╬Reznicks Sicht╬
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Ich fühlte ... Hilflosigkeit ... Leere ... Einsamkeit ...
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Ich kannte diesen Zustand. Es war alles so vertraut ... Ich hasste es ...
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Ich hasste es, wie sonst nichts auf der Welt! Mein Verstand tauchte immer wieder unter und nur mit sehr viel Mühe, schaffte ich es schließlich, der unerträglichen Dunkelheit zu entkommen. Es wurde lichter und ein gleichmäßiges Surren drang an mein Ohr, gefolgt von einem unregelmäßigen, dumpfen Piepsen ... Von einem Pulsmessgerät? Verflucht ... Was war überhaupt passiert?
Ich brauchte eine weitere Ewigkeit, bis sich endlich meine Augen öffneten und ich mich umsehen konnte. Ich sah ... Farben. Verschwommenes Licht aus Weiß und Gelb ... Einen künstlichen Himmel ... Ich war also bei mir? Ich war zu Hause? Gut, das beruhigte mich. Kurz dachte ich schon, ich wäre auf einer dieser Krankenstationen meines Vaters. Das war definitiv der letzte Ort, wo ich sein wollen würde.
Plötzlich bewegte sich etwas neben mir. Eine Person ... War ich also doch nicht auf meinem Schiff? Doch bei meinem Vater? Aber wie zum Teufel war ich hierher gekommen? War ich wirklich dermaßen unvorsichtig, dass er mich so leicht hätte erwischen können? Nein, ausgeschlossen. So einfältig und naiv war ich schon seit Jahren nicht mehr, aber ... Scheiße! Wo war ich?! Ich konnte einfach nichts Genaueres erkennen und schlimmer noch! Ich drohte wieder, in diese Bewusstlosigkeit zufallen, aber das wollte ich nicht! Wenn diese scheiß Sedierung nicht wäre! Ja, ich fühlte es genau ... irgendein Mittel floss durch meine Adern! Das konnte doch nicht sein! Ich war bei ihm? Wieso zu Hölle?! Ich driftete wieder ab ...
*
Ich weiß nicht, wie lange ich erneut in diesem wabernden Dunst schwamm, aber irgendwann kam ich wieder zu mir. Endlich! Ich riss meine Augen auf und sah mich hektisch um, konzentrierte mich, denn noch mal wollte ich gewiss nicht wieder einschlafen!
“ ... geht es? Reznick? Kannst du mich jetzt verstehen?”, hörte ich jemanden sprechen. Eine Frau? Der zähe Schleier dieser lästigen Betäubung lichtete sich immer nur langsam. Dann sah ich in ein kindliches Gesicht ... grau-braune Augen ... Die Frau hatte extrem kurz geschorene Haare ... Moment! Ich erinnerte mich ... Johanna?
“Sieht immer noch nicht besser aus ... Ich versuch es später noch einmal ...”, murmelte sie und wandte sich schnell mit einem besorgten Gesichtsausdruck wieder von mir weg. Gott, wenn mein Schädel nicht so brummen würde ... Was meinte sie überhaupt mit besser ... Halt! Nahm die Sedierung etwa wieder zu? Betäubte sie mich? O diese elen-de ...
*
Dieser Zustand war definitiv schlimmer als der Tod. Ich hasste es, betäubt zu sein! Ich hasste es, keine Kontrolle zu haben! Ich war längst kein kleiner, hilfloser Junge mehr, mit dem man alles machen konnte! Ich hatte Heka verboten, in einem Notfall irgendwelche sedierenden Mittel zu verwenden! Ich hatte lieber Schmerzen, als meinen Körper nicht bewegen zu können. Ja, Schmerzen waren etwas Gutes, nicht aber diese Lähmung. Es war einfach nur ein Gefängnis! Warum ließ Heka das überhaupt zu? Warum durfte Johanna ... Ich stutzte ... und plötzlich lichteten sich meine Gedanken. Nein. Das konnte nicht sein!
In meinem Kopf drehte sich alles und dann riss ich erneut meine Augen auf. Ich suchte und fand auch sofort Johanna, die wohl gerade beschäftigt auf ein Tablet starrte. Gott! So wie sie da neben mir saß und offensichtlich mühelos mit dem Gerät umging. Nein ... das durfte nicht wahr sein! Hatte mein Vater das alles so geplant? Nein ... Er konnte nicht wissen, dass ich sie für ein Spiel auswählen würde, oder? Doch ... wegen Meemai. Nein! Nein! Er konnte es nicht wissen, dass ich Johanna auswählen würde! Oder?
Wo ich so länger darüber nachdachte ... Richard hatte sie mir gleich in der ersten Nacht hier auf mein Zimmer geschickt, damit ich sie vögeln konnte ... Verfluchte Scheiße! Stimmt, auch schon vor dem Veto mussten sie zusammengearbeitet haben ... Scheiße! Scheiße! Scheiße! Mein Vater hatte alles so eingefädelt! Wie konnte ich nur so blind sein? Wie konnte ich übersehen, dass er meinen Untergang in diesem Spiel so präzise bestimmt hatte? Er hatte Johanna als Maulwurf eingeschleust ... Und ... Dezeria ... sie gehörte auch dazu ... Es war alles nur ein Spiel!
Meine Augen erfassten eine Bewegung. Johanna beugte sich zu mir und binnen Sekunden mobilisierte ich krampfhaft sämtliche Muskeln in meinem Arm, um sie zu erwürgen – um ihr das Genick zu brechen! “Niemand spielt mit mir ungestraft!”, schrie ich ... aber ... Fuck! Ich war fixiert worden! Ich konnte sie nicht erreichen! Johanna dagegen kreischte sofort aufgrund meines Rucks in ihre Richtung erschrocken auf und stolperte rückwärts. Dann verschwand sie aus meiner Sicht ... Verflucht! Ich musste loskommen! Musste ...
“Herr Gott! Reznick! Musst du mich so erschrecken?!”, hörte ich sie schimpfen und dann stellte sie sich wieder an meine Seite. “Ich bring dich um!”, knurrte ich dagegen kochend vor Wut und stemmte mich weiterhin besessen gegen diese Riemen an meinen Handgelenken. “Was? Herrje, Reznick! Beruhige dich bitte! So hör doch auf! Deine Herzfrequenz steigt bedrohlich! Und die Kanülen gehen sonst noch raus!” “Mach mich los! Ich reiß dich in STÜCKE!”, brüllte ich, aber egal wie sehr ich es auch versuchte ... es war zwecklos. Scheiße! Ich konnte mir schon bildlich das dreckige Grinsen meines Vaters vorstellen ... Ich sah nur noch ROT! Dann spürte ich schon wieder eine Sedierung einsetzen ... Na super ...
*
Als ich wieder zu mir kam, bemühte ich mich gar nicht erst, einen Muskel zu bewegen. Es wäre sowieso sinnlos ... Mein Verlangen, etwas zu töten, war allerdings ungebrochen. Ich stutzte, als ich wieder soweit klar sehen konnte und Johanna erblickte. Ihr Kopf ruhte dabei auf meinem Brustkorb – sie schlief? Was zum Teufel?! Prüfend bewegte ich meine Arme und ja, ich war immer noch fixiert ... Auch die Schläuche steckten noch in meinem Fleisch. Hm, weiter im Raum konnte ich sonst nichts von Bedeutung erkennen, außer dass die Einrichtung dem meines Schiffes glich. Mein Vater hatte sich offensichtlich einen kranken Spaß gemacht, alles hier so wie bei mir aussehen zulassen, um mich zu ärgern. Mann ... und wie sehr es mich ankotzte, dass es auch noch funktionierte! Es ging mir unglaublich auf den Sack, dass es hier so aussah wie in meinem Zuhause! Du elender Bastard!
Ein Knurren entwich unweigerlich meiner trockenen Kehle und ich musste, nein, wollte etw– “Du bist wach ...”, flüsterte plötzlich Johanna und sah mich mit einem schläfrigen sowie besorgten Blick an. “Mach. Mich. Los!”, sagte ich daraufhin mit unfassbarer Selbstbeherrschung, auch wenn alles in mir am liebsten brüllen und toben wollte. Sie runzelte die Stirn, erhob sich aber dennoch von meinem nackten Oberkörper und ... löste nicht meine Fesseln. Gut. Ich konnte innerlich schon die Sekunden zählen, bis ich wieder die Geduld verlor ...
“Reznick, bitte. Ich sehe doch wie deine Werte auf den Monitoren schon wieder gefährlich ansteigen. Bleib doch einfach mal ruhig, ja?” “RUHIG BLEIBEN?! Wer von uns beiden ist hier auf einem Tisch geschnallt?! Du elende Schlampe, ich bring dich um!” Sie seufzte und dann wurde ihr Blick das erste Mal kalt und berechnend. “Wenn du noch ne Runde schlafen willst, auch gut.” Nach diesen Worten drehte sie sich herum und holte das Tablet hervor. Sie tippte irgendetwas darauf und ich spürte deutlich, wie mein Verstand Stück für Stück untergetaucht wurde ...
“Zur Hölle! NEIN! Wage es nicht, mich erneut zu betäuben!” “Dann hör doch endlich auf dich so zu benehmen!”, schimpfte sie zurück und was ich nun sah, verwirrte mich extrem. Neben Wut in ihren Augen ... fand ich auch Angst – Angst die nicht auf Furcht vor mir beruhte, sondern auf ... Sorge? Ich atmete tief, tief durch und versuchte ehrlich, mich zu beruhigen – versuchte ernsthaft, nicht den Hass in mir sprechen zu lassen: “Mach mich los.” Ja, darauf bestand ich weiterhin und wenn du doch nicht auf der Seite meines Vaters standest, dann gehorche gefälligst endlich! Jetzt! Sofort! Aber ... dein Kopfschütteln machte mir deutlich, wie naiv ich doch war. Wie konnte ich dich nur mit auf mein Schiff nehmen? Ich würde dich definitiv töten! Du konntest mich nicht ewig gefangen halten ... niemand vermochte das!
“Das geht nicht”, begann sie und legte dabei eine Hand auf meinen Oberkörper, “Heka hat mir verboten, das zu tun, solange du Aggressionen nach dem Aufwachen zeigst. Also ... muss ich dir nun mehr von diesem Changonis geben oder willst du wach bleiben?” Ich runzelte irritiert die Stirn. “HEKA!?”, brüllte ich sofort, weil wenn das hier wirklich mein Schiff war ... Nein, das konnte nicht sein ... Heka würde es nie wagen, mich zu betäuben oder gar festzuschnallen! “Heka! Antworte, du elender Klapperkasten!” “Sie wird dir nicht antworten können, glaube ich”, warf Johanna unsicher ein und sah hinauf zur Decke ... Gott! Wenn sie das alles nur spielte, dann tat sie es verdammt gut. “Klar, wieso überrascht mich das jetzt nicht?”, knurrte ich, wodurch sie prompt wieder zu mit blickte. Verwirrung stand deutlich in ihrem Gesicht geschrieben ... Sie war wirklich unglaublich gut. Ich fand einfach keinen Verrat in ihren Augen – einen, den ich aber definitiv sehen müsste! Verdammte Scheiße! Was lief hier nur? Mein Kopf glühte – mein Blut kochte ...
“Reznick! Wenn das so weitergeht, wirst du wieder schlafen müssen! Ich sagte doch, du sollst ruhig bleiben ... bitte.” Ich schnaufte abfällig. “Was soll das werden? Eine Drohung oder willst du mich damit erpressen? Ich schwör dir, dass ich dich grausam umbringen werde, wenn du mich nicht auf der STELLE los machst!”
<<Klatsch>>
Ich sah sie mit geweiteten Augen an. Sie ... hatte mir eine Ohrfeige gegeben? Ernsthaft?! Das überraschte und verwirrte mich so sehr, dass ich erst mal nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. “Ent-entschuldige, hier steht, ich soll da-das machen, wenn du gar nicht mehr vernünftig werden willst und dein Zustand sich nach zwei Tagen nicht bessert.” Bitte was? “Was meinst du mit zwei Tagen und mit das sollst du machen?” Sie hielt mir sogleich zitternd das Tablet direkt vor die Nase und ich sah ein geöffnetes Dokument mit der Überschrift: ‘Wie der Idiot wieder normal wird’ ... Hä? “Soll das ein schlechter Scherz sein?”, knurrte ich, als sie es wieder zu sich drehte und neben mir auf einem Stuhl Platz nahm.
“Nein, aber Heka hatte recht. Ich wollte es ja erst nicht glauben, aber so wie ich es probierte ...”, sie sah mich besorgt an und atmete einmal tief durch. “Na ja, ich hau dich jetzt einfach oder blas dir einen, damit du mir zuhörst.” Ich runzelte ungläubig die Stirn. “Das hat dir Heka sicherlich nicht als Anweisung für mich notiert ... Halt, bin ich aus diesem Grund hier nackt aufgebahrt?” “Ja ...” Bitte was?! Das kriegt der Haufen Elektromüll definitiv zurück!
“Ich lese dir einfach mal vor, was sie mir aufgeschrieben hat, ja?” Ich biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein wütendes Knurren, ehe ich genervt von dem Ganzen mit einem Nicken zustimmte.
“Gut, also ...”, begann Johanna und sah noch einmal kurz zu mir, “ich fange jetzt an: Wie der Idiot wieder normal wird ... Nachdem du eingesehen hast, dass deine menschlichen Bemühungen, ihn normal aufwachen zu lassen, nicht funktionieren, wirst du ihm dies hier vorlesen. Je nachdem welches Verhalten er nun zeigt, wähle eine der nachfolgenden Oberbegriffe: Gedächtnisverlust, Persönlichkeitsverlust, Realitätsverlust, Sprachverlust, Verlust der motorischen Fähig–” “Willst du mich verarschen?!”, knurrte ich sauer, denn dieses Theater konnte doch wohl nicht wahr sein! “Lass den Scheiß und mach mich los! Andernfalls wirst du es bereuen, Johanna! Ich werde dich auf solch brutale Weise foltern, dass selbst mein Vater davon beeindruckt sein wird! Du wirst mich noch anbetteln, dich endlich ...” Ich verstummte, weil sie doch ernsthaft in diesem Moment meinen Schwanz umfasste. Ich knurrte und versuchte sie, mit meinem mörderischen Blick aufzuspießen – was sie allerdings nur zum Lächeln brachte ... Zum Lächeln?!
“Er wird dich bei der Aufzählung mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent wütend unterbrechen”, las sie dann einfach weiter. “Fasse daraufhin sein Geschlecht an. Dies wird ihn zwar ebenfalls verärgern, aber dann hält er für einen Moment die Klappe, damit du weiterlesen kannst.” Bitte was? Verdammt, Heka! “Seine vermutlich anhaltenden Morddrohungen dir gegenüber kannst du getrost ignorieren. Die Fixierung wird er ohnehin nicht aufbekommen und auch dir habe ich es unmöglich gemacht, falls du dich doch von ihm einschüchtern lassen solltest. Diese erzwungene Bewegungsunfähigkeit dient allein seinem und auch deinem Schutz.” “Was?! Meinem Schutz? Dass ich nicht lache!”, knurrte ich, wodurch sie kurz aufblickte und dann unbekümmert weiterlas:
“Natürlich wird der Trottel dies jetzt wieder anders sehen und rummeckern. Ignorier das. Solange er keinen Anfall bekommt, ist alles in Ordnung.” “Gar nichts ist hier in Ordnung! Und könntest du jetzt endlich die Hand da unten wegnehmen?!” “Oh, ja ... entschuldige”, sprach sie verunsichert und ließ mich sogleich los. Pff! Da konnte sie sich nun entschuldigen, wie sie wollte. Das verhinderte keineswegs, dass sie dies noch alles tausendfach zurückbekommen würde!
“Hm, wo war ich? Moment ...”, murmelte sie dann und ließ ihre Augen suchend über das Tablet schweifen. “Ah hier: Wie gerne würde ich nun darauf wetten, dass er Folgendes sagt: ‘Gar nichts ist hier in Ordnung’ und sein überraschtes Gesicht, wenn du ihm diese Zeilen vorträgst.” Ich runzelte verwirrt die Stirn. “Das steht da ganz sicher nicht!”, knurrte ich und wand mich erneut, um loszukommen. Mir reichte es jetzt! Endgültig! “Reznick, lass das! Das steht hier, wirklich! Ich-ich habe mir das nicht ausgedacht.” “Zeig her, Weib! Ich will es selbst sehen!” Sie schmunzelte und hielt es mir vors Gesicht und dann zweifelte ich ernsthaft an meinem Verstand. Schwarz auf weiß stand da, zusätzlich zu dem, was sie mir gerade vorgelesen hatte:
Jetzt wird er von dir wollen, dass du ihm diesen Text hier zeigst. Ha! :P Erwischt!