Was willst du?”, keuchte er etwas atemlos und sein Blick behielt diesen Ausdruck von Verwirrung. Das war seltsam. “Ist was wegen der Redcart oder meiner Frau?”, fragte er weiter, da ich nicht antwortete, aber ... was sollte das? Warum fragte er dies und warum fand ich in seinen Augen weder Schadenfreude, um meinen verlorenen Status noch sonst etwas in dieser Richtung? Er starrte nur erwartungsvoll und dann nahm sein Gesichtsausdruck langsam etwas Genervtes an, weil ich immer noch nicht reagiert hatte, aber wie auch? Mein neuer Status erlaubte es nun mal nicht, ohne Erlaubnis zu sprechen.
“Meine Güte! Reznick! Jetzt mach endlich den Mund auf! Was ist denn los?! Ist was mit Eleonore? Sag schon, Teufel noch eins!”, schimpfte er und das war der Moment, wo ich ernsthaft sein Wissen über die Spielregeln anzweifelte. Wollte er mich verarschen? Wieso war er jetzt sauer auf mich? Der korrekte Wortlaut für einen Sklaven war immer noch “du hast die Erlaubnis zu sprechen” und nichts anderes. Aber schön. Du wolltest, dass ich dagegen verstieß? Von mir aus. Es war mir gleich! Vor den paar Peitschenhieben, die es mir sicherlich einbringen würde, hatte ich absolut keine Angst.
“Du hast mich doch herbestellt!”, sprach ich also ebenso gereizt und zückte mein Tablet. “Hä ... Was?”, fragte er dümmlich und dann fiel es mir selbst wie Schuppen von den Augen. Es war gerade mal kurz nach Mitternacht. Ich war also gar nicht so lange fortgeblieben, wie ich ursprünglich gedacht hatte ... Stimmt, wie konnte ich das vergessen? Niemand wusste, dass mein Schiff auch innerhalb der Planetenatmosphäre mit einer enormen Geschwindigkeit fliegen konnte. Ebenso nicht, dass ich mit einer Hightech-Laserwaffe diesen Typen aus großer Distanz binnen Sekunden töten konnte. Selbst, dass ich mit Dezeria noch eine knappe Stunde verbracht hatte, fiel da nicht ins Gewicht. Jeder andere hätte deutlich länger gebraucht als ich ...