Bei den Monden! Er atmete wieder! Ich wusste nicht, wie lange ich versucht hatte sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen und Luft in seine Lungen pustete, aber es klappte! Er lebte, was mich unglaublich erleichterte, aber wirklich erklären konnte ich es mir nicht. Warum war er überhaupt gestorben? Was meinte er mit Fehler? War er einer? Ein gefallener Gott? Ich überlegte eine ganze Weile, aber egal was ich mir auch zusammenreimte, ich fand keiner Erklärung.
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Ganze fünf Mal versagte sein Herz in den darauffolgenden Stunden. Ganze fünf Mal, führte ich eine Herzdruckmassage durch und machte eine Mund-zu-Mund-Beatmung, um ihn am Leben zu halten. Sollte es jetzt ewig so weitergehen? Wollte er denn sterben? Hatte ich überhaupt das Recht, ihn nicht gehen zu lassen, so wie ich ihn zuvor deswegen voll gemeckert hatte? Ich wusste es nicht und immer, wenn ich anschließend darüber nach dachte, wollte ich ihn auch gehen lassen ... aber ... ich konnte nicht. Immer, wenn seine Atmung stoppte und ich wartete, quälte mich mein Gewissen. Alles in mir schrie und schließlich rettete ich ihn doch wieder ...
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Weitere drei Male ... und beim Letzten war es sogar verdammt knapp gewesen! Sein Körper hatte sehr lange gebraucht, um auf meinen Wiederbelebungsversuch zu reagieren. Zu lange. Beinahe dachte ich schon, mir versagen die Muskeln und ich würde es nicht schaffen. “Bitte Zerian, wach wieder auf ...”, flüsterte ich müde und strich durch sein kurzes weißes Haar. Mittlerweile war ich nur noch erschöpft, hungrig und durstig. Ich konnte langsam aber sicher nicht mehr ...
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Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits passiert und noch immer blieb Zerian bewusstlos – er erlitt aber zum Glück keine weitere Herzattacke. Was sich aber an ihm veränderte ... seine Kleidung! Es war mir im ersten Moment so verdammt peinlich gewesen ... Seine Hose sowie auch das Hemd hatten sich verflüssigt und waren dann einfach von seiner Haut geflossen. Jetzt lag er hier ... nackt. Ich hatte versucht, ihn nicht allzu sehr zu betrachten – vor allem nicht, als ich entdeckte, dass er durch und durch männlich war. Was mich ehrlich überraschte. Ich hatte ja eher vermutet, dass er gar kein Geschlecht besitzen würde. Aber nein. Sein Körper war wie ein richtiger Mensch, wenn man mal von den schneeweißen Haaren und der ebenso hellen Haut absah. Er war ein junger Mann – vermutlich nicht älter als ich. Vielleicht war er sogar jünger.
Ich deckte ihn letztlich mit meinem Mantel zu, der zwar immer noch etwas nass und schlammig war, aber so nackt wollte ich ihn auch nicht liegen lassen. Die Sonne erwies sich zudem als gute Wärmequelle und trocknete uns langsam. Es war wirklich angenehm ... dennoch sehnte ich mich nach einem richtigen Haus. Was zu Essen, was Frisches zum Anziehen ... Ein weiches Bett ... Gott, ich war so müde ...
Erschöpft betrachtete ich Zerians Gesicht. Ob ich mal für ein paar Minuten die Augen zu machen konnte? Ich hatte große Sorge, dass ich einschlafen und er in dieser Zeit sterben würde. Das Risiko schien mir einfach viel zu hoch, also riss ich mich zusammen.
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Ich weiß nicht, wie lange ich an seiner Seite wachte, aber als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte, konnte ich definitiv nicht mehr. Zerian schlief noch immer ruhig und auch sein Gesicht zeigte keinerlei Schmerzen, was mir eine gewisse Zuversicht gab und auch endlich den Mut, selbst ein bisschen zu schlafen. Ich bettete vorsichtig meinen Kopf auf seine bloße Brust und schloss die Augen. Ich spürte, wie er gleichmäßig Luft holte und sein Herz kräftig schlug. Wenn er einen erneuten Anfall bekommen würde, könnte ich es so wohl am ehesten mitbekommen. Hoffentlich. Ich wollte auch nur ein paar Minuten ausruhen – nur etwas schlafen ...
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Ein fürchterliches Brennen in meiner Kehle weckte mich letztlich. Gott! Und grässliche Kopfschmerzen hatte ich ebenso. Sowie Hunger. Das Licht war immer noch dämmrig, so lange hatte ich also nicht geschlafen, was ein Glück. Moment?! Erschrocken riss ich meine verschlafenen Augen komplett auf, da ich Zerians Herzschlag nicht mehr hörte! Und er atmete auch nicht! Bevor ich allerdings vollkommen in Panik geriet, hielt ich verwirrt inne. Ich lag nicht mehr auf ihm, sondern eingewickelt in meinem Mantel und ... “Zerian”, hauchte ich erleichtert sowie auch etwas verwirrt, als ich ihn ein Stück weit neben mir entdeckte. Er stand nackt da rum und blickte in den Himmel – beobachtete wohl die untergehende Sonne. Verlegen nahm ich schnell meinen Blick von seinem Hintern und rieb mir den restlichen Schlaf aus den Augen.
“Du bist wach”, hörte ich ihn sagen und diesmal klang seine Stimme gar nicht mehr so hallend. Plötzlich hockte er sich vor mir und hielt mir seine Hände hin. “Du musst trinken”, sprach er und in seinen Handflächen, die er wie eine Schale krümmte, bildete sich sofort Wasser. Ich nickte dankbar und trank gierig, ohne mir großartig den Kopf zu zerbrechen, woher das Wasser jetzt stammte. Ich war einfach zu durstig und Gott ... wie gut das tat! “Warum weinst du?”, fragte er besorgt klingend und erst da bemerkte ich, wie mir tatsächlich Tränen aus den Augen liefen. Ich wusste selbst nicht warum. Vielleicht, weil es so herrlich war, etwas zu trinken oder, dass er noch lebte ... Ich war einfach nur glücklich.
Ich trank so viel, bis sich ein unangenehmes Völlegefühl in meinem Bauch breitmachte und dann ... umarmte ich ihn. Fest zog ich ihn an meinen Körper und weinte in seine Halsbeuge hinein. Ich war einfach so unendlich dankbar, dass es ihm gut ging und er noch da war. “Dezeria? Du ... umarmst mich ...”, sprach er irgendwie vollkommen verwirrt und überrascht, wodurch ich allerdings nicht locker ließ. Egal ob das nun unangebracht war oder sich nicht gehörte, da er ein Gott war, aber ich brauchte diesen Moment. Ich hatte mir den ganzen Tag so schreckliche Sorgen gemacht und nun löste sich endlich dieses beklemmende Gefühl.
“Dein Herz hat-hatte mehrfach auf-aufgehört zu schlagen”, schluchzte ich und ließ dann etwas lockerer, um in seine blauen Augen sehen zu können. Sein Gesicht zeigte mir weiterhin Verwirrung, aber dann nickte er nachdenklich. “Ich bin jetzt Mensch. Mein Körper hat sich nun, glaube ich, vollständig angepasst. Es ist ... anstrengend. Ich muss nun auch trinken. Vielleicht ... sollte ich auch nicht menschlich werden, sondern sterben. Ich weiß es nicht ... Ich bin eben fehlerhaft.” Das Letzte sagte er schon wieder so unglaublich niedergeschlagen, dass es selbst mir schmerzte.
“Was meinst du mit fehlerhaft?”, fragte ich neugierig, wodurch er sich mit einem traurigen Blick erhob. Schnell drehte ich meinen Kopf zur Seite und spürte förmlich, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Gott! Hatte dieser Kerl denn überhaupt kein Schamgefühl? Oder Anstand?! Ich wartete einen Moment, ehe ich wieder vorsichtig zu ihm spähte. Puh, er hatte sich umgedreht und starrte erneut zur Sonne. Sein Rücken zu betrachten, war definitiv besser als das andere ...
Leider verfiel er aber nun in sein altbekanntes Schweigen. Toll. “Ich verstehe wirklich nicht, wie meine Mutter bei deinem ständigen Schweigen nicht wahnsinnig geworden ist, wenn ihr euch unterhalten habt”, murrte ich und stand auf. Ich wollte, dass er den Mantel anzog, damit er hier nicht weiter so nackt rumstand. Er drehte den Kopf und runzelte die Stirn, was irgendwie seltsam süß an ihm aussah.
“Ich habe nie mit Elisabeth gesprochen”, sagte er dann, was mich echt verwunderte. “Nicht? Wieso?” “Ich konnte nicht. Ich vermochte es noch nie zuvor zu sprechen. Ich dachte nur immer – hörte ihr zu, wie ich allen Menschen zuhörte. Erst durch dich ... konnte ich sprechen.” Nun war ich vollkommen verwirrt. Ich war die Erste, mit der er je gesprochen hatte? Ernsthaft? Gott! Und ich hab ihn nur die ganze Zeit vollgemeckert! Unweigerlich überkam mich ein schlechtes Gewissen. Sicherlich hatte er nur überlegt, was er sagen sollte ... und ich war so fies gewesen. Bei den Monden! Aber ... eins verstand ich daran dennoch nicht ...
“Wieso durch mich? Ich habe nichts gemacht, oder? Ich mein, wie kann ich ... Wie ... Ich habe doch gar keine ... Magie”, brachte ich verunsichert hervor und dachte unweigerlich an das mit dem Eis. War ich vorher auch schon eine Hexe gewesen, ohne es zu wissen? “Ich glaube, es ist meine Schuld. Ich verliere ... nein, ich habe mich in dir verloren. Ein Teil von mir. Ich weiß nicht genau, wie ich es dir erklären kann. Ich sah dich da doch im Wasser und du wolltest zurück an die Oberfläche ... Wenn dir etwas im See passiert wäre, dann hätte dies Elisabeth unglücklich gemacht. Das wollte ich nicht. Sie blieb mir ja schon fern – jetzt weiß ich, dass sie zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr lebte ...”, sagte er unheimlich traurig klingend und dann blickte er wieder zur Sonne.
“Zerian?”, fragte ich vorsichtig und reichte ihm den Mantel ... Hm, jetzt fiel mir erst auf, wie sauber und trocken dieser war. Moment. Auch meine Kleidung war weder feucht noch sonst irgendwie von Erde verdreckt ... Wie konnte das sein? Wow ... selbst meine Haare waren kein einziger großer Schlammklumpen mehr. Seltsam. Hatte ich mir das mit dem Moor eingebildet? Nur geträumt gehabt?
“Zerian? Hier, zieh das bitte an. Menschen laufen nicht nackt herum”, sagte ich, aber da er nicht reagierte, legte ich den Stoff einfach behutsam über seine Schultern. “Ich weiß, aber du hast gefroren”, erwiderte er plötzlich und zog sich den Mantel dann richtig an. Dadurch, dass er genauso groß war wie ich, passte er ihm sogar recht gut. “Ich habe ihn dir gelassen, damit du in Ruhe schlafen konntest. Zudem habe ich auch die ganze Nacht geübt, um das mit meinem Wasser besser hinzubekommen. So konnte ich dich auch von dem ganzen Schlamm und Wasser befreien, außerdem sollte es nun nicht mehr so unkontrolliert regnen.”
Ich sah ihn mit großen Augen an ... Das war ... wirklich fabelhaft! Ich mein, ja meine Kleidung klebte nicht mehr und war angenehm und ... Moment, was? Die ganze Nacht? Ich blickte zur Sonne ... Gott, ja! Sie ging nicht unter, sondern auf! Wir hatten einen ganzen Tag hier verbracht ... Ludwig hatte sicherlich neue Männer geschickt, wir mussten hier weg! Oder? Wohin wollte ich überhaupt? Ich hatte eigentlich kein wirkliches Ziel und das mit Reznick ... bereitete mir Magenschmerzen. Was, wenn ich ...
“Ich habe viel nachgedacht”, ergriff plötzlich Zerian das Wort und holte mich so aus meinen immer trüber werdenden Gedanken. “Ich verstehe noch nicht alles, aber ich will es versuchen. Lass mich an deiner Seite sein, Dezeria. Zeig mir, wie ich ein Mensch sein kann ganz ohne Fehler.” Ich blickte ihn verwirrt an. Ich sollte einem Gott zeigen, wie man sich als Mensch benimmt oder wie? Das ... Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Außerdem sagte er es wieder ... “Was meinst du immer mit diesem Fehler? Das waren auch deine letzten Worte, bevor dein Herz stehen blieb.” Er schien daraufhin zu überlegen, also wartete ich geduldig, bis er endlich antworten würde.
“Ich war schon immer anders. Ich war nie so wie Feuer, Erde oder der Wind. Ich konnte denken oder ... Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Ich habe versucht, mich den Anderen erkenntlich zu zeigen – mehr in ihrer Routine zu finden, als nur das, was ihre Aufgabe war. Zuletzt versuchte ich es vor knapp 100 Jahren.” Ich überlegte. Vor 100 Jahren? Moment! “Du ... du meinst die große Flut, nicht wahr?” “Ja, ihr nanntet es Flut, aber ich versuchte da nur dem Feuer zu zeigen, dass ich hier war. Da er selbst soweit oben im Himmel weilte, türmte ich Unmengen Wasser auf, sodass er es sehen musste ... Aber, nichts passierte. Er reagierte nicht und schlimmer noch – ich brachte euch Unheil.” Ich schluckte. Diese Katastrophe hatte ich oft in der Stadt gehört ... So viele Menschen waren gestorben, dabei hatte er nur versucht, nicht mehr so einsam zu sein? Das war einfach nur traurig.
“Ich bin defekt, weil ich nicht wie die Anderen sein kann. Dabei wollte ich es doch so sehr! Ich wollte nicht hören, wollte nicht denken, aber es blieb ... Ich blieb so, ohne dass ich daran etwas ändern konnte. Ein Fehler eben. Ich war immer einer – war immer Eis und Wasser. Jetzt bin ich Mensch und Wasser, vielleicht ist das meine neue Aufgabe. Ich weiß es nicht genau, aber ... mit dir ist jetzt alles so neu. Alles so seltsam. Vielleicht musste ich eine Fähigkeit abgeben ... Vielleicht war aber auch dies nur ein weiterer Fehler von mir. Ich weiß es wirklich nicht, Dezeria. Aber ... du warst im See und du wolltest wieder nach oben ... Ich überlegte zu lange und dann, bewegtest du dich nicht mehr. Du warst ertrunken ... Was ich aber erst bemerkte, als ich dich zurück ans Ufer brachte. Ich ... ich konnte dich aber nicht so lassen! Elisabeth hätte mich deswegen verachtet, mich auch noch verlassen ... Ich gab dir also schnell ein Teil von mir. Gab dir ein Teil von meinem Leben ... Deswegen bist du jetzt irgendwie Eis geworden. Ich wollte dir nicht schaden, dich nicht verfluchen. Bitte, Dezeria, darf ich an deiner Seite bleiben? Zeigst du mir, wie ich ein Mensch ganz ohne Fehler sein kann?”
Wow. Ich starrte ihn einfach nur an. Das musste ich erst einmal verarbeiten ... Ich bin damals wirklich gestorben?