-‡Johannas Sicht‡-
Der Aufzug öffnete und ich zuckte sofort zusammen. Reznicks stand da vorne und sein Blick durchbohrte mich regelrecht. Missbilligend. Kalt. Es tat richtig weh, ihm ins Gesicht zu sehen.
“Ich kann nicht fassen, dass du sie wirklich mit hierher gebracht hast”, sagte er mit deutlichem Zorn in der Stimme. <Notwendig. Spart Euch also weitere abschätzige Worte.> Heka trippelte an ihm vorbei und deutete mit einem der schwarz-silbernen Spinnenbeine auf das stark leuchtende Tor vor uns. <Drinnen ist es derzeit dunkel. Menschen sind verwirrt. Ich öffne und Ihr werdet dort sämtliche Personen betäuben – außer den verletzten Zerian. Erst wenn Ihr das zufriedenstellend vollbracht habt, werde ich Euch zu Dezerias Zimmer leiten.> “Du hast mir gar keine Anweisungen zu geben! Ich will sofort ihren Standort wissen!”, knurrte er wütend und sah auch mich erneut so strafend an, als ich an Hekas Seite huschte.
<Sie ist verletzt. Spart Euch also weitere Diskussionen. Tut was ich gesagt habe oder Ihr werdet Dezeria nie rechtzeitig in diesem Labyrinth finden.> “Wie bitte?”, fragte Reznick überrascht sowie verwirrt und auch mir bereitete diese Aussage Sorge. “Sie ist verletzt? Ist es so schlimm wie mit Zerian?”, hakte ich sofort nach. <Die Zeit drängt für alle von uns. Eilt euch!> Mehr sagte Heka nicht dazu und prompt öffnete sich die Flügeltür aus Licht. Eine immense Hitze peitschte uns sogleich entgegen. Ohne zu zögern, schoss Reznick vor. Wie kann er sich so schnell bewegen? Er verschwand binnen Sekunden in der Dunkelheit, während mein Visier noch daran arbeitete, den Kontrast von dem grellen Eingang und der nun finsteren Höhle auszugleichen. Erst als sich die ersten Schemen vor meinen Augen bildeten, setzte ich mich in Bewegung. Na ja. Wollte ich zumindest, aber Heka hielt mich mit einem kleinen Greifarm zurück.
<<Warte noch kurz und bleib dann bitte ausschließlich in meiner Nähe.>> “Warten? Ich dachte, es ist eilig?”, fragte ich irritiert, verstand dann aber sofort, warum ich nicht hineingehen sollte. Es knisterte bedrohlich und dann raste ein gleißender Blitz durch den Raum. Ein zweiter folge. Und dann noch einer. Die Menschen schrien verängstigt und voller Panik auf, was mir einen Schauer nach dem anderen bereitete. Ich wusste zwar nicht, was da genau passierte, aber das war auch nicht notwendig. Erinnerungen an den Folterkeller meines Meisters kamen unwillkürlich an die Oberfläche und nahmen mir jedes weitere Denken. Ich versteifte. War mit der Situation überfordert.
Es dauerte einen Moment, bis sämtliche grausigen Rufe verstummten. Plötzlich wurde es auch noch taghell. Was für ein verrückter Gegensatz. Das Meer aus schwarz mit vereinzelten grauen Umrissen wich einer gigantischen und prunkvollen Kircheneinrichtung. Feuerschalen entflammten in den Ecken wie auf Knopfdruck. Ein Farbgemisch aus Rot, Weiß und Gold schmückte den Raum. Wunderschön. Na ja. Jedenfalls bis zu dem Moment, als meine Augen die ersten Leblosen auf dem Boden fanden. Waren sie – tot?
<<Keine Angst. Solch wilder Herzschlag ist nicht notwendig. Reznick hat nur betäubt. Komm. Schnell jetzt! Zerian versorgen!>> Heka tippte kräftig gegen mein Bein. <<Johanna, bitte! Du wolltest helfen! Komm jetzt!>> Ein Ruck ging durch meinen Körper. Stimmt. Ich wollte helfen, daran hatte sich nichts geändert. Aber. Ich war nun einmal nicht aus Stein. Es kostete mich Überwindung, durch die Halle und vor allem über die am Boden verteilten zu schreiten. Je näher wir dem Altar kamen, desto schlimmer wurde es. Ich hatte Mitleid mit den Menschen. Mitleid – welches sich allerdings vollständig in Luft auflöste, als mich nur noch wenige Meter von dem Opferplatz trennten. Ich sah Zerian, dessen Blut kontinuierlich vom Podest floss und diese rothaarige Hexe, die bewusstlos auf seinem Körper lag. Verdammt! Nicht, dass ihre Berührungen ihn noch immer verbrannten!
Ich eilte die letzten Stufen hinauf und griff, ohne zu zögern, nach einem ihrer Arme. Ihre Haut fühlte sich heiß an, aber ein gutes Stück davon entfernt schmerzhaft zu sein. Erleichtert zerrte ich die Schlampe von ihm, dabei natürlich sehr bedacht, ihm nicht weiter weh zutun.
“WAS BEI ALLEN SONNEN GLAUBST DU NIEDRIGER WURM, WAS DU HIER GERADE ANGERICHTET HAST!?”, schrie auf einmal eine hysterische männliche Stimme, die ich definitiv nicht kannte. Verunsichert blickte ich umher. Etwas entfernt sah ich Reznick, wie er vor einer leicht schimmernden Wand stand und sich gleich dahinter noch jemand befand. Eine Gestalt in einem prunkvollen gelben Kapuzenumhang, einer sonderlichen weiß-orangene Maske im Gesicht und einer gezackten goldenen Krone auf dem Haupt. Zweifelsohne der Herr dieser Einrichtung.
“Deaktiviere deine Barriere und dann sehen wir mal, was ich mit dir anstellen werde”, erwiderte Reznick gefährlich klingend und schlug mit der rechten Faust gegen das überraschend massive Licht. “DU! Du bist der Spinner, der sich in mein System gehackt hat? Bist du verrückt?! Das wird noch ein Nachspiel haben!” “Tz, du Freak nennst mich einen Spinner!? Wo ist Dezeria? REDE!” Ich wandte mich ab. Reznick hatte offensichtlich alles unter Kontrolle und Zerian benötigte dringend meine volle Aufmerksamkeit. Gefährlich schwach ging bereits seine Atmung.
“Was soll ich tun?”, fragte ich unsicher, während mein Blick förmlich an den schmalen Dolchen klebte. Ich wollte diese so schnell wie möglich aus ihm heraus ziehen, wusste aber auch, dass dies seinen sicheren Tod bedeutete. Solange die Messer noch steckten, wirkten die Klingen wie eine Art Stöpsel. Schlimmer waren da gerade die zusätzlichen Löcher, aus denen ungehindert Blut quoll. Gott, dass er überhaupt noch lebte – glich einem Wunder.
Heka krabbelte halb auf das Podest – vermutlich, um ihn genauer zu betrachten. <<Öffne den Rucksack. Ich blende dir alles Weitere ein. Mach es genau so, wie angezeigt.>> “Mach ich.” Mit zitternden Händen zog ich den Rucksack von meinem Rücken. Als ich den Reißverschluss öffnete, umrahmte der Helm sofort sämtliche Gegenstände darinnen mit einem leicht grünlichen Farbton. Unter all den Bezeichnungen sagte mir allein Siasal etwas. Dies sollte ich ihm auch, vermischt mit noch einer anderen Substanz, verabreichen. Nervös setzte ich die Injektionsspritze, wie von Heka vorgegeben, seitlich an seinem Hals. Er stöhnte gequält auf, was mir direkt durch Mark und Bein ging.
“Es wird alles gut”, flüsterte ich und gab ihm gleich noch eine Dosis. Diesmal direkt neben einer Einstichstelle am Brustkorb. Er stöhnte erneut. Seine trüben hilflosen grauen Augen fanden die meinen. Es tat weh. Sein Anblick machte mich unglaublich traurig. Niemand sollte so etwas erleiden müssen.
<<Das machst du sehr gut. Und. Es tut mir leid. Ich würde dir das gerne ersparen, aber der Ryron ist nicht für derartige Feinmotorik ausgelegt. Nur mit deiner Hilfe können wir ihn retten. Vertrau mir. Er wird es schaffen.>> Ich lächelte aufgrund ihrer liebevollen Stimme und weil das Mittel tatsächlich jetzt schon Wirkungen zeigte. Die Blutungen stoppten.
“Das wird jetzt noch mal schmerzen, aber ich verspreche dir, danach wird es besser”, sprach ich weiter, als Heka mir einblendete, in welchem Winkel ich nun, welchen Dolch als Erstes entfernen sollte. Er versuchte zu sprechen, aber kein Wort entwich seinem Mund. Lediglich die Lippen bewegten sich langsam.
“Nicht. Bitte schone deine Kräfte. Ich werde ganz vorsichtig sein”, versuchte ich ihn zu beruhigen, auch wenn ich wusste, dass dies unmöglich war. Niemand würde in solch einer Situation ruhig sein können, oder? Überraschenderweise bewegte er keinen weiteren Muskel. Weder zappelte er, noch zeigte er sonst eine Reaktion, als ich die Klingen aus seinem Leib holte. Er hatte nur die Augen geschlossen – verdammt! Starb er jetzt doch noch?
“Zerian? Hey, bleib bitte wach, ja?!” <<Nein. Ist richtig so. Er soll schlafen. Zu viel Stress für den Körper. Herzfrequenz normalisiert sich nun. Wenn du noch die regenerative Salbe auf seine Wunden verteilst, bist du auch schon fertig. Überlebenschancen aktuell bei 56% und erhöhen sich kontinuierlich. Weitere Behandlungen dennoch auf dem Schiff notwendig. Aber. Anderes Problem steigt in der Dringlichkeit.>> Ich runzelte die Stirn. “Welches Problem?” <<Reznick streitet noch immer mit Lichius, anstatt auf mich zu hören und Dezeria zu holen. Er glaubt mir nicht. Status von ihr ist derzeit unbekannt. Systemausfall der Überwachungskameras in sämtlichen anderen Bereichen. Sie war verletzt und irrt jetzt sicherlich in den Gängen umher. Risiko = hoch. Zu viele unbekannte Faktoren.>> Ich stöhnte genervt. Wieso stellte Reznick sich so dermaßen quer, Heka zu vertrauen? Er kannte sie doch bedeutend länger als ich. Versteh einer diesen Mann.
Ich beeilte mich die grünliche Heilsubstanz auf Zerians Verbrennungen, sowie auf die zum Teil bereits geschlossenen Stichwunden, großflächig zu verteilen. Dass ich dabei unweigerlich seinen Schwanz anfassen musste, machte mir nichts aus. Hauptsache das Zeug wirkte. Seine Haut sah wirklich schlimm aus.
“W-was ... W-wer bist du?”, fragte plötzlich jemand an meiner Seite. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich, wie sich die rothaarige Hexe wackelig erhob. “Du ... störst das Ritual?”, fragte sie etwas verwirrt klingend und musterte irritiert die Umgebung.
“Ähm, Heka?”, fragte ich besorgt, denn nicht, dass die Irre sich jetzt eins der Messer am Boden schnappte. Irgendwie traute ich ihr zu, Zerian jetzt doch noch umbringen zu wollen.
“Was? Heka? Nein. Ich bin Allie ... Falame-sere-me. Ich bin das Orakel des Feuers! Wie ... Wie kannst du es wagen, den Ritus der Reinheit zu stören?!” Ihre Augen glühten unheilvoll und wie ich es befürchtet hatte, griff sie nach einem der Dolche. Aber. Das konnte ich auch. Etwas umständlich, durch die Creme und das Blut an meinen Händen, bewaffnete ich mich ebenso. “Bleib ja weg, du Monster!”, schimpfte ich und zeigte mit der Spitze des Metalls in ihre Richtung. Kampflos werde ich ihr Zerian gewiss nicht überlassen!
“Du nimmst mir nicht meine Aufgabe!”, knurrte sie und sprang auf mich zu. Ein Knall ertönte. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor ich verstand, was passiert war. Heka hatte ihr irgendwie die Waffe entwendet. Es ging so verdammt schnell, dass ich nicht mal sah wie. Allein, dass die Frau nun ihren Arm hielt und dieser blutete, zeugte davon. Ihre Verletzung berührte mich jedoch nicht im Geringsten.
<Geschütz scharf! Letzte Warnung!> Heka stapfte an meine Seite. Pure Erleichterung wallte in mir auf. “Warum feuert der Ryron?”, murmelte die Verrückte daraufhin und nahm eine gerade Haltung ein. Was hatte sie nun vor? “Sicherheitsprotokoll wurde verletzt. Schusswechsel für das Sonnenrefugium nicht zugelassen. Warten auf Anweisung.” Ich blickte sie verwirrt an, aber noch bevor ich den Mund öffnen und fragen konnte, peitschte ein zweiter Knall durch die Halle.
Ungläubig starrte ich auf die Frau. Ihr Kopf zersprang förmlich vor meinen Augen. Der Körper kippte leblos nach hinten weg. “Elende Puppe”, hörte ich Reznick knurren, wodurch ich mich zitternd zur Seite drehte. Wann hatte er sich neben mich gestellt und – was zur Hölle ist da gerade passiert?